Sonntag, 7. April 1935
Nr. 83
15. Jahrgang
Einzelpreis 70 Heller (•inKhlie&lich 5 Haller Porto)
IE NTRALORGAN DER DEUTSCHEN SOZIALDEMOKRATISCHEN ARBEITERPARTEI IN DER TSCHECHOSLOWAKISCHEN REPUBLIK J ERSCHEINT MIT AUSNAHME DES MONTAG TÄGLICH FRÜH, Redaktion ONO VERWALTUNG präg XII., pochova«. Telefon«77. HERAUSGEBER* SIEGFRIED TAUB. CHEFREDAKTEUR . WILHELM NIESSNER. VERANTWORTLICHER REDAKTEUR* DR. EMIL STRAUSS, PRAG .
Die Zustände im Grenzgebiet
Die SHF unterhält, wie Henlein , Rosche, Sandner und einige Dutzend andere Gewährsmänner versichern, keine Äe- ziehung zum Dritten Reich. Alle gegenteiligen Tatsachen entspringen der bösartigen Phantasie des Marxismus, der die loyale und auf die tschechoslowakische^ Demokratie eingeschworene
SHF denunziert. So kann man es tagtäglich lesen. Wie es in Wahrheit im Grenzgebiet aussieht, beweist ein Protokoll, das am 27. März 1935 in der Erzgebirgsgemeinde Christophhammer ausgenommen wurde. Dieses Prowkoll spricht Bände. Es lautet;
Es erscheint Franz Baumann , Musiker ans Christophhammer Rr. 45, geboren 1869 25. XI. in Christophhammer, zuständig nach Christoph» Hammer und ersucht unter Vorlage des Mitgliedsausweises der Sudetendeutsche» Heimatfront, Ortsgruppe Preßnih, Bezirk Pretznitz, Kreis VII, Mitgliedsnummer 140.37V(Eintritt am 22. August 1934 um Lleber- stempelung des Lichtbildes in diesem Ausweise mit dem Gemeinderundstempel und erklärt aus Befragen folgendes: „Die Aeberstempelung des Lichtbildes verlange ich deshalb, weil der Mitgliedsausweis der SHF. von den reich s deutsch en Grenzorganen als gleichwertig dem Grenzausweis anerkannt wird. Personen, die stch mit dem Mstgliedsausweis der SHF. legitimieren, können unbeanständet die Grenze nach Deutschland überschreiten. Aus Christoph. Hammer benützt schon eine ganze Reihe von Personen diese Mitglieds- ausweise als Grenzausweise. Die tschechoslowakischen Fiuauzorgane Ken- nen die Ortsiusasseu und beanständen mich bis jetzt nicht."
Gezeichnet ist das Protokoll von dem SHF- Mann-Fkü n z Bauman n, der die lleberstempelung des Lichtbildes verlangte, um die SHF-Legitimation als Grenzausweis zu be
nutzen, von dem politischen Kommissär und Beamten der Bezirksbehörde Dr. B Yf isttl und zwei Zeugen. Daß schon eine Reihe Personen aus Chri
stophhammer die SHF-Legitimation als Reisepaß benützt, und daß die Finanzorgane des tschechoslowakischen Grenzdienstes das nicht beanstanden, ist ein Kapitel für sich. Aufmerksam gemacht, daß einer oder der andere Paffant verdächtig sein könnte, würde so ein Wachorgan vermutlich jeden Verdacht mit dem Hinweis darauf zerstreuen, daß det Betreffende ja von der SHF die Erlaubnis zum Verkehr mit dem Dritten Reich erhalten habe, daß also nichts Gefährliches dran sei. Es ergäbe sich die Situation, die in der bekannten Anekdote aus dem Straßenbahnwagen vorliegt, wo der Schaffner sich weigert, gegen das Herumspucken eines Passagiers einzuschreiten, da derselbe tuberkulös und darum zum freien Ausspucken berechtigt sei. Welche Einschätzung die SHF aber durch die Behörden des Dritten Reiches erfährt, beweist die Tatsache, daß man dort das Mitgliedsbuch als vollwertigen Ersatz eines Grenzausweises, also eines behördlichen Dokuments ansieht. Wie lang wird es dauern, so wird man mit dem Mitgliedsbuch der StzF noch mehr erreichen köonent JedenfaW schätzen die Behörden des Dritten Reiches die Henleinfront richtiger ei« alö die tschechoslowakischen Behörden es tun.
Naii in der SHF Systematische Einreihung von Nazis in die Henleinfront «.Bei Demokraten wenig beliebt"— als Empfehlung für die SHF
Die SHF ist bekanntlich eine„demokratische" Partei— Verzeihung:„demokratisch e"B e- w e g u n g! Sie hat mit den Nazis nichts zu tun. Frühere Nazi-Agitatoren werden in der SHF nicht geduldet. Das kann man in allen Loyalitätsschwüren bis zum Ueberdruß hören. Wir waren oft genug in der Lage zu beweisen, daß gerade das Gegenteil richtig ist, daß die SHF sich auf dem Apparat NSDAP aufbaut, daß alle wichtigen Funktionen in die Hände verläßlicher
Nazis kommen. Einen neuen Beweis dafür bietet ein Brief, der uns durch Zufall in die Hände gelangt ist und schlüssig zeigt, daß die SHF-Funktionäre sich systematisch bemühen, ehemalige Nazis einzustellen und mit Mandaten zu bekleiden. Am 27. Jänner d. I. hat ein SHF-Funktionär in Weipert an die Bezirksleitung der SHF in Schmiedeberg folgendes Schreiben gerichtet:
Lieber Kamerad Bog!
Ich hatte die Sache nicht Lbersehe«, wollte mich vorher erst doch näher informieren, habe aber leider Termin verpaßt, den Sie mir dazumal nannten. Ich habe im ganzen 3, dieichfürwert befinde, siefreigubekommr«,«m selbe eventuell mit aufstellm zu können und das sind natürlich Mitglieder von «ns, die abernicht offen geführt werden und das auch nicht wünschen. Ich glaube keinen Fehler zu tun, wenn ich dies« 3 in Borschlag bringe. ES sind noch mehr, die t ereits in unseren Reihen st ehe«, aber ich denke bestimmt, daß es nur ein Fehler sein könnte und vielleicht Schaden brächte, wenn selbe auf einer Liste z« stehen
kommen.
Name und genaue Anschrift: Jng. Edmund Schmidl , Weipert , Alter Paßweg 1132. (Fabrikant.), Schuster Rudolf
Funktion. Amt bei der Partei: Nazi, Gemeindevertreterin einer Sektion, welche, ist mir nicht bekannt,"bei der Partei kein Amt, höchstens Vertrauensmann.
Kameradschaftlichen Gruß Verwendungsmöglichkeit bei uns: unbegrenzt
Brun« Pleil m. p. Besondere Fähigkeit:, Guter Redner, Draufgänger. Bei Demokraten wenig beliebt.
Für den Bezirk kaum in Frage kommend, weil ersterer Beamter und daher schr angehängt.
Nazi, zuletzt Obmann Für die Gemeindevertre- in der Partei. War in tung gut geeignet,' ist der Gemeinde Mitglied Kaufmann und gut ge- einer Sektion und heute Verwendung eigent- noch in der Sparkasse unbegrenzt, lang.
Nazi, seit 1919 im Gemeinderat tätig gewesen, in verschiedenen Sektionen gearbeitet und guter Kenner.
JmGemeinderat kein großer Redner, versteht aber, seiner Meinung Ausdruck zu geben. Käme gut als Gemeindemitglied in Frage
Für den Bezirk nicht geeignet, da Färbermeister, nicht abkömmlich. Für den Bezirk außer Frage, weil Angestellter. Saust starker Charakter. Bei uns fast von Au- sang an.
N a z i, war nicht im Gemeinderat, sondern nur im Amt für Leibesübungen von der Partei entsendet.
Aus diesem Schreiben geht folgendes, einwandfrei hervor: 1. Die SHF bemüht sich planmäßig, frühere Nazis, die laut dem Parteiengesetz keine öffentlichen Funktionen ausüben dürfen,»freizubekommen", das heißt, im Grunde die Behörden irrezuführen, denn sie können ihre Schützlinge ja nur freibekommen, wenn es ihnen gelingt, den Behörden ein T.für ein ll vorzumachen und einzureden, daß die Betreffenden keine Nazis waren. 2. Die SHF hatAieben den offenen Mitgliederlisten, die nur harmlose Mitglieder enthalten» geheime Listen, denn nur so erklärt sich die Bemerkung, die Angeführten seien„natürlich Mitglieder von uns"(der SHF), die aber nicht offen geführt werden. 3. Es handelt sich keineswegs um vereinzelte Fälle, denn„e s s i n d n o ch m e h r, die be- rests in unseren Reihen stehen". 4. Das ganze demokratische Getue und die Loyalstätsbeteuerungen der SHF sind nur Augenauswischerei, über deren Gelingen sich die Herren unter sich schief lachen. Das beweist die in der Rubrik„Besondere F ä h i g k e i t". eingetragene Bemerkung über Edmund Schmidl: „Draufgänger. Bei Demokraten wenig beliebt". Well Schmidl ein Draufgänger— lies: ein rabiater Hakenkreuzler— ist, weil er bei D emokraten wenig beliebt ist, erscheint er dem Kameraden Pleil besonders„wert", daß er ihn„freibekommt" und, ihm ein Mandat der SHF zuschanzen kann. Die SHS ist also die Fortsetzung der alten Nazipartei. Sie bewirbt sich um deren Mandatare. Aber sie tut das keineswegs, wie Unbelehrbare vielleicht glauben, um diese Nazis zu bekehren und für die„loyale" Idee der SHF zu gewinnen, sondern im Gegenteil, weilsiediese Nazisals fascistische Agitatoren schätzt. Sie sucht Leute zu gewinnen, die„bei Demokraten wenig beliebt" sind, denn sie setzt eben die Arbeit fort, die von den Nazis begonnen wurde. Henlein ist der Treuhänder des Krebs. Wundern kann einen dabei freilich nur, daß dir Veranstalter dieser schamlosen Komödie bei gewissen Demokraten hierzulande trotzdem noch immer so beliebt find!
Wie anno 14? O. F. Zu jenen Anekdoten, die, gleichgültig ob wahr oder erfunden,— eine Situation blitzartig beleuchten, gehört die Wiedergabe einer Aeutzerung, die John Simon beim Verlassen Berlins gemacht haben soll: Man berichtet, daß er vor dem Besteigen des Flugzeugs noch einige Augenblicke mit den Herren der Berliner englischen Botschaft über das Ergebnis seines Besuches bei Adolf Hitler geplaudert und dabei mit den Worten geschlossen habe:„Mich wundert nur, daß er von uns nicht auch Gibraltar verlangt hat!" Tatsächlich scheint Hitler , nach alledem, was bisher über seine Dauerrede durchgesickert ist, wieder einmal das ganze Bündel seiner nicht gerade friedlich und bescheiden zu nennenden Wünsche auf den Verhandlungstisch geworfen zu haben. Ueber die Kollektion seiner Forderungen und über das Echo, das sie in der internationalen politischen Welt gefunden haben, soll hier nicht gesprochen werden, wohl aber über die Frage, oll Hitler berechtigt ist, sich innenpolitisch so stark zu fühlen, um, gestützt auf ein V o l, k s h e e r, die Eventualität eines neuen Krieges ins Auge fas- sen zu können. Im Augenblick hat es tatsächlich den Ast- schein, als ob das Problem einer künftige» Kriegsführung sich lediglich aus bis Fragen einer finanziellen und materiellen Kriegsbereitschaft zu erstrecken habe. Die Gefolgschaftstreue der Massen wird, entgegen etwa den früher von Schleicher, dem„sozialen General", gehegten Befürchtungen als sicherer Faktor vorausgesetzt. Nach der Saarabstimmung scheint eine solche Voraussetzung zu Recht zu bestehen. Ist es schon eine alte hiswrische Erfahrung, daß einem Regime, selbst dann, wenn es unpopulär ist, nicht'zu Beginn, sondern erst im Verlaufe, und zwar im ungünstigen Verlaufe einer kriegerischen Auseinandersetzung innere Widerstände erwachsen, die bis zu einer revolutionären Erhebung sich verstärken können, so scheint im gleichgeschalteten Deutschland , unter den Zwangsfesseln des totalen Staates, jeder Widerstand besonders aussichtslos zu sein. Aber dieser Schein kann trügen. Denn Druck erzeugt Gegendruck. Wenn heute die Arbeiter sich dem Diktat des fascissischen Siegers beugen, so geschieht das nicht zuletzt deshalb, weil sie, durch die ungeheure, kampflose Niederlage gebeugt, die Aussichtslosigkeit ernsthaften Widerstandes unter den jetzt gegebenen Ver- hältnisfen erkennen und weil für einen solchen Widerstand auch die große einigende Parole noch fehlt. Ohne sie ist nicht auf eine seelische Einsatzbereitschaft der Massen zu rechnen. Stimmen, die aus Deutschland gedämpft herüberklingen, sprechen jedoch heute schon davon, daß, so schrecklich die Perspektive sei, mutmaßlich nur ein Krieg die auf lange Fristen zu berechnende Leidenszeft abkürzen könnte. Um Mißdeutungen zu vermeiden, sei hinzugesetzt, daß niemand deswegen einen Krieg ersehnt und etwa den Teufel durch den Beelzebub auszutrei. ben wünscht. Trotzdem sind solche Aeußerun- gen ein wichtiges Symptom. Sie zeigen, daß im Ernstfälle die Arbeiterschaft nicht mit den gleichen Illusionen wie 1914 in einen Krieg ziehen muß. Eine aufgepulverte Hurrastimmung würde, selbst wenn! es gelänge sie für kurze Zeft zu erzeugen, recht schnell verfliegen. Es ist das nicht zu unterschätzende Ergebnis einer politischen Konstellation, die sich jetzt schon deutlich abzuzeichnen beginnt, daß die Arbeiterschaft in Deutschland im Kriegsfälle vor die Exi- stenz zweier Bündnissysteme gestellt wird, in deren einem das fascistische Deutschland und in deren anderem die großen Demokratien und die Sozialistische Sowjetunion maßgeblichen Einfluß besitzt.'