Sonntag, 26. Mai 1935 Nr. 123 15. Iahrgang IlutWm 70 Hiller (inMhliHlicb S Hellar Port«) 1ENTRALORGAN DER DEUTSCHEN SOZIALDEMOKRATISCHEM ARBEITERPARTEI IN DER TSCHECHOSLOWAKISCHEN REPUBLIK ERSCHEINT MIT AUSNAHME DES MONTAG TXGLICH FRÜH. Redaktion und vstWALTUNO PRAG xil. fochova a. Telefon bot. HERAUSGEBER! SIEGFRIED TAUB. CHEFREDAKTEUR : WILHELM NIESSNER. VERANTWORTLICHER REDAKTEUR: DR. EMIL STRAUSS, PRAG . Weitere 5000Arbeitslose erhalten Beschäftigung Bisher 217.000 Personen in der produktiven Arbeitslosenunter­stützung Das Ministerium für soziale Fürsorge hat <nn 24. Mai eine Reihe weiterer Beiträge aus der produktiven Arbeitslosenfürsorge erledigt. Es wurden 148 öffentlichen Bauführern Zuschüsse in der Höhe von mehr als zwei Millionen Kronen bewilligt, mit deren Hilfe 5013 Arbeitslose direkt Beschäftigung finden und Arbeiten für ungefähr 12 Millionen HL durchgeführt werden können. Seit Beginn deS heurigen Jahres hat das Ministerium bereits 1800 Gesuche günstig er­ledigt und 29,333.810 HL aus dem Titel der produktiven Arbeitslosenfürsorge bewilligt. Dir 8ahl der im Rahmen dieser Aktion direkt beschäf­tigten Arbeiter hat damit 160.000 erreicht. Der Gesamtaufwand der Arbeiten beträgt rund 382 Millionen HL. AuS dem 115 Millionen-Fond- erhielten außerdem weitere 587 öffentliche Körperschaften Beiträge und Anleihen in der Gesamthöhe von 66,813.659 HL. Bei diesen gemeinnützigen Ar­beiten» welche einem Gesamtaufwand von 687,306.260 HL erfordern, fanden 57.546 Ar­beitslose Beschäftigung. Aus beiden Aktionen ver­schaffte das Ministerium für soziale Fürsorge birekte Arbeitsgelegenheit für 217.546 Personen; bi» Arbeite« übersteigen bisher weit eine Mil­liarde HL. Im Rahmen der Jugendhklfs- »ktion erledigte das Fürsorgeministerium seit bem 11. Mai dieses Jahres 44 Gesuche von Ge- wrinden, welche Staatsunterstühung in der Höhe b»n 815.000 HL erhalten. Es erhielten bisher 1500 Jugendliche im Alter von 14 bis 20 Jah­ren Beschäftigung. SHF-Funktionär In Aussig verhaftet Das Material über dieLegalität" der Hen- uin-RaziS schwillt riesenhaft an. Wie wir in Erfahrung bringen, fand gestern früh in der Wohnung des bekannten SHF-Funktionärs und ehemaligen Hakenkreuzlers Patzina in Aussig , Türmitzerstraße, eine Hausdurchsuchung durch die Staatspolizei statt. Die Hausdurchsuchung förderte jedenfalls belastendes Material zntage, denn Patzina b^urde sofort verhaftet. Wiederum Mn Beweis, daß die ehemaligen Hakenkreuzler und lrtzigen SHF-Funktionäre ein und dieselben »Kameraden" sind. Patzina ist einer der Agi- iatoren bei der Firma Schäffer und Buddenberg in Aussig und war auf der Liste der Nazi-Gewerk­schaft in den Betriebsausschuß gewählt worden. * Interessant ist noch die Tatsache, daß dieser Henlein-Nazi eine tschechische Gattin hat, die sich ^ährend der Hausdurchsuchnngen recht lebhaft mit den Amtsorganen tschechisch unterhielt. Zu Amtshandlung der Staatspolizei dürfte es Kommen sei«, weil Fra« Patzina sich des öfteren bamit brüstete, daß ihr Gatte ein recht angesehener mmktionär der Henleinbrwegung ist, der auch des nstere» Besuche aus Berlin empfing. So sieht die Loyalität der Henlein -Leute ausl Samstag nachmittag fuhr ein Auto, **it sozialdemokratischem Wahlpropa» kanda-Material beladen, durch den Ort EchSllschitzbei Brünn. Es wurde ^on einer Gruppe von Henlein -Leuten E b e r f a l l e n, die nicht nur die sozial­demokratischen Propaganda- Plakate eerunterrissen, sondern sich auch der in 6em Auto mitgeführten Staats» 'lagge bemächtigten und sie Zerrissest. Die Gendarmerie hat sofort die notwendigen Erhebungen Eingeleitet, um die Henleinbanditen zu verhaften. Schiedsgericht bis 25. August Sonst soll der Völkerbund einsreifen Die Börse und der 19. Mal P ar i s. Die Genfer Berichterstatter mel­den übereinstimmend, daß der Freitag in Genf dramatisch verlaufen ist. Rach der ursprünglichen Ablehnung des Bergleichstertes und nach langen und schwierigen Berhandlungen, die sich dis iy 2 Uhr nach Mitternacht hinzogen, ist Ita­ lien in der Rachtsitzung des Rates dem Arbitrage- und Vergleichsverfahren brigetrete«. Rach den angenommene Resolutionen bleibt der Bölterbundrat Schiedsrichter in dem Konflitt, behält sich jedoch vor, in die Angelegen­heit erst dann einzugreifen, wenn in der fest­gesetzten Frist bis 25. August sich beide Staaten nicht in direttem Einvernehmen entsprechend dem italienisch-abessinischen Bettrag vom Jahre 1928 einigen. In Genf wird allgemein darauf hinge- wiesen, daß der Völkerbundsrat durch die An­nahme des Kompromisses di« Gefahr eines Krie­ges zwischen Italien und Abessinien abgewendet hat, eines Krieges, der nicht nur Afrika , sondern auch Europa betroffen hätte, u. zw. gerade in einem Augenblick, in dem eifrig an der Befriedung Mittel- und Osteuropas gearbeitet wird. Deshalb wird die Ratsentscheidung als ein großer Erfolg des Völkerbundes im Kampfe um die Erhaltung des Friedens ange­sehen. Mit Genugtuung wird festgestellt, daß der Bölkerbundsrat auch weiterhin die Entwicklung der Beilegung des Konfliktes im Auge behalten werde, wobei es den Streitparteien überlassen bleibt, die einzelnen konkreten Fragen deS Kon­fliktes im Sinne der geltenden internationalen Verpflichtungen zu erledigen. London befriedigt don als ungewöhnlich befriedigende Grundlage für die Bereinigung dieses Konfliktes angesehen. Londoner politische Kreise sprechen ihre Genugtuung über die von beiden Seiten zum Ausdruck gebrachte Versöhnlichkeit sowie über die glückliche Art des vermittelnden Einschreitens Edens aus, so daß es jetzt scheine, daß alle Schwierigkeiten und Hindernisse dieser heiklen Frage überwunden seien. * AbdiS Abeba. Offizielle abessinische Kreise erklären, daß dort von angeblichen militärischen Vorbereitungen Großbritanniens an der ägyp­tisch-sudanesischen Grenze nichts bekannt sei und fügen hinzu, daß Abessinien seinerseits keine Truppenkonzentrationen an dieser Grenze vorgenommen habe. Für Mussolini Rom.(A. P.) Die italienischen Soldaten und Arbeiter haben in Erythräa außerordentlich unter dem Klima und seinen Folgen zu leiden. Infolge der Ueberfüllung mußte ein Teil inS Juba -Tal gebracht werden, in dem Malaria herrscht. In Asmara mußte die Wasserration auf zwei Flaschen pro Tag herabgesetzt werden. Für importiertes Mineralwasser werden phantastische Preise verlangt. Der Hafen von Muffaua ist der­art überlastet,' daß ein mit Bauholz beladenes Schiff seine Ladung in den Hafen warf, nachdem es eine Woche vergeblich gewartet hatte, und ab- dampste, um weitere Hafengebühren zu vermei­den. Das Arbeitstempa hat infolge Erschöpfung erheblich nachgelassen. Wiederholt, wurden Sol­daten während der Märsche vom Hitzschlag be- London . Der Beschluß des VölkerbundrateS| im abessinisch-italienischen Konflikt wird in Lon-| troffen. Wem nützt Henleins Wahlerfolg? Die christlichsoziale Presse fährt fort, dem Henlein ein böses Ende zu prophezeien. Sitz be­tont auch immer wieder, daß Henlein die Sozial­demokratie keineswegs entmachtet habe. So schreibt dieDeutsche Presse" Samstag in ihrem Leitartikel: Der Ergebnis der Parlamentswahlen erweist sich trotz des Wahlerfolgs der Sudetendeutschen Partei Henleins als ein solches, daß man völlig irregeht, wenn man glauben machen will, daß die Politik der tschechischen Parteien in nächster Zeit eine grundlegende Aenderung erfahren werde. Tie Aeußerungen maßgebender Faktoren des po­litischen Lebens im Staate und die Erörterungen in der Presse lassen vielmehr erkennen, daß all jene stark getäuscht wurden, die da meinten, daß «in Wahlerfolg Henleins das Ende des überragen­den sozialistischen Einflusses bedeuten werde. ES ist heute bereits klar geworden, daß im Gegenteil der starkeVorstoß derHenleinpartei das bemerkenswerte Ergebnis gezeigt hat, daß die Sozialdemokra­tie, die tschechische wie die deutsche, politisch heute fester im Sattel zu sitzen scheint als zuvor, weil die Regierungskoalition, mag sie diese oder jene Ergänzungen erfahren, auf die Sozial­demokraten nicht verzichten wird können und wollen. Das geht aus den bisherigen Aeußerun- gcn der Regierungsmitglieder, einschließlich der tschechischen Agrarpartei, hervor. So ist es ge­schehen, daß Henlein- Wahlerfolg vorläufig nur der Sozialdemokratte nützt... Die Bedeutung der Sozialdemokratte für die Mehrheit und für die Agrarier ist gestiegen und das nicht in letzter Linie infolge des fast Svprozen- tigen Stimmenverlustes der deutschen Sozialdemo­kraten, bzw. infolge des Wahlerfolges der Hen« leinpartei. Bis auf weiteres müßte sich die Sozial« demokratie also bei Henlein für die Schlappe be­danken, die er ihr zugefügt hat. So gesehen, hat die sudetendeutsche Politik absolut keinen Grund, die polttische Zukunft in rosenrotem Licht zu sehen! Wie im Wirtschaftsleben zeigt es sich auch im po­litischen, daß es gewöhnlich noch lange nicht zum Ziele führt, wenn ein Volk alles auf eine Karte setzt. Das JägerndorferVolk" schreibt in ähn­lichem Sinne: Wollte Henlein tatsächlich seinen Wahlerfolg auch in einen Erfolg für.das Sudetendeutsch- tum umwerten, dann müßt«sei» Regierungseintritt erfolgen. Die Presse meldet jedoch, daß man bei den maß­gebenden tschechischen Parteien gar nicht daran denke, mit Henlein auch nur Verhandlungen auf­zunehmen. Ein Regierungseintritt Henleins ohne klare nattonalpolitische Zusicherungen wäre aber genau so der Anfang zur Erfolglosigkeit und zum Abstieg, wie ihn bisher die Regierungsparteien er­lebten. Bleibt jedoch die SPH in der Opposition, so muß sie ebenso die volle Verantwortung für das weitere Schicksal des SudetendeuttchtumS tragen. Eine gemäßigte Opposition wird ihr die radikali­sierten Wählermassen entreißen, eine radikale Opposition, die ihr« Wähler bei der Stange hält, kann sie aber zu einer Katastrophe treiben, deren Auswirkungen gar nicht aus» zudenken find. Die kunterbunte Zusammenstellung deS parlamentarischen Klubs wird überdies vor allem bei den wirttchaftlichen Entscheidungen di« Programmlos igkeit aufzeigen, wel­che die Gefahr deS Zerfalles an sich schon in ge­fährliche Nähe rückt. Stantk gegen Henlein Kammerpräsident S tank! wandte sich Frei­tag in einer Rede anläßlich der Prager Feier für Palacky entschiedet gegen Henlein : Wir treten ihm entgegen, Aüg in Aug, ohne Furcht und ohne Kompromiß. Wir wer­den seinetwegen nicht von unseren bewährten und gerechten Grundsätzen aAveichen. Wir lehnen die deutschen Führermethoden ab. Wir verlassen unseren demokratischen und nationalen Stand­punkt nicht, wir werden uns nicht anpassen, im Gegenteil, wir erwarten, daß die andere Seite sich uns anpassen wird., Unbefriedigte Kapitalisten Die Börse ist in der privatkapitalistischen Wirtschaft das Instrument, das auf alle bedeuten­den Vorgänge in der Wirtschaft und auf Er­schütterungen, die von außen her kommen, sofort und sehr feinfühlig reagiert. Dafür ist auch ihr Verhalten in Wahlzeiten ein Beweis. Wenn in einem Lande allgemeine Wahlen bevbrstehen, über deren Ausgang vorher Bestimmtes nicht gesagt werden kann, so wird das Geschäft an dem Teil der Börse, wo die Industrie- und Staatspapiere gehandelt werden, zurückhaltender sein. Die Käufer bzw. Verkäufer warten ab, weil sie mei­nen» nach der durch die Wahlen herbeigeführten Entscheidung eine realere Basis für die Ausfüh­rung ihrer spekulativen und geschäftlichen Absich­ten zu haben. Dieser Porgang war wieder bei den eben stattgefundenen Parlamentswahlen zu beob­achten; um so mehr, als drängende Wirtschafts­und sozialpolitische Entscheidungen bis nach den Wahlen aufgeschoben worden waren. Wie reagierte nun die Börse auf das Er­gebnis vom 19. Mai? Darauf ist zu antworten, daß sie tagelang mit dem Resultat nichts Rechtes anzufangen wußte. Die Zurückhaltung dauerte an, so daß die Kurse fast durchwegs aller gehan­delten Industriepapiere zunächst um einige Kronen zurückgingen. Di« spekulierenden und immerfort nach Gewinnen jagenden Kapitalisten hätten ein« Niederlag» der Sozialdemokratie und einen Sieg der, von dem Zivno-Oberbankdirektor Dr. Preiß dirigierten Nationalen Vereinigung gern gesehen. Denn der von den Sozialdemokraten in der Koali« tion für planmäßige Eingriffe des Staates in die privatkapitalistische Wirtschaft geltend gemachte Einfluß ist ihnen schon längst verhaßt. Es wäre vorbei mit ihm gewesen, wenn die Sozialdemokra­ten als Geschlagene aus dem Wahlkampf hervor­gegangen wären. Die Aussichten auf weniger ge­hemmtes Herauswirtschasten von Profiten, auf die Abwälzung der Krisenlasten auf die werktäti­gen Krisenopfer, und auf die Abschnürung deS Ausbaues der öffentlichen Fürsorge und der So­zialgesetzgebung wären dann entschieden günstiger geworden, als sie heute sind. Sie hätten die Spe­kulation an der Börse sofort angereizt, ohne daß damit allerdings für die wirkliche Besserung der wirtschaftlichen Lage etwas geschehen wäre. Aber der 19. Mai hat diese kapi­ talistischen Hoffnungen nicht erfüllt. Die Herren von den Banken und aus dem Jndustriellenverband haben falsch speku- liert, als sie sich mit der Nationalen Vereinigung in das Rennen begaben. Die tschechoslowattsche Sozialdemokratie steht ungeschwächt und uner­schüttert da, und der Verlust der Deutschen So» zialdemokratischen Arbeiterpartei, so schmerzlich er auch für die gesamte Arbeiterschaft ist, genügt allein nicht, um die großkapitalistische Wittschafts- politik und die sozialreakttonären Pläne hem­mungslos durchzusetzen. Sie finden, daß da auch noch nach dem 19. Mai ernste Hindernisse zu über­winden sein werden. Gewiß: Henleins Sieg ist ein S ilb e r str e i f für s i e. Doch auch nicht ganz ohne Wölkchen. Denn die Sudetendeutsche Patter hat ihren Wahlerfolg zum Teil infolge der An­wendung einer sozialen Demagogie gewonnen, die ihr Beispiel nur im Dtttten Reich hat. Sie ist mtt einem Male zu stark geworden. Die kapitalistischen Kreise sind sich nicht sicher» ob unter den 44 Abgeordneten Henleins einige sein werden, die sich nicht ohne weiteres für die Ver­wirklichung aller großkapüalisttschen Pläne her­geben werden. Bauern^ Mittelständler, Arbeiter mit einem Wort: die Kapitalisten sehen noch nicht völlig klar» ob alle 44 Henleinmandate ihre willigen Trabanten sein werden» oder ob unter ihnen erst eine Reinigung vor sich gehen muß. AuS dieser innerpolitischen Ungewißheit erklärt sich in erster. Linie das Zögern» die Zurückhal­tung, die einige Tage lang nach dem 19. Mai an der Börse zu beobachten war. Die Arbeiterschaft unseres Staates darf sich aber nicht darüber im unklaren sein» daß, obwohl das Ergebnis des 19. Mai keineswegs für«inen verschärften kapitalistischen Kurs auf Wirtschafts­und sozialpolitischem Gebiet« ausgelegt werden