Mittwoch, 5. Juni 193515. JahrgangEhmlnrels 70 Hen«v(•IntchttaWIch 5 Heller Porto)1ENTRALORGANDER DEUTSCHEN SOZIALDEMOKRATISCHEN ARBEITERPARTEIIN DER TSCHECHOSLOWAKISCHEN REPUBLIKERSCHEINT NUT AUSNAHME DES MONTAG TÄGLICH FRÜH, Redaktion und Verwaltung frag»ufochova«2. Telefon sww.HERAUSGEBER! SIEGFRIED TAUB. CHEFREDAKTEUR! WILHOM NIESSNER. VERANTWORTLICHER REDAKTEUR, DR. EMIL STRAUSS, FRAG.Auch Bouisson gestürztAuflösung der Kammer nicht unwahrscheinlichParis.(E. B.) Die Situativ« des« e u e n Kabinetts, die zunächst sehrgünstig aussah, hat sich im Laufe der Kammerdebatte bedeutend verschlechtert.Die Linke trat geschloffen gegen die Regierung auf, da bekannt gewordenwar, daß sie die deflationistischen Absichten Flandins wieder ausgenommen habe und beispielsweise die Kürzung der Renten der Kriegs-invaliden plane. Der radikale Klub war wieder gespalten und folgte derParole Herriots nur zur Hälfte. Leon Dlum forderte im Namen derSozialisten eine genaue Erklärung, was die Regierung mtt den Vollmachtenbeginnen wolle. Auch die Neosozialiften wandten sich gegen die Regierung.Die von Bouiffon geforderte Unterbrechung der Sitzung und Zuweisung derAnträge an den Finanzausschuß wurde«st 390 gegen 192 Stimmen angenommen. Im Finanzausschuß siegte die Regierung mit 19 gegen 18- Stimmen. Inder Kammersitzung am Abend erhiett das Kabinett aber nur 262 Stimmen,während 264 für die Verweigerung der Vollmachten eintraten.Die Ursachen der Niederlage Douiffons, die selbst der Kammer sehr überraschend kam, wird zum großen Teil dem Umstand zugeschrieben, daß dererste Vizepräsident der Kammer, einNeuling, es nicht verstand, das aufgeregte Haus zu beherrschen. Bouiffon selbst schadete sich sehr durch seine scharfen Worte, die er an die Adreffe des Parlaments richtete. So erreichte dieNervosität gerade im kritische« Moment ihren Höhepunkt. Jedenfalls wardas Haus durch das Ergebnis seiner Abstimmung selbst sehr überrascht.Vor der entscheidenden Abstimmung betratBouisson neuerlich die Rednertribüne und erklärte, er habe nur auf wiederholtes Drängenaus allen politischen Kreisen die Kabinettsbildungin der Ueberzeugung übernommen, daß jetzt indiesem wirklich ernsten Augenblick dieKammer der Regierung die Vollmacht zur Rettung des Francs und zur Gesundung der Situation bewilligen werde» Er versicherte auch, daßder Ministerrat weder die Invalidenrenten nochdie Pensionen der ehemaligen Ftonllämpfer herabsetzen wolle. Ebenso sollen weder neue Steuerneingeführt noch alte erhöht werden.Bouisson drohte dann mit dem A u f l ö-lungsdckret, fall- die Kammer die In»terpallationen fortfetzen wolle» und stellte dann dirBrr trauenSfrage.Anter starker Erregung schritt die Kammersodann an die Abstimmung. Rach der Bekanntgabe des Ergebnisses traten die Anwesenden Kabinettsmitglieder zu einer kurzen Beratung zusammen und fuhren dann in daS Palais Elyste,um dem Präsidenten der Republik das Rücktritts»gesuch zu überreichen. Es ist bisher nicht bekannt, ob dieses Gesuch angenommen wurde. Jedenfalls wird viel bemerkt, das? entgegen der sonstigen Gepflogenheitkeine entsprechende Mitteilung auSgegcven wor.den ist, und auch Gerüchte über die Möglichkeitder Auflösung der Kammer werden laut.Der Präsident der Republik hat noch amAbend die Beratungen vor allem mit dem Se-natSpräsidenten Jeanneneh und dann mitdem ersten Vizepräsidenten der Kammer DeChammarde ausgenommen. Man nimmtan, daß der Präsident der Republik noch in derRächt seine Entscheidung treffen will.Der sozialistische Klub faßte den Beschluß,den anderen LinkSklubS vorzuschlagen» eine provisorische Regierung zu bilden, dieden Frank verteidigen, die Spekulation bekämpfenund insbesondere die Auflösung der Kammer undneue Wahlen vorbrreitrn soll. Diese Lösung werden die Sozialisten auf einer gemeinsamenSitzung, dir um 23 Uhr stattfinden soll, Vorschläge«.DaS erst« Echo der Pariser Oeffrntlichkritüber den Sturz der Regierung ist eine scharfeKritik der parlamentarischenSitten. ES fehlt nicht an Stimmen, die dieForderung aufstellen, daß der Präsident der Republik Bouiffon neuerlich mit der Bildung deS Kabinetts beauftragen möge, der nach einer Fühlungnahme mit dem Senate die Auflösung derKammer und die Ausschreibung von Neuwahlenvernehmen würde.In der Oeffentlichkeit werden namentlichBefürchtungen ausgesprochen, wie sich am Mittwoch die Pariser und die ausländischen Börsengegenüber den Franc und die Francrenten verhalten werden.Finanziell Panik in DanzigNächste WocheParlamentseröffnunsAm Mittwoch früh tritt das ParlamentS-präsidium zusammen, um die erste Sitzung desneuen Parlaments vorzubereiten, mit der manbereits für die Woche nach Pfingsten rechnet.Offiziell muß allerdings erst der Präsident derRepublik die beiden Kammern rinierufen.Den Borfitz in dieser ersten Sitzung führtbekanntlich der Ministerpräsident, der dir Angelobung der Parlamentarier rntgegrnnimmt unddann die Wahl deS provisorischen Präsidium-leitet. Erst daun übernimmt der ne» gewählteVorsitzende di« Leitung der Sitzung. Auch dreiAusschüsse(Budget-, Initiativ- und Jmmuni-tätsauSschuß) find noch in dieser ersten Sitzungzu wählen.In der Sitzordnung deS Abgeordnetenhausessollen, wie die„Prager Presse" zu berichtenweiß, einige Aenderungen eintreten. Auf der Rechten von der Präsidialtribüne sollen hinter den22 Abgeordneten der tschechoslowakischen Volkspartei und den 22 Abgeordneten des slowakischenautonomiftischen Blockes die 17 Vertreter derRationalen Vereinigung placiert werden, in derzweiten Bankreihe hinter den 45 Republikanerndie 6 Fascisten, in der dritten Bankreihe hinterden 28 tschechoslowakischen Nationalsozialistendie 17 Abgeordneten der Gewerbepartei, in dervierten Bankreihe hinter den 38 tschechoslowaki-schen die 11 deutschen Sozialdemokraten und die5 Vertreter deS Bundes der Landwirte, in dersechsten Reihe, der zweiten von links, die 44 Mandatare der SitdeteNdeuffchen Partei und die 6deutschen Christlichfozialen und in der linkenAußenseite die 30 Kommunisten und hinter ihnendie 9 Magyaren.Presse-BerichtigungdeS Artikels„Henlein winselt um Gnade", der knder Nummer 104 des.Sozialdemokrat" erschienen ist:ES ist unwahr, daß gegen mich beim KreiS-gericht in Eger eine Strafsache wegen Verbrechensnach dem Schutzgeseh läuft. Es ist unwahr, daßich in dieser Strafsache um Abolition(Niederschlagung des Verfahrens) angesucht habe. Es ist unwahr, daß gegen mich beim Landesstrafgericht inPrag ein« Strafsache wegen Verbrechens nach demSchutzgesetz läuft. Cs ist unwahr, daß ich auch indieser Straffache um Abolition angesucht habe.Konrad Henlein.Nach dem Preßgesetz muß jede Berichtigung gebracht werden, die den f o rm e ll e nBestimmungen enffpricht, ohne Rücksichtdarauf, ob ihrJnhalt derWahrheitentspricht. lieber die Gnadengesuche derSHF-Führer ist das letzte Wort noch nicht gespro-chen worden und Berichtigungen können Tatsachennicht aus der Welt schaffen.Ein Gegenstückzu Henleins TelegrammenSo sieht die Loyalität seiner Leute aus.Je näher die Grenze, um so mehr lassen die„loyalen" Anhänger der Sudetendeutschen Parteiihren wahren Gefühlen freien Lauf. Was damanchmal zusammengeredet wird, ist einfach toll.Wie die„Zukunft" berichtet, kursieren in derGemeinde Katharina, Bezirk Tachau, folgende Aussprüche:„Adolf steht schon bereit! Wenn eS nichtin Frieden geht, kommt der Krieg. Die Mar-ristenköpfe werden rollen. Die Tschechen werdenrin Wettrennen nach Easlau veranstalten. Daswird eine Hetz werden, wenn sie rennen. Henlein ist schon nach Genf gefahren, um den Anschluß zu erwirken. Wenn er kommt, ist dieSache schon erledigt. Die Grenzsteine tragenwir, biS Pilsen."Angesichts solcher Aeußerungen kann man wohlverstehen, warum Herr Henlein keinen Wert darauf gelegt hat, sein an den Staatspräsidenten gerichtetes Huldigungstelegramm in der„Rundschau" abdrucken zu lassen.»Das Naziregime In BedrängnisDie Abwertung des Danziger GuldenS istnicht so glatt verlaufen, wie sich daS Regime dieMaßnahme augenscheinlich vorgestellt hat. Eszeigt sich eben, daß die Vortäuschung einer planmäßigen und gewollten Devalvation dir Tatsachenicht aus der Welt schaffen konnte, daß es sich umeine aus ärgster F i n a n z n o t des Staateserwachsene Maßnahme handelte. In Danzig, wodir Machtmittel des Staates und seine wirtschaftlichen Reserven beträchtlich kleiner find als inDeutschland, läßt sich die Finanzpolitik Schachtsnicht, ungestraft kopieren.Zurzeit sind alle Banke» Danzigsgesperrt. Der Run aus die Schalter war sogewaltig» daß Polizei die drängenden Sparer imZaume halten mußte. Dir Preis«sind um50 biS 70 P r o z e n t g e st i r« e n, dieEinkommen bleiben gleich, so daßselbst die„Frankfurter Zeitung" zugeben muß»i daß die Arbeiter in Danzig auf den Lebmsstan-I dard der Arbeitslosen gesunken sind. Der Senathat Bankfeiertage eingesührt und verboten, mehr als 300 Gulden auszuzahlcn. ES sindnicht genug polnische Zloty vorhanden, um denWünschen nach Umwechffung der Roten zu genügen.Die finanzielle Krise wirkt sich auch politisch aus. Dir allgemeine Stimmung wendet sichheftig gegen das Naziregime. Es erweist sich nun, auf wie schwacher Grundlage dieAutorität diktatorischer Regierungen steht. Einerwirtschaftlichen Kraftprobe halten sie viel schwererstand alS demokratische Regierungen. Während dieDevalvafion in der Tschechoslowakei und in Belgien ohne Erschütterung der Wirtschaft und' desStaates verlief, zeitigt die gleiche Maßnahme inDanzig so schwere Folgen.Litauischer Regierungskommissärfür MemelMemel. Durch Beschluß des Direktoriumsist der großlitauische Stadtverordnete und ehemalige Gouvernementsrat Viktor GailiuS anStelle von Simonaitis zum kommissarischen Oberbürgermeister der Stadt Memel mit den Befugnissen des ersten Bürgermeisters bis zur Neuwahlund Bestätigung des ersten Bürgermeisters ernannt worden.Wohin des Weges?...Der gegenwärtige Vorsitzende der Deutschenchristlichfozialen Partei, Theologieprofessor undSenator Dr. Hilgenreiner scheint entschlossen zu sein, aus dem Wahlereignis nichts zu lernen. Als ob nichts, rein gar nichts geschehen wäre,nützt er den ihm als Parteiobmann zustehcndenEinfluß dahin aus, seine Partei auf der Linie deSnationalistischen Ueberradikalismus zu erhalten.Bis zum 19. Mai schien Herrn Hilgenreiners Konzeption, die das Katholische, das Christliche kaummehr betonte, im Nationalen dagegen mächtig diePauke schlug, immerhin einen politischen Sinn zuhaben, das heißt, diese Haltung war von der Erwartung bestimmt, daß die SHF Henleins dennoch der Auflösung verfallen werde, worauf— solautete die Rechnung— den obdachlos gewordene»deutschen Nationalisten die Deutsche christlichsozialePartei als hochwillkommener Ersatz erscheinenwerde. Es hat sich herausgestellt, daß diese Rechnung ein fürchterliches Loch hatte. Hilgenreiner hatder dickst aufgetragene Nazismus nichts genützt,im Gegenteil, seine Partei hat das Kokettierenihres Obmannes mit dem getarnten und nichtge-tarnten Hitlerismus nicht vor einer noch weitschwereren Niederlage bewahrt, als sie die Deutschesozialdemokratische Arbeüerpartei, der als Regierungspartei von einer verlogenen Demagogie alleUebel der Welt angekreidet wurden, erlitten hat.Ungeachtet dessen will HilgeUreiner seinenKurs der innigen Anlehnung an den Geist, derSudetendeutschen Partei fortsetzen. Er hat es, wieschon berichtet— sicherlich zum Verdruß des national gemäßigteren MiigelA seiner Partei— durchgesetzt, daß die Deutsche chrkstlichsoziale Partei e»abgelehnt hat, in die Regierungsmehrheit einzutreten: Der Platz an der Seite der Henleinfasci»sten scheint ihm der Zielsetzung seiner Partei gemäß entsprechender zu sein, als an der Seite derdeutschen akttvistischen Parteien, Als erste poli-tische Tat nach diesen Wahlen hält er es fürnotwendiger, die Hitlersche tschechoslowakische Dependance zu stärken, als den deutschen AktiviSmus,obwohl ansonsten die Christlichsozialen sich gern«darauf berufen, unter den Ersten gewesen zu sein,die den Kurs des Aktwismus gesteuert haben. Dienotwendige Herzstärkung zu diesem Entschluß hatsich Hilgenreiner in einer Audienz bei Herrn Henlein geholt.Welcher politische Gedanke den Herrn Theologieprofessor veranlaßt, die Sache deS deutschenAktivismus im Stiche zu lassen und in die ArmeHenleins zu flüchten, vermag man vom Standpunkte deS Interesses seiner Partei nicht so leichteinzüsehen. Es sei denn, daß er nach wie vor hofft,der Sudetendeutschen Partei werde kein langesLeben beschieden sein und schließlich werde sich derübcrliziticrte Nationalismus der Christlichsozialendurch Antritt der Erbschaft nach Henlein doch be-zahlt machen. Biel wahrscheinlicher als Beweggrund scheint allerdings der Umstand zu sein, daßHilgenreiner vor dem 19. Mai sich mit dem Hen-leinismus so tief eingelassen, so viel Schwüre geschworen hat, ohne vorherige Zugeständnisse nationaler Konzessionen in keine Regierung einzutreten,daß er jetzt aus dem eigenen Gestrüpp der nationalen Demagogie nicht auf den Boden einer realenPolitik zurückfinden kann. Rach außen wird demEntschluß der Christlichsozialen natürlich eine andere Mottvierung als die eigene heillose Verwirrung gegeben. Die Vertretung der Deutschen in derRegierung sei, so sagt die Hilgenreiner-Partei.nicht Sache einezlner Parteien, sondern schlechthin Sache des gesamten Sudetendeutschtums. DaSgetraut sich die christlichsoziale Partei mit ihrerVergangenheit, mit einer s olchen Vergangenheitzu sagen!Wie war es denn im Jahre 1926, als HerrMayr-Harting als Vertreter der Deuffchen christlichsozialen Partei in die Regierung eintrat? Hatteda Herr Hilgenreiner auch Gewissensbisse, ob etwadie anderen deuffchen Parteien an diesem SchritteAnstoß nehmen werden und begab er sich auchschleunigst zu den deutschen Oppositionsparteien,um die Genehmigung dazu einzuholen? Nicht imentferntesten. Es war kein schiefes Bild, als mandie Art, wie die Christlichsozialen damals mitwahrhaft affenartiger Behendigkeit in die Regierungslaube schlüpften, mit der Eile und der Heimlichkeit verglich, die ein gewisses lichtscheues Ge-werbe bei seiner Betättgung anzuwenden bemüßigtist. Die deutschen Christlichsozialen haben im Jahre1926 keine andere Sorge gehabt, als sorasch wie möglich in die Regierung zu kommen, es