Nr. 14« Sonntag, 23. Juni 1935 Seite 7 Niemands Herr und Niemands Knecht Ein bedeutsames Werk über die Geschichte der künischen Freibauern im Böhmerwald  Der große Heimatforscher des Böhmerwaldes Josef Blau   hat(im Verlage der Ersten West­böhm. Druckindustrie-AG, Pilsen  ) ein über 600 Seiten umfassendes großes WertGeschichte der Maischen Freibauern im Böhmerwalde" erscheinen lassen, das sich würdig den früheren Geschichts­büchern des Verfassers anreiht und das zu den bedeutendsten Leistungen sudeten­deutscher Geschichtsschreibung und Heimatforschung in den letzten Jahren . vielleicht Jahrzehnten zählt. Dies kann hier um so freudiger festgestellt werden, als Blau ein Heimatforscher ist, der niemals daran vergißt, daß in erster Linie die wirtschaftlich-sozialen Verhält­nisse das Leben des Menschen gestalten und der auch in dem vorliegenden Werke das soziale Leben der Vergangenheit, die mühevolle Arbeit der Böh- Merwaldbauern, als die Grundlage ihrer Ge­schichte schildert. Wissenschaftlich ist Blaus Werk deshalb hochbedeutsam, weil wir es, wie Hans Watzlik   im Vorwort richtig bemerkt, hier mit der ersten großen Besiedlungsge« s ch i ch t e zu tun haben, die einersudeten­deutschen Landschaft gewidmet ist. An der Persönlichkeit Josef BlauS erkennt man, daß man kein National! st zu sein braucht, um seine Heimat zu lieben. Gerade der von nationaler Verträglichkeit erfüllte Reuerner Historiker ist der bedeutendste Heimat­forscher der Sudetendeutschen   geworden. Von Neuern bis Winterberg   war vor tausend Jahren ein dichter Grenzwald, der dem Landes­fürsten gehörte undH w o z d" genannt wurde. (Der Name kommt aus dem Alttschechischen und heißtdichter Wald".) Dieser Wald ist von .Bayern   aus grüner Wurzel besiedelt worden. Der älteste uns bekannte Namen aus dieser Gegend ist der des Einsiedlers Gunther, der kurz nach dem Jahre 1000 hiehcrkam. Ein Jahrhundert später gelangte der Landstrich in den Besitz der Grafen von Bogen   an einen dieser Grafen namens Albrecht erinnert der älteste deut­sche Ortsname Böhmens  , nämlich der des Ortes Albrechtsried. Der Hauptort des Bogen'schen Be­sitzes war Schüttenhofen  , damals noch ein Hof mit einer Dorfsiedlung. Seine Bedeutung beruhte darin, daß es der Mittelpunkt der Goldwäscherei war, welche viele Leute anzog und so eine rasche Besiedlung der Gegend herbeisührte. Aehnlich wirkten die Eisenlager im Hochtal von Eisenstein, die auch zur Errichtung der Hammerwerke im Angeltal führten. Der Aufschwung und die Be­siedlung vollzog sich in jener Zeit so rasch, daß Blau den Böhmerwald von damals dasböhmi­sche Kalifornien  " nennt.' Im 13. Jahrhundert starben die bisherigen Besitzer des Gebietes, die Grafen von Bogen  , aus und der größte Teil des Nachlasses fiel an die Familie derer von I a n o w i tz. Ties» waren Burgherren von Riesenberg(beim heutigen Neu» gedein) und unter den Besitzern der Burg blieb das Gebiet des Waldhwozd von 1273 bis 1597, nach den Janowihern saßen auf der Burg dir Schwihovskys, dann die GutensteinS, dann die Lobkowitz  . Während diese Geschlechter noch die Rechte der Bauern, welche nur dem König unter­tan waren(deshalb königliche oder künische Bauern) achteten, wurde das anders, als die Gra ­fen von Kolowrat Nowohradsky 1597 durch Erb­schaft in den Besitz des Waldes Hwozd gelangt waren. Herr Zdenko Kolowrat erklärte, die Kü­nischen seien seine Untertanen und er könne daher jederzeit gegen Schätzung und Bezahlung beliebig Bauernhöfe erwerben. Die freien Bauern ließen sich das nicht gefallen denn das hätte die Ver­nichtung ihrer Existenz bedeutet und beschwer­ten sich in Prag   bei der böhmischen Kammer (1613). Daraufhin lud Herr Zdenko einige Bauern zu sich ein, unter dem Vorwand, mit ihnen zu verhandeln, aber als sie kamen, ließ sie der wortbrüchige Graf einfach verhaften. Inzwischen brachen die Schergen des Kolowrat auf den Höfen der Verhafteten ein, schlugen alles kurz und klein und stahlen wie die Raben. Das versetzte die Kü­nischen in hellen Aufruhr. Sie rotteten sich zu­sammen, überfielen-die Räuber und rückten schlietz- lich nächtlicherweise gegen.die Kolowrat'sche Burg Opalka vor. Sie wagten es zlvar nicht, den festen Platz anzugreifen, stellten jedoch eine ständige Truppe auf, die bei Neuern zusammengczogen wurde. Graf Kolowrat wandte sich nun mit einer Anklageschrift wider die aufrührerischen Bauern an den Kaiser, der die Streitsache durch eine Kom­mission untersuchen ließ. Während aber die Kom­mission arbeitete sie verbrachte damit einige Jahre, wurden die Bauern weiter gequält, ge­peinigt und geschädigt. Da sich die Bauern nicht anders zu helfen wußten, beschlossen sie, für ihre Freiheit ein großes Opfer zu bringen und es ent­stand bei ihnen der Gedanke an den Loskauf. Im Juni 1616 gab der Kaiser die grundsätzliche Be­willigung zum Freikauf aus der Kolowrat'schen Pfandschaft und kurze Zeit später hatten sich di-, Künischen tatsächlich losgekauft. Die Freiheit war ihnen mehr wert als das Geld, das sie mit Mühe zusammenbrachten. Am 19. November 1617 er­hielten sie von Kaiser Matthias einen Majestäts­brief, den Freihcitsbrief der Bauern im Walde Hwozd.Von dieser überaus engen Grundlage", so urteilt Blau,gelang es ihrer Wachsamkeit, ihrer Ausdauer und ihrem aufopfernden Freiheits­sinne, die Sicherung ihrer alt gewohnten Rechte, dir von keinem Herrn und keines Königs Gnade, sondern von der Sonne und von der Natur ihrer Berghcimat stammten, immer fester und breiter auszugestalten." Noch einmal mußten die Künischen all: Pern feudaler Unterdrückung auskosten. In dem Kampf zwischen oem katholischen Habsburger   und dem protestantischen Friedrich von der Pfalz, der zum Böhmenkönig gewählt worden war, standen die Böhmcrwaldbauern gegen die Habsburger   und dir katholische Kirch«. Sie" mu stieg es. bitter^büßen, denn nach der Niederschlagung des böhmischen Auf­standes wurden sie der wenige Jahre vorher ge­leisteten Ablösungssumme verlustig erklärt und kamen unter die Fuchtel eines Abenteurers, des kaiserlichen Obersten Don Martin de Hoeff-Huerta, eines habgierigen Emporkömmlings, der über sie durch 15 Jahre, von 1622 bis 1637, die Peitsch: schwang. Hoeff-Huerta hat die Döhmerwald- bauern durch Einquartierung von Soldaten und durch ein« unerhörte Ausbeutung wieder katholisch gemacht er soll sich im Rausche gerühmt haben, daß er der Kirche mehr Seelen gewonnen habe als Christus und seine Apostel. Aber die tapferen Bauern bissen die Zähne zusammen und führten den Kampf weiter. So lange sie Protestanten ge­wesen waren, ließ der Kaiser zu, daß Huerta sie nach Herzenslust plünderte. Als aber der Herr Oberst auch die Katholischen ausraubte» fanden di- Klagen der Bauern bei Hofe ein williges Ohr und es wurde ein Ausgleich getroffen» in dem dir Schuldigkeiten der Untertanen in einemUrba­rium" genau festgelegt wurden(1630). Es war der zweite Freibrief der Künischen, die, so hieß es, bei allen ihren uralten guten und löblichen Ge­wohnheiten, Rechten und Privilegien ohne Verkür­zung belassen und geschützt werden sollten". Seither hat es niemand mehr geivagt, di? Freiheiten der künischen Bauern ernstlich anzu­tasten, auch die Lobkowitzer und Palm-Gundelsin- gen nicht, wclcke Grund- und Gutsbesitz m der dortigen Gegend erwarben. In mancherlei Rechts­stritten sind die Bauern im 18. Jahrhundert für ihre Sache etzrgestanden, bis sie am 22. August 1793 nochmals die Bestätigung aller ihrer Frei­heiten erlangten. Das Jahr 1848 hat dann mit der gutsherrlich-bäuerlichcn Untertänigkeit völlig aufgeräumt, die Bauern des Waldhwozd verloren Wohl ihre Sonderrechte, erlangten aber mit allen Bauern des Landes die bürgerliche Freiheit. Mögen die Nachfahren der Künischen den trotzigen Bauern gleich sein, welche durch Jahr­hunderte um ihre Freiheit gerungen und sie be­wahrt haben. Möge auch für sie der Wahlspruch gelten, welchen die Künischen auf ihrem Wappen trugen: Niemands Herr und Niemands Knecht, das ist Künisch Bauern Recht." E. st. Kleinigkeiten" aus dem Dritten Reich Zahlreiche Betriebe, insbesondere der Textil­und Lebensmittelindustrie, beantragten beim Reichsarbeitsministerium die Erlaubnis zu grö« ßcren Entlassungen, die aber verweigert wurde. Man will noch einmal mit Subventionen aushelfcn. Bis zum Spätsommer aber dürfte die Methode der Vermeidung von Entlassungen durch staatliche Stützung aus Mangel an Mitteln und wegen der Vielzahl der Fälle unmöglich werden. Der im 88. Jahrgang stehendeGebirgS- b o t e" in Glatz stellt sein Erscheinen ein. Der Kommunist Friedrich Kück aus Marl   wurde an einer Brücke des Lippe-Seiten­kanalsauf der Flucht erschossen". Einem Aufruf des Ministers Rust zufolge kann der einjährig-freiwillige D i e n st entgegen allen bisherigen Erklärun­gen vgn nationalsozialistischer Seite,- von den Jahrgängen 1910^1913 doch noch geleistet wer­den, wenn sich die betreffenden bis zum 30. Juni melden. Die Gauleitung Koblenz-Trier erließ«inen Aufruf zugunsten des Weinbaus, in dem es heißt, die Ablehnung des Weins entspringe einer marxistischen  Auffassung! Beamte und Angestellte soll­ten wieder an die Errichtung eines kleinen priva­ten Weinkellers denken. In Anbetracht dessen, daß Löhne und Gehälter das niedrigste Niveau seit der Inflation erreicht haben, kann man dies nur als Verhöhnung auffassen. VoIMM Oll WM Streiks und Aussperrungen im Mai 1935 Nach der Mitteilung des Statistischen Staats» amtes gab«S im Dkai 1935 24 Streits(im April 23), davon waren 21(20) Einzel- und 3(3) Gruppenstreiks in 40(49) Betrieben. In den be­troffenen Betrieben waren 7518(5540) Beschäf­tigte, von denen 7414(4291) streikten und 57(26) infolge Streiks feierten. Die Streikenden verlören 72.965(30.355) Arbeitstage und an Lohn 1,720.562(454.668) KL, die infolge Streiks Fei- ernden 439(362) Arbeitstage mit einem Lohnver- lust von 9444(7596) KL. Insgesamt betrug also der Verlust an Arbeitszeit bei den Streiks 73-404 (30.717) Arbeitstage und der Lohnverlust 1,730.006(462.264)' KL. Stach den Gewerbeklassen entfallen 15 Streiks auf die Baugewerbe(66.135 versäumte Arbeitstage), je zwei Streits auf die Glasindustrie "(800), die Metallverarbeitung(1472) und die Holzindustrie$658)) je ein Streik auf die Land­wirtschaft'4500), die Steinindustrie(.) und die Nahrungsmittelindustrie(.). Hinsichtlich der F» r d e r u n g e n wurde bei einem Streik die Nichtkürzung der Löhne (1400), bei 11«sine'LohnerhöhlM^'s70.643) ver­langt, 3 Streiks hatten ander« Forderungen(922) zur Ursache und bei 9 Streiks ist die Forderung bisher nicht bekannt. . Das Ergebnis der Streiks war in 7 Fäl­len ein Teilerfolg(2182), in 3 ein Mißerfolg (4408) und in 14 Fällen ist es nicht bekannt (67.340). Nach Ländern entfallen auf Böhmen   10 Streiks(2643), auf Mähren   und Schlesien 2 (414), auf die Slowakei   8(65.400) und auf Kar- pathorußland 4 Streiks(4508).' Aussperrungen gab eS im Mai keine. Gestapo   von turren Berlin  , Prinz-Albrechtstraße 8. Die beiden SS-Posten, die mit Stahlhelm und Karabiner staffiert, vor dem Portal wurzeln, sind eigentlich recht überflüssig, denn kein Mensch kommt auf den Gedanken, heute fteiwillig dieses Haus zu betre­ten. Die Vorübergehenden beschleunigen ihre Schritte oder wechseln auf die andere Straßen­seite; ihre Mienen sind von einer künstlichen Gleichgültigkeit, aber die Angst sitzt ihnen im Racken, und erst wenn sie an der Straßenecke an­gelangt sind, wagen sie sich zaghaft und neugierig umzudrehen: da hockt der Palast der Geheimen Staatspolizei, wie ein Alptraum mitten in der Weltstadt. Ich bin nicht zum erstenmal hier, aber ein Bekannter will mir einiges zeigen, was man sonst nicht leicht zu sehen bekommt. Wir treten ein. Links die Wachstube, wo man sich anzumelden hat. Ein paar SS  -Leute sitzen da, rauchen; vor einem Jahr wurde man noch von SA  -Männern empfan­gen. Heute sieht man kein braunes Hemd mehr im ganzen HauS. Dann gebts die breite Stein­treppe hinauf, den feierlichen Korridor entlang, dsn mit Fahnen und den Bronzebüsten von Hitler  und Göring   geziert ist(Goebbels hat hier ja nichts zu suchen). In dieser Etage residiert Chef Himmler mit seinem Staab; es herrscht Ruhe, denn die Herren sind, wie meist, nicht da. Im Linoleum der Gänge spiegeln sich die weißen Wände; man denkt an ein Krankenhaus. Im 4. Stock geht es am lebhaftesten zu: Uniformierte bringen Häftlinge zum Verhör; hier ist die Fahndungsabteilung für Berlin  , die Paßüber« wachnngsstelle und der restliche Verkehr mit dem Publikum. Die unten leisten nur Kanzleiarbeft. Der Chef der Fahndungsabteilung ist ein freundlicher alter Herr, der noch unter Sevcring das silberne Dienstjubiläum gefeiert hat. Seine Leidenschaft ist, illegale Literatur zu sammeln. Stolz zeigt er seine Schätze: die ganze Schreib- sischlade ist voll damft, obwohl er, wie er sagt. nur je ein Exemplar aufbewahrt. Ueber jedes neue Stück zeigt er sich so erfreut, daß man fast versucht wird, ihm eine regemäßige Belieferung zuzusagen. Wie so viele Bibliomanen hat er vom Inhalt seiner Sammelobjekte natürlich keine Ahnung.Passen Sie auf", flüstert mir mein Be­gleiter zu,wie blöd er ist", und erzählt, der ille­gale Rotfrontkämpferbund sei in voller Auflösung begriffen, seit Hösing der KPD   beigetrcten sei und innerhalb der Partei eine militärische Gegenorga­nisation gegründet habe. Ter fteundliche alte Herr sitzt daneben und merkt tatsächlich nichts. Aber vielleicht ist er doch weniger lebensfremd als sein früherer Vorgesetzter(Severing), gegen dessen Freunde er eben eine Aktion eingelestet hat. Im Nebenzimmer sind vier Beamte mit dem Durch­stöbern der beschlagnahmten Akten beschäftigt; harmloser Briefwechsel, der inzwischen freilich historisch geworden ist:Der Reichskanzler Her­ mann Müller   beehrt sich, anläßlich des Besuches Seiner Majestät, des Königs von Afghanistan  ..." Oder eine Karte des Reichspräsidenten   Ebert: Besuche mich doch, wenn ich wieder in Berlin  bin." Da sitzen die Vier tagelang und sehen den sinnlosen Kram durch, ob sich in ihm nicht Beweise illegaler Tätigkeit finden ließen, aber die in einem Regal aufgestapelten beschlagnahmten Druckschrif­ten zu studieren, haben auch sie keine Zeit. Jeder ist einem Ressort zugeteilt: SPD  , KPD  , kleine Gruppen, doch haben sie ihre Vor­stellung vom politischen Inhalt dieser Bewegun­gen aus der Zeit vor Hitler   übernommen. Diffe­renzierungen, Arnderung der politisckien und takti­schen Linie blieben ihnen bis heute ftemd. Wir qehen wieder hinab ins Erdgeschoß, biegen hinter die Steintreppe ab, durch ein Paar dunkle Gänge und verschiedene Holzstufen hin­unter, dann sind wir in den Kellerräumen. Eine verwahrloste Garage mußte durchquert werden, wo defekte AutoS durcheinanderstehen; links eine Tür, rechts eine Tür; wir klopfen an der rechten, sie führt zu den berüchtigten Gefängniszellen. Ein SS-Mann ün Stahlhelm, den Revol­ver umgeschnallt, öffnet, verlangt die Ausweise, läßt uns ein. Ein großer halbdunkler Raum; an einem Tisch spielen Uniformierte Karten, durch eine Tür im Hintergrund sieht man ein Dutzend Pritschen, auf denen SS  -Leute liegen. Etwas viel Bewachung für die Insassen der 17 Zellen, sinte­malen die Mehrzahl von ihnen zurzeit ebenfalls SS  -Leute sind, die hier Dienststrafen absitzen. Die Behandlung ist entsprechend angenehm; der dicke, sehr jüdisch auSsehende Inspektor der Schrecken vieler Gefangener brüllt zwar auch jetzt wie am Spieß, aber geschlagen wird nicht. Die soziali­ stischen   Häftlinge sind alle im Columbia-Haus  untergebracht. Man sieht, daß die Zellen noch neu sind, sie sind hygienischer als in vielen Gefängnissen aber man wird den Eindruck der Unechtheit nicht los. Auch hier eine Art Linoleumbelag und frisch­getünchte Wände, die kein Gekritzel verunstaltet; alles sieht so abwaschbar aus wie in einem Kinder­zimmer der Montesori, das fünf Minuten nach dem Chaos schon wieder dem Besucher vorgeführt werden kann. Nur in der Zelle Nr. 1 blickt, mit Bleistift eingegraben, ein großes T von. der Wand; plump gezeichnet, wie ein zweiarmiger Galgen. Hier wohnte lange Zeit Ernst Thälmann  . Wir gehen wieder hinaus in den Korridor. Die Tür links führt zum Restaurant für die Beamten des Hauses; das Bewußtsein, in nächster Nachbarschaft der Gefangenen speisen zu können, erhöht ihnen den Appetit wie die Gemütlichkeit. Ein nicht großer Raum, dessen Einrichtung sehr provisorisch aussieht. Hierher kommen, die Herren mit ihren Sekretärinnen,- die sonst unsichtbar hinter den vielen Türen sitzen; ältere Leute, denen man den ehemaligen Offizier von weitem ansieht: junge Elegants mit dem Gehabe von Diplomaten: und die Neulinge aus den Reihen der SS: zwei­undzwanzigjährige Burschen, die all: dasselbe primitiv-gesunde Gefickt haben. An ihnen merkt man schon die typisierende Wirkuna derNeuen Schule". Auch bei der Auswahl der Weiblichkeiten scheint heute ein Schema vorzuherrschen, denn die meisten sind dick und außerordentlich blond. Nur daS Mädchen an der Theke, das jedoch nicht ver­nachlässigt wird, könnte aus Bialystok   stammen. Auf der Speisenkarte stehen verschiedene, nicht sehr billige Eintopfgerichte: gestufte Volksgemeinschaft (zu der die uniformierten Wachtmannschaftcn be- merkenswerterweise keinen Zutritt haben). Ueber der Karte dieses schleckten Lokals seht in großen Lettern:Casino der Geheimen Staatspolizei". Wozu dies? DaS Lokal ist dich nur den An­gehörigen des Apparats geöffnet; will man sie daran erinnern, wo sie find? Gewiß. Dieses Ge­habe ist nur scheinbar lächerlich; in Wirklichkeit dient es einem sehr ernsten Zweck. Auf Schritt und Tritt soll ihnen vor Augen gehalten werden, was alles mit ihnen los ist. Die Posten vor dem Portal, die Unzahl der Wachtmannsckasten, das Menschenarsenal im Hause nebenan, wo ständig etwa hundert SS  -Leute in voller Kriegsaus­rüstung kümmeln; die zehn Posten hinten im Park, die mit dem Karabiner in der Hand aufpassen müssen, daß die Gefangenen nicht lie hohe Mauer überspringen, die zwischen Park und(wohlver­gitterter) Zelle sich erhebt: das alles entspringt nicht so sehr der Angst, wie der Absicht, die eigene Macht sich selbst vorzudemonstrieren und sich an ihr zu erheben. Die Macht soll durch sich selbst multipliziert werden. Wir verlassen das HauS im Auto. Selbst die Beamten im Dienst, die täglich hier aus und ein fahren, müssen sich stets mit dem amtlichen Aus­weis legitimieren. Auch der Chef Himmler  , dessen Visage in Berlin   jedes Kind kennt, beweist vor dem Posten täglich seine Identität..ufs neue. Angst? Lächerlichkeit? Preußischer Sozialismus! Das Recht darf keine Ausnahme kennen wo es nichts kostet! Keiner darf sich über den Andern erheben in belanglosen Aeußerlichkeiten I Ueber die Verlogenheit solcher Moral ist hinreickend ge­schrieben worden, aber sie zieht imme>- noch. Die­ser Staat lebt von Ihr; Hunderttausende exakt gedrillter menschlicher Maschinen sind bereit, ihn zu schützen. M. H.