ZENTRALORGAN DER DEUTSCHEN SOZIALDEMOKRATISCHEN ARBEITERPARTEI IN DER TSCHECHOSLOWAKISCHEN REPUBLIK ERSCHEINT MIT AUSNAHME DES MONTAG TÄGLICH FRÜH, Redaktion und Verwaltung präg xii., fochova«r. telefon sw7. HERAUSGEBER» SIEGFRIED TAUB . CHEFREDAKTEUR » WILHELM NIESSNER. VERANTWORTLICHER REDAKTEUR. DR. EMIL STRAUSS, PRAG . Einzelpreis 70 Heller («iuchliaSlich S Hollo« Porto) 15. Jahrgang Mittwoch, 31. Juli 1935 Nr. 176 Die Ratstagung beginnt Macht oder Recht Die Schicksalsfrage für Abessinien — und den Völkerbund I Genf.(Tsch. P.-B.) Der Bölkerbundrat, der Mittwoch um 5 Uhr nachmittag zusam- meutreten soll, um den abessinisch-italienischen Konflikt zu lösen, wird zunächst eine geheime Sitzung abhalten. Vorher werden aber bereits den ganzen Tag Beratungen der Staatsmänner und Diplomaten stattfinden. Die italienische Delegation ist bereits Dienstag nachmittag einge- troffen, Baron A l o i s i wurde für abends erwartet. Der Ratsvorsitzende Litwinow durste Mittwoch früh eintreffen, ebenso wie Eden und Laval . Die bisher geführten Berhandlun- ttn einiger Regierungen über den italienisch-abessinischen Streitfall bewegen sich, wie nunmehr auch in Graf bestätigt wird, in der Richtung, daß der Bölkerbundrat möglichst schnell ein Kompromiß für ein weiteres Schiedsverfahren erziele und auf diese Weise gegenwärtig die Aufrol- lung deS Gesamtproblems deS stalienisch-abessinischen Streitfalles in Genf vermeide. Baron Aloisi(Italien ) Den Beratungen in Genf sind unmittelbar wichtige Konferenzen in Paris vorangegangen. Lord Anthony Eden hat auf der Durchreise durch Paris die Beratungen fortge- sttzt, die seit Tagen der Botschafter Sir H e n r y Clark mit L a v a l geführt hat. Möglicherweise werden die Diplomaten, die von Paris mit dem gleichen Zug nach Genf reisen, auch während der Fahrt konferieren. Sicher finden vor der Ratssitzung nochmals Konferen- zen der drei hauptbeteiligten Mächte statt. Lord Eden hat keine gebundene Marschroute. Das bedeutet, daß England halb ent- schlossen ist— wir haben darauf schon vor vier Dagen hingewiesen, seine Parole:*„Beratung des gesamten Streitfalls" bei ernstem Widerstand zu opfern. Es wird weitgehend der Füh- rung Frankreichs folgen, an dessen Standpunkt sich seit Italiens Solotanz auf valutarischem Gebiet ja Wesentliches geändert hat, das aber doch ein Kompromiß auf der Grundlage weitgehender Zugeständnisse an Mussolini anstrebt, eben deshalb, weil es von einem Krieg Italiens feinen eigenen Bankrott befürchtet. Es könnte sich wiederholen, was Frankreich 1917 mit Rußland erlebte, dessen Krieg auch mit französischem Gold finanziert war und das unter einem neuen Regime außerstande war, die Zarenschulden zurückzuzahlen. Wenn Italien Nicht selbst einen Bruch provoziert, dürfte das Ergebnis der Ratstagung eine P e rsch l e p'p u n g des Streites unter verschiedenen Vorwänden sein, wobei England allerdings fordern wird, daß Italien das Tempo seiner Rüstungen herabsetze. Aus dem Bölkerbundsrat wird man, sobald der Form genügt ist, die Verhandlung wieder in den Krtis der drei Westmächte zurückverlegen, zumal, da Rußland wenig Lust zeigen wird, sich allzusehr ru engagieren. England hätte selbstverständlich eine rasche Lösung vorgezogen, wird sich aber der These Lavals, daß Zeitgewinn die Hauptsache fei; fügen müssen. Tatsächlich hat Eden natürlich Recht, wenn er die Verschlep pung für gefährlich hält. Wir haben wiederholt dargelegt, daß der Zeitgewinn ein einseitiger Vorteil für Italien ist. » In den Kommentaren der Presse beginnen sich jetzt doch schärfer die Umrisse der wesentlichen Probleme des Streitfalles avzuzeichnen. Die französische Presse gibt zum 'Teil noch der Hoffnung Ausdruck, daß Italien durch afrikanische Eroberungen von seinen europäischen Zielen abgelenkt werden könnte. Wie irrig das ist, kann Frankreich am besten an seiner eigenen Geschichte überprüfen. Eine glänzende kolonialpolitische Entwicklung, wie sie Frankreich — zunächst von Bismarck gefördert— von 1880 bis 1911 zu verzeichnen hatte, konnte es nicht über den Verlust Elsaß -Lothringens trösten, wie Bis marck noch gehofft hatte. Je erfolgreicher Mussolini in Astika ist, desto übermütiger wird der italienische Imperialismus seine alten Forderungen auf Dal matien , Savoyen , Nizza , Korsika und Malta betonen. In einem Artikel im„E ch o deParis" kommt P e r t i n a x, nachdem er Frankreichs Sympathien für die Ausdehnung Italiens in l-aval(Frankreich ) Afrika betont hat, doch auf die entscheidende und ür Frankreich lebenswichtige Frage zu sprechen. Mussolini müsse verstehen, führt der bekannte französische Publizist aus, dass Frankreich in eine üble Lage käme, wenn Italien eine ganze Reihe von Vertrügen breche. West deutlicher umreißt das Problem die kommunistische„H umanite", wenn sie schreibt: Der Krieg in Afrika wird die Rechtfertigung einer Politik des Gewaltstreichs und der Zerstörung der Grenzen fein. Wenn erst einmal die Grenzen Abessiniens vernichtet find, werden auch die Grenzen Osteuropas und Oesterreichs gefährdet sein. Nichts anderes würde dieser Krieg bedeuten. Dagegen hat der„Excelsior" noch nicht begriffen, daß in Genf im Grunde auch über das Schicksal aller 1918 von Frankreich geschaffenen kleinen Staaten entschieden wird. Er wirft den kleinen Staaten vor, daß sie nicht verstehen wollen, daß in der Kolonialpolitik Macht vor Recht gehe. Die Politik Frankreichs hat seit dem Kriege die moralische Deckung nicht entbehren können, die ihr die These von dem Vorrang des Rechts vor der Macht gab. Sie hat der Welt einzureden versucht, daß Machtpolitik ein rein deutsches Prinzip sei, während Frankreich in frivoler Weise diese — oft genug durchlöcherte— These selbst preisgibt, bricht alles zusammen, was es seit 1918 aufgebaut hat.' Zahlreiche Blätter weisen auf die f i n a n z- politischen Seiten der Frage hin. Der diplomatische Mitarbeiter des„D a i l y Telegraph" schreibt, die scheinbare Teilnahmslosigkeit der französischen .Regierung beginne einem immer größer werdenden Interesse Platz zu machest. Die beiden Gründe seien anscheinend, daß die französische Politik ebenso fest auf dem Völkerbund begründet sei, wie die britischen, und daß. Frankreich über die finanziellen und wirtschaftlichen Folgen eines italienischen militärischen Abenteuers beuruhigt sei. Italien , das an verzweifelter Geldknappheit leide, suche Hjlfe bei Frankreich . Laval wisse aber, dah es geführlich wäre, wenn er sich dem Vorwurfe aussehen würde, dass er die neuen französischen Steuern und Gehaltsabzüge für italienische Kolo- nialintereffen verschwende. Aber auch die französische„Informa- tionFinan eiere" schreibt, der britische Minister Eden werde in Genf Baron Aloisi auf verschiedene Umstände aufmerksam machen, die ein italienisch-abessinischer Krieg zur Folge haben könnte, vor»allem auf den Widerhall, den dieser Krieg bei den Völkern anderer Raffen, insbesondere bei den Negern, wecken würde, sowie auch auf das Echo auf wirtschaftlichem und finanziellem Gebiet, das schon jetzt sich auf eigene Art zu melden beginnt. In Rom wird Verwunderung und Erbitterung darüber laut, daß die Bereinigten Staaten die Kriegsabstchten Italiens verurteilen und man weist auf die. Heuchelei der Vereinigten Staaten hin, die unter anderen Umständen die Rechte der Neger wenig achten. Dieser Standpunkt Italiens den Bereinigten■ Staaten gegenüber hat in Wirklichkeit einen sachlicheren Grund. Seit Jänner- des heurigen Jahres sind nämlich auf dem amerikanischen Markt die Bons (Schluß auf Seite 2)' Bauer oder Janker? Die niniergrllndc der neuen Suslemhrlse Die Stellung der Nationalsozialisten zum Großgrundbesitz war von jeher zweideutig und widerspruchsvoll. Kaum war das Programm bekannt geworden, das im Punkt 17„eine unseren nationalen Bedürfnissen angepasste Bodenreform, Schaffung eines Gesetzes zur unentgeltlichen Enteignung von Boden für gemeinnützige Zwecke, Abschaffung des Bodenzinses und Verhinderung jeder Bodenspekulation" fordert, da wurde„das unabänderliche Programm" auch schon dahingehend geändert, daß selbstverständlich kein Großgrundbesitz enteignet wird, der Punkt 17 beziehe sich lediglich auf die„jüdischen Spekulanten". Die spätere Stellungnahme gegen die Enteignung der Fürsten , ferner der Kampf gegen die SiedlungspläneBrimings und Schleichers, und schließlich die Schaffung der Harzburger Front, in welcher der Großgrundbesitz eine maßgebende Rolle spielte, stellten unter Beweis, daß die Nationalsozialisten an den Großgrundbesitz Nicht Herangehen wollten oder nicht konnten. Wie immer es sei: die Nationalsozialisten trugen zur Festigung des Bündnisses zwischen Junkern und Schlotbaronen, d. h. zwischen Eisen und Korn, bei und so überhörten auch sie vorerst Max Webers Parole:„D rutsche B au e r n sind wichtiger als.deutsches Kor nl" Aber die Interessen der Junker sind genau genommen nicht die Interessen der nationalsozialistischen Bewegung, die auch den Bauern viel versprochen hat und darüber hinaus versuchen muß, die Arbeiterklasse wie. die große Industrie durch Auflösung der Großstädte und Ansiedlung von Arbeitern zu schwächen, will sie Deutschland mit Erfolg in mittelalterliche Zustände zurück- fübren. SiedlmngisteineLebensnot- Wendigkeit für den Nationalismus. Die Bauern drängen nach Land, ihnen dauert eS zu lange, es von Rußland zu holen, und zum Kriegführen haben sie auch keine Lust. Also erheben sie ihre Stimme gegen den Großgrundbesitz. Vorübergehend war dies die Stimme der zweiten Revolution. Gegen Hugenbergl Hilgenberg fiel, aber hixr wurde lediglich die politische Konkurrenz beseitigt, wirtschaftlich geschah ihm nichts, die Agrarpolitik blieb und belastete die Massen immer stärker. Und daß Hitler und Goebbels dem„sturen Bock" Hugenberg zu sci- nem 70. Geburtstag so herzliche Briefe schrieben, ist mehr als eine Geste, denn im Gründe brauchen einander diese beiden reaktionären Kräfte immer wieder. Trotz aller Gegensätze und immer neuer Krisen kam es schließlich doch zum Harzburger Bündnis. Im ganzen scheint der Nationalsozialismus infolge seiner sozialen Vielfältigkeft uiw. in diesem Bündnis ökonomisch der schwächere Teil zu sein, deshalb wird er immer wieder stiefmütterlich behandelt. Das gefährdet aber seine Massenbasis und seine soziale Machtgrundlage. So muß er, gettieben von seinen Anhängern, immer wieder versuchen, innerhalb seines Bündnissystems eine höhere Quote herauszuschinden. Seine Anhänger können nicht begreifen, daß er mit seiner totalen Macht so wenig anzufangen weiß. So stek- ken die Demagogen in einem tollen Dilemma: jeder Schritt, den sie im Interesse ihrer ehemaligen Wähler machen wollen, ist zugleich ein Schritt gegen den Bundesgenossen. Immer krampfhafter muh man sich demzufolge bemühen, die Nazi-Utopien zu verwirklichen. Eben dariyn kündigt der„Völkische Beobachter" jetzt verschärf t e„a n ti k a p i t a l i st i s ch e" M a ß n a h m e n a n. Eine von vielen ist die Auflösung des Konsumvereins, der für den Krämer selbstverständlich jüdisch-marxistisch-kapitalistisch ist. Der geseigerte Antisemitismus und die neuen Vorjötze im Staatsapparat lHelldorfs Ernennung zury Polizeipräsidenten von Berlin I) liegen auf der gleichen Ebene, Die primitive mechanische Auffassung, daß sich im Nationalsozialismus das„Monopolkapital" austobt, wird durch niemanden besser als durch die Klagen eben dieses Monopolkapitals widerlegt. Die Ding« liegen ungeheuer komplizierter/ Der uto- > pische und für die Exportindustrie verhängnisvolle I r e a k t i o n ä r e„Antikapitalismus" der Natio- I nalsozialisien treibt die Gegensätze auf den Gipfel. Darum gesteigerter Antisemitismus, Machtkonzentration im Apparat, neue Sammlung der SA und SS, neue Differenzen mit Industrie, Wehrmacht und eigener Organisation. Schwer zu sagen, was
Ausgabe
15 (31.7.1935) 176
Einzelbild herunterladen
verfügbare Breiten