Seite 2 Sonntag, 18. August 1933 Nr. 192 noch über mehr unkultivierten aber brauchbaren Boden als über bisher kultivierten. Das Tempo der Neukultivierung ist sehr langsam. Bei dem gegenwärtigen Tempo wäre erst in 100 Jahren unser kultivierbarer Boden in Gebrauch genom» men. Wenn man bedenkt, daß wir gegenwärtig nm ein Zehntel unseres Bedarfes an Roggen und Wei­zen decken können, so wird man die Bedeutung einer Intensivierung der Urbarmachung norwegi­schen Bodens erkennen. Die arbeitslose Land­jugend soll ihr Auskommen auf norwegischem Bo­den finden. Eine weitere Ursache für die Miß­stände in der norwegischen Landwirtschaft ist die Kleinheit der Bauernhöfe. Durch die staatliche Unterstützung der Neuordnung soll auch hier Abhilfe geschaffen werden. Die außer­ordentliche Bewilligung für die Schaffung neuer Güter und die Erweiterung der Äleinöauernhöfe wird von der Arbeiterregierung auf fünf Millio­nen Kronen festgesetzt. Für Wohnhausbau auf dem Lande, Betriebsmittel und Beiträge für Haus­reparaturen der Kleinbauern, die keinen Wald be­sitzen und ähnliche Zwecke werden weitere zwei Millionen Kronen angesetzt. Bedeutende Summen verwenden wir auch zur Erleichterung der Schul­denlast der Kleinbauern. Vielleicht am schärfsten hat die Krise in un­seren Walddistrikten g'wütet. Auch hier seht die Arbeiterregierung durch Arbeitsbeschaf­fung mit bedeutenden Mitteln ein, natürlich auch direkte Unterstützung und Förderung und auch in den Walddistrikten sollen neue Waldbauernhöfe erstehen. Die Fischerbevölkerung war lang genug Norwegens   Stiefkind. Die Lebensverhältnisse un­serer 100.000 Fischer sind denkbar schlecht. Neun Zehntel aller Fische, die in mühevoller Arbeit von unseren Fischern geborgen werden, werden aus ausländischem Markt verkauft. Durch die scharfe Konkurrenz der anderen fischproduzierenden Län­der, Zolle, Restriktionen gingen die Preise ständig nieder. Seit Jahren liegen die Fischpreise nun bis zu 60 Prozent unter dem Borkriegspreis. Gleich­zeitig sind aber die Fischereigeräte um rund 200 Prozent teurer. Die bisherige Hilfe bestand darin, daß die Fischer Kredite zur Anschaffung neuer Geräte bekamen, nun sollen vier Milliosten Kro­nen als B e i t r a g für Fischereigeräte und Klein­boote der Fischerbevölkerung gegeben werden, di: nicht zurückgezahlt werden brauchen, während gleichzeitig der Storting auch die bisherigen Schul­den gestrichen hat. Weiters wird ein Beitrag zur Anschaffung von Motorfahrzeugen und ein Neu­ausrüstungskredit vorgesehen. Auch der Fischhan­del wird reorganisiert. Schließlich sind-für den Bau neuer Fischereihafen noch eine Million Kronen vorgesehen und überdies sollen die Schuldner der Fischereibanken ebenfalls Erleichterungen ihrer Schuldbürde erhalten. Insgesamt sind es 80 Million«» Kronen rund 450 Millionen tschechoslowakische Kronen die von der Arbeiterregierung zum Kampf gegen di« Krise bereitgestellt«erden sollen. Die Deckung dieser bedeutenden Mittel soll durch eine Anleihe in der Höhe von 13 Millionen, durch eine außerordentliche Krisen st euer von ebenfalls 13 Millionen und durch eine Um- sahabgabe 17.5 Millionen Kronen, der Rest wird aus den ordentlichen Staatssteuern, Zöllen und Abgaben erfolgen. Es ist bemerkenswert, daß die Arbeiterregierung auf der anderen Seite die breiten Massen belastende Steuern, wie die Mar­garineabgabe senkt. Für die»kleinen Leute" wird die Belastung durch die für die Krisenbekämpfung notwendigen Mittel nur ganz geringfügig sein. Von der Krisensteuer sind überhaupt nur jene be ­troffen, die über 2000 Kronen im Jahr cinneh- men, also viele zehntausend« Arbeiter, Fischer, Landarbeiter sind völlig befreit, und auch die Um­satzsteuer bedeutet nur eine ganz geringfügige Be­lastung, wobei jedenfalls der durch die Krisenbe­kämpfung«rziellbare Erfolg in keinem Verhältnis zur Belastung durch die Krisenabgaben steht. DaS Krisenabkommen zwischen der Arbeiter­partei und den Bauern dominiert heute auf dem politischen Gebiet in Norwegen  . Ueberall ist bren­nendes Interesse für alle die Maßnahmen vor­handen, die von der Regierung mit dieser starken parlamentarischen Stütze auf allen Gebieten des Wirtschaftslebens vorgenommen werden. Ueberall zeigt sich erhöhtes Vertrauen zur Arbeiterpartei und vor allem zunehmende politische Beruhigung eine Beruhigung, die auch innerhalb des Wirt- schafslebenS zu konstatieren ist. In politischer Hinsicht hat die Regierungspolitik die Veränderung Köln  .(F. K.) In welchem Maße in Deutsch­ land   alle Entscheidungen auf wirtschaftlichem Ge­biete vom Standpunkte der Kriegstüchtigkeit und -Vorbereitung aus getroffen werden, dafür gibt der folgende Vorgang einen besonders drastischen Beweis: Die Handelskammer in Aachen   hatte als Jn- tcreffenvertreterin von Handel und Industrie eine Beschwerdeschrist an die Zentralinstanzen in Ber­ lin   gerichtet und Klage geführt, daß die Industrie im Aachener Bezirk bei den Aufträgen für die Hee­resleitung fast völlig ausgenommen werde. Die Handelskammer teilte jetzt den in Frage kommen­den Firmen mit, daß die Regierung das linke Rheinufer als R ä u m u n g s g e b i e t betrachte und daß deshalb kein Interesse vor­liege, in dieser Zone Rüstungsbetriebe zu unterhal­ten, resp. zu errichten. Außerdem sei eS wegen der Spionagegefahr nicht opportun, in diesem Gebiet Materialien, die der Wehrhaftmachung des deutschen   Volkes dienen, herzustellen. In den Kreisen der Industrie hat die Defini­tionRäumungsgebiet" für das linke Rheinufer wie eine Bombe eingeschlagen. Was aber hier von amtlicher Seite mit dür­ren Worten offen ausgesprochen wurde, hat seit langer Zeit bei allen Entscheidungen der Regie­rungsstellen die Richtlinie abgegeben. Auf zwei Wegen wurde erreicht, daß im linksrheinischen Ge­biet die industrielle Expansion unterblieb. Erstens gab der Hauptarbeitgeber, das ist das Kriegsmini­sterium mit seinen Riesenaufträgen, nur unbedeu­tende Rüstungsaufträge in» linksrheinische Gebiet. Zweitens würden Subventionen"im wcscntuchen nur an solche Firmen gegeben, die nach der Mei­nung der militärischen Sachverständigen kriegs­wichtig sind und weitab von der Grenze liegen. Diese Tatsachen haben bewirkt, daß jahr­zehntelang im Rheinland   ansässige Firmen mit ihrem ganzen technischen Apparat sich aus die Wanderung ins Reich begeben haben oder daß sie stillstehende Fabriken im Reich auflauften und einrichteten, um dann dort zu produzieren. Wenn militärisches Interesse am Betriebe vorlag, dann flössen auch die Mittel, die zur Verlegung ge­braucht wurden. Roch in der neuesten Zeit sind di« weiter untenstehenden folgenden Verlegungen von Firmen erfolgt: Dürener Metallwerke   sind jetzt bewirkt, daß die politische Einstellung in hohem Maße arbeiterfreundlich wurde, was vor allem in der Bauernpartei und der bürgerlichen Linken merkbar ist. Man bedenke nur, mit welcher Leich­tigkeit es möglich war, die arbeiterfeindlichen Ge­setze zu beseitigen, die in den letzten zehn Jahren zustandegekommen waren. DaS»Zuchthausgesetz" ein norwegisches Antigewerkschaftsgesetz wurde ja mit den Stimmen der Arbeiterpartei, der Dauern und der bürgerlichen Linken weggefegt. Die Wahl im nächsten Jahr wird der Eroberung der Arbeitermajorität im Storting gelten. Rtan kann natürlich den Ausgang der Wahl nicht ein Jahr voraus prophezeien, aber im bürgerlichen Lager glaubt man deutlich an einen Sieg der Arbeiterpartei und ihre Storting»- Majorität. Daß die Arbeiterpartei alle ihre Kräfte anspannen wird, um dieses Ziel zu er­reichen, ist selbstverständlich. fast restlos umgesiedelt. Sie unterhalten jetzt zw^r Werke, in D e s s a u und in B e r l i n. Lro Lammerts, die größte Nadel­fabrik, verlegt ihren Betrieb zum größten Teil nach Bayern  . In A a ch e n wird nur ein kleiner Tc:l verbleiben. Vorgesehen ist, von 800 auf 800 Mann zu reduzieren. Zur Erledigung der Auslandsauf­träge soll ein Betrieb in Holland   eingerichtet wer­den.(Lammerts hatte seinen Betrieb auf die Er­ledigung bestimmten Rüstungsbedarfs umgestellt, s Kranz, Maschinenfabrik, Aachen cs handelt sich um den größten Be­trieb dieser Art im ganzen Bezirkwird in rechts­rheinisches Gebiet verlegt. Die Firma hat mehrer: tausend Arbeiter und zwar ausschließlich für das Heer, beschäftigt. Die Rheinmetallwerke, Düs­ seldorf  , haben ihren Zweigbetrieb in Söm­ merda  (Bezirk Erfurt  ) außerordentlich erwei­tert und auf die Erzeugung von Maschinengewehr­teilen eingestellt. Die abwandernden Industrien siedeln sich in der Hauptsache in Mitteldeutschland   an (Anhalt, Thüringen  , Provinz Sachsen  ). Sie ent­fernen sich au» der Nähe ihrer alten Kohlen- und Rohstöfsbasis: dem westfälischen und Aachener Kohlen- und Hüttengebiet und zugleich auch von den alten Absatzgebieten und Hauptexportländern. Der im heutigen schweren Konkurrenzkampf nicht entbehrliche Vorteil des kurzen Transportweges der Rohstoffe und der Fertigware geht verloren. Die Wirtschaftlichkeit der Betriebe muß sinken. Solange der NüftungStaumel mit den großen Gewinnen an­hält, mag alle» gut scheinen. Wenn aber eines Tages die ReichSstellen nicht mehr in der Lage find, mit Rüstungsaufträgen und Subventionen nachzu­helfen, wird er sich Herausstellen, daß Deutschland  in der Zeit, als eS seine Auslandsschulden nicht bezahlte, sich nicht nur den LuxiS einer forcierten Ausrüstung, sondern Auch den einer riesigen indu­striellen Fehlinvestition leistete. Die RüstungSbetriebe de» linken RheinuferS wurden verlegt, damit sie der Fernwirkung von Artillerie und dem Luftangriff entzogen fein soll­ten. Ist aber das Gebiet, in dem sie sich jetzt be­finden, bei der Leistungsfähigkeit moderner Flug­zeuge überhaupt wesentlich sicherer? Liegt hier nicht neben dem wirtschaftlichen teilweise auch ein mili­tärischer Fehlschluß vor? Internationaler LehrerkonsreB Gründung einer internationalen pädagogischen Zeitschrift Am 9. und 10. August fand in Bern   unters dem Vorsitz von L. Z o r e t t i der Internationale Kongreß der Lehrer statt. Die Lehrer-Internationale(JBL), zählt 108.000 Mitglieder auS 12 Ländern. Zur Zeit der Gründung des JBL im Jahre 1926 umfaßte> die Internationale sieben Länder. Vertreten waren Frankreich  , die Niederlande, Belgien  , die beide» tschechoslowakischen Organisationen, Spanien  , die Schweiz   und durch den niederländischen Vertreter s auch Niederl. Indien  . Weiterhin waren auch Ver­treter Oesterreichs   sowie der emigrierten deutschen  Lehrer anwesend. Im Namen des Internationalen Gcwerk- schaftsbundes hob Genosse Stolz in seiner An­sprache die enge Zusammenarbeit der Lehrer-In­ternationale mit dem JGB hervor, aus der auch das Internationale Schul- und Erziehungspro­gramm hervorging. Es wurde mit Genugtuung zur Kenntnis ge­nommen, daß die dem JGB zugekommene Einla­dung zum Kongreß der amerikanischen   Lehrer- s schäft, die er dem JBL überg:ben hat, die Möglich- leit bietet, mit der amerikanischen   Lehrer-Orga­nisation in Verbindung zu treten. Der vom Sekretär B r a c o p s erstattete Bericht wurde einstimmig zur Kenntnis genonimen und, um den Einfluß auf die noch nicht angeschlos­senen Länder englischer und spanischer Sprache zu erweitern, beschlossen, das Bulletin in diesen bei­den Sprachen herauSzugeben. In jedem Land wer­den Korrespondenten für das internationale Büro bestellt. Die seit Jahren bestehende und überaus er­folgreiche Internationale Sommerschule der Leh­rer wird auf Grund der bisherigen Erfahrungen erweitert. Nach den Ausführungen des tschechoslowaki­schen Vertreters P k i h o d a faßt der Kongreß den Beschluß, eine internationale wis­senschaftliche pädagogische Zeit­schrift herauszugeben, die schon deshalb not­wendig geworden ist, weil eS zwar mehrere inter­nationale pädagogische Zeitschriften gibt, die ent­weder neutral oder sogar ausgesprochen reaktio­när, sind, wie die Internationale Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, die gleichgeschaltet wurde. Mit dieser Zeitschrift sollen die freigewerkschaft­lichen sozialistischen   Lehrer ein eigenes Organ cr- halten, das auch das Programm der»Sozialen Erziehung" vertreten soll. Im Sinne des Berichtes der Genossin Louise Eavalier über den internationalen Austausch und Auslandsreisen der Jugend wurde beschlossen, für die internationale Annäherung der Jugend zu wirken, und zwar 1. durch eine intensive Pro­paganda unter den Junglehrern und-Ichrerinnen für die internationale Sommerschule; 2. durch Zusammenarbeit der angeschlossenen Orgamsatio- nen mit den weltlichen Jugendherbergen Frank­ reichs  ; 3. durch Gründung eines besonderen Dien­stes beim JBL, der mit den angeschloffenen Or­ganisationen den internationalen Austausch und die Auslandsreisen besorgen wird. AuS dem Bericht des Kassiers Moerman gebt hervor, daß die Lehrer-Internationale im weiten Ausmaß den emigrierten deutschen   Lehrern uni auch den eingekerkerten Lehrern Spaniens   und ihren Familienangehörigen beigestanden hat. ! Linkes Rheinufer: Räumunsssebiet Marschrichtung der deutschen   Wirtschaft: Kries | VILLA OASE W oder: DIE FALSCHEN BORGER Roman von Eugene Dablt W Berechtigte Uebertragung aus& dem Französischen von Bejot O Erster Teil. Helene i. In der Dämmerung war der Zug über die Grenze gefahren. Helene Lagorio wischte' die beschlagene Scheibe ab, an die sie ihre Stirn preßte. Sie sah die Lichter einer Stadt, die erleuchteten Fenster einer Fabrik und längs der Strecke, große, schil­lernde Wasserflächen. Jetzt bin ich also in Frankreich  ", dacht« sie. Sie warf einen Blick auf ihre Mitreisenden, zwei schäbig gekleidet« junge Burschen, deren Schwatzen und unaufhörliches Lachen sie reizten. Dann drückte sie sich in ihre Ecke, verschränkte die Hände über dem Mantel und verhielt sich ganz still. Sie wollte schlafen. Das Rattern des Wagens rüttelte sie wach, und zuweilen auch schlug ihr Kopf hart gegen die hölzern« Rücken, lehne. Sie lauschte auf das Rollen des Zuges, zählte im Rhythmus der Räder mit, bis ein Pfiff die Reih« der Zahlen zerriß. Sie las die franzö­ sischen   und italienischen Texte der Schilder. Und als es in dem Abteil nichts mehr gab, woran ihr Auge haften konnte, war sie wieder allein in ihren Erinnerungen. Sie ergriffen gleichsam Besitz von ihrem Geiste, wurden deutlicher, ließen die Linien eines Gesichts erkennen, die Geräusche einer Menschen­menge, die Konturen einer Stadt. Eine ver ­drängte die andere. Sie glichen Menschen in ihrem Geltungstriebe. Sie schloß die Augen, um sich zu sammeln. Ein schwarzer Dampfer, auf dessen Deck sie mit ihrer Familie untergebracht war, tauchte vor ihr auf. Sie waren auf der Rückreise nach Europa  , woher vor siebzehn Jahren ihr Vater nach Ka­ nada   ausgewandert war. 1913 war er gestorben. Ihre Mutter, eine Pelznäherin, hatte sich bald wieder verheiratet: mit Achill  « Demante, einem Landsmann. Sie hatte ein Mädchen von ihm ge­habt. Ihr Leben war elend gewesen, und eines Tages hatten sie beschlossen, nach Italien   zurück­zukehren. In Angrogna, Maminas Heimatsdorf, hat­ten sie ein Häuschen gemietet. Mamina, erschöpft durch Krankheit und Entbehrüngen, mußte sich bald niederlegen, um nie mehr aufzustehen. Kurz vor ihrem Ende hatte sie Helene das Geständnis gemacht: Du bist nicht meine Tochter, Helene. Du warst sechs Monate alt, als deine richtige Mutter davonlief. Lagorio hat mich geheiratet, und ich bin ihm nach Kanada   gefolgt." Solange sie in Angrogna wohnte, trug Helene jeden Morgen Blumen auf Mamina» Grab. Dann ging sie nach Hause, um für ihren Stiefvater, einen dürren, mundfaulen Mann, der in einer Ziegelei arbeitete, das Frühstück zu be­reiten. Wenn er kam, pflegte er ihr einen Kuß zu geben. Dabei stachen sie seine harten Bart­stoppeln, und seine Knochenfinger zerquetschten ihr fast die Schultern. Eines Abends hatte Achille Demante sich Über sie geworfen. Sie hatte gerade noch Zeit gehabt, in ihr Zimmer zu entkommen und die Türe hinter sich zu versckließen. Laura, ihre kleine Schwester, fest an sich drückend, hatte sie noch lange den Schritten des ruhelos auf- und ablaufenven Mannes gelauscht. Dann, eines Sonntags, nachdem er ihr ein hübsches Kleid zum Geschenk gemacht, hatte er sie zum Tanz geführt. Er hatte viel getrunken. Als sie heimkehrten, hatte er die kleine Laura, die vor dem Hause spielte, mit groben Worten davon­gejagt. Zum zweiten Male hatte Helene diese tierisch verzerrte Maske mit den glühenden Augen gesehen und war kurzerhand querfeldein geflohen. Lagorio hatte ihr ein Stück Land hinter­lassen, das sie zu Gelde zu machen beschloß. Ein Notar hatte an Lagorio» Heimatbehörde geschrie­ben, und damit hatte das Abenteuer begonnen, das sie von Achille Demonte befreien und in die Arm« Irma MongeS, ihrer wirklichen Mutter, führen sollte. Verwandte, die noch im Orte leb­ten, hatten Irmas Schwester unterrichtet. Zu ihr, nach Lausanne  , war Helene gefahren, und dort hatte sie ihre Mutter zum ersten Male gesehen. Nur eine kurze Woche lang. Am liebsten wäre sie ihr gleich nach Paris   gefolgt. Aber erst mußte Julien Monge einverstanden sein. Nach einer Weile, die sie endlos dünkte, hatte Irma ihr das entscheidende Telegramm geschickt. Und jetzt sollte bei ihrer Mutter ein glück­liches Leben für sie beginnen! Sie würde einen neuen, besseren Stiefvater finden. Irma hatte ihr sein Bild gezeigt und dabei gesagt:Du wirst ihn Onkel nennen".Onkel Julien", flüsterte sie vor sich hin. Er hatte versprochen, sie später zu adoptie­ren. Lächelnd formten ihre Lippen den Namen Helen« Monge. Sie buchstabierte ihn. Er flang wie schmei­chelnde Musik, aus der Zukunftsbilder erblühten. Bisher hatte sie nur Enttäuschungen erfahren und Kümmernisse, und von der Welt kannte sie nur ein paar traurige Kleinstädte und schmutzige Dörfer mit all ihrem Elend. Immer hatte sie auf die erlösende Minute gehofft. Neunzehn lange Jahre! Jetzt, endlich, war sie an der Reihe. Sie fühlte sich fähig, ihren Platz ebenso gut zu be­haupten, wie die Reichen. Sie war erwacht und voller Wünsche. Ein leiser Freudenschrei ent­fuhr ihr. Sie trat an das Fenster. Ein Windstoß traf ihr Gesicht, der Regen netzte ihre Stirn, aber beides störte sie nicht. Sie neigte sich hinaus und verzehrte das Land mit den Augen. Im Hinter­gründe funkelten hellere Lichter. Eins leuchtete, besonders strahlend, am rötlichen Horizont und ihm fuhr sie entgegen, hoffnungsvoll wie die Drei Weisen aus dem Morgenlande. Sie sah Eisenbahnwagen mit Verdecksitze» vorübergleiten, sah die Flammenschrift der Re­klamen über die Häuser laufen, die Lichterkcttcn langer. Straßenzüge. Ihre Reisegefährten schrien: Paname I" Sie neigte sich noch weiter hinaus. Der Wind zauste in ihrem Haar. Ein Hustenanfa» erschütterte ihren Körper. Der Zug fuhr langsamer. Sie ordnete ihre Frisur und nahm ihre Sachen auS dem Gepäck­netz: einen Handkoffer aus Wcidenrohr und eine Leinentasche, die noch aus Kanada   stammte. M Seitengang stauten sich die Reisenden. Sie schloß sich der Reihe an und blieb, mit von der Last all' mählich ertaubenden Armen, unbeweglich stehe». Sie wußte, ihre Mutter und Onkel Julien erwar­teten sie, und sie verging vor Ungeduld, sie z» sehen. Der Zug hielt. Sie stieg aus. Unmögluh, Irma in dem Gedränge zu finden. Sie setzte ihre Sachen ab, hob sich auf die Fußspitzen, reckte ihre» Hal», doch sie sah nur in fremde Gesichter. Plötz' lich warf sie mit einem Freudenruf dm Arm in die Höhe. Doch nein, das war nicht ihre Mut' ter. Man stieß sie. Enttäuschung und Unruhe schnürten ihr Herz zusammen. Sie bückte sich, um ihr Gepäck wieder aufzunehmen. In dem Auge»' blick trat ein dicker Mann an sie heran. Hallo, Irma", rief er, den Kopf wendend- hier ist dein Mädel". Onkel", stammelte Helene. Er küßte sie auf beide Wangen. .(Fortsetzung folgt.).