Seite 2 Tomstag, 31. August 1935 Nr. 203 faktoren mögen wissen, daß sich die Behandlung und Erfüllung dieser Forderungen nicht auf die lange Bank schieben lägt. Gleiches gilt für-bi« in der Regierungserklärung gegebene Zusage, daß im kommenden Winter für die am schwersten heimgesuchten Notstandsgebiete besondere Hilfsaktionen durchgeführt werden sol­len. Wir wissen, daß Fürsovgeminister N e L a s, genau so wie seine Borgänger von ehrlicher Hilfsbereitschaft und von bestem Willen erfüllt ist. An der Unterstützung seiner Bestrebungen durch die sozialistischen Parteien'wird«S nicht mangeln. Worauf eS diesmal wieder ankommen wird, das ist das BerantwortunySbewußtsein der bürgerlichen Koalitionspartner für eine weitere ruhige Entwicklung des Staates. Man muß an» gesichts ihrer bisherigen Haltung offen fragen: sehen all« verantwortlichen R e g i e r n n g s f a k t o r e n d e n vol» l e n E r st d e r B e r h ä l t n i s s e in den Krisenherd en'und beson­ders in den Jndustriefriedhö» fenander Grenze odernicht? Es wäre höchste Zeft, daß die außerordentlichen sozialen Aufgaben, die dort gestellt sind, wo die Gemeittden längst ausgeblutet und die seit Jah­ren arbeitslosen Menschen aller Reserven, auch der seelischen, entblößt dastehen, nicht mehr durch getrübte Parteibrillen, sondern mit dem Blick für das Wichste Staatsinteresse gesehen und ge­löst werden. Wir deutschen Sozialdemokraten haben in sechsjähriger schwerer Mitverantwor­tung in der Regierung den vielfachen Beweis ge­liefert, daß wir es verschmähen, die entsetzliche Not in den sudetendeutschen Gebieten zu politi­schen AgitationSzwecken auszuschraten. Dafür sollen die Worte der Mahnung und der War­nung, die wir an-der Schwelle dieses neuen Kn» senwintcrs aussprechen auch rechtzeitig gehört werden. Ein besonnenes Wort ist in diesem Zusam­menhänge auch an unsere Parteiöffentlichkeit zu richten. Der Parteivorstcmd war sich in seinen Beschlüssen auch soweit sie die kommunistischen Einheitsangebote behandelten in vollem Um­fange der schweren Lage unserer Arbeiterschaft bewußt. Die Berufung von Betriebsarbeitern in die höchsten Parleikorperschastchr hat noch eine Sicherheit mehr geschaffen, daß sich alle Segnun­gen der Massenseele getreu in» ihren Berhand- lungen abspiegeln. Gerade diese Betriebsarbei- ter haben in der Mittwoch-Sitzung.des Partei­vorstandes bewiesen, daß sie den beamteten und parlamentarischen Funktionären der Partei an tiefem Verantwortungsgefühl für die Zukunft der isudetendeukschen Arbeiterbewegung nicht nachstehen. Es gab nur eine Ueberzeugung: wir können und dürfen mit dies er herrlich en Partei, di« auch die schwersten Stürmeunerschüt-- kert üb e^r"st'a'n"d en Hirst," ü'st'ch t basardieren. In Deutschland ist di« So­zialdemokratie, einer Massenstimmung folgend, wegen untergeordneter Streitfragen aus der Reichsregierung gegangen. Unermeßliches Un­glück ist seither Wer tsie Arbeiterklasse und alle werktätigen Vollsschichten des Nachbarreiches hereingebrocheN. Millionen deutscher, auch kom­munistischer Proletarier würden heute ein Re­gime, wie daS Hermann Müllers, mit den Fin­gernägeln tief aus der Erde graben. Deshalb können auch wir die Realität eines noch so un­befriedigende« Einflusses in der Regierung nicht für daS Trugbild gemeinsamer Kundgebungen mit den Kommunisten eintauschen. Wir können du Linie unserer Politik der Verteidigung, der demokratischen Freiheiten am wenigsten in dein Augenblicke verlassen, da sievon der Tribüne des Moskauer Weltkongresses aus allen kommu­ nistischen Parteien zur Nachahmung empfohlen wurde. Politik zur Rettung der Demokratie kann aber nicht nur mit agitatorischen Künsten betrie­ben werden. Sie erfordert vor allem vpn ihren Trägern die Fähigkeft zur Verantwortung. So­lange diese bei der kommunistischen Führung nicht vorhanden ist, muß dieses Minus der sozialistc- schen Politik durch gesteigertes VerantwortungS-, bewußt sein jedes Sozialdemokraten- für. das Schicksal der Gesamtarbeiterklasse ausgewogen werden. Mit eiserner Geschlos­senheit und gestützt auf die So­lidarität der tschechischen Dru« derpartei wollen wir den kom- wenden schweren Aufgaben« nt gegengehn und si« durch unsere Unbezwinglichkeit bez w i n g e n. täre Regime" geschaffen hat, eines eisernen Cha­rakters für den Arbeiter, um zu widerstehen, wenn der Gegner mit dem Versprechen auf Arbeit lockt oder gar ein paar Schillinge dem Verräter Win­ken. Viele, wunderbar viele halten stand und blei­ben treu, und aus ihren ausgemergelten Gesich­tern leuchtet fanatisch ein brennendes Feuer: Rache" und^Kampf um.die Freiheit!" Zurück aus Berlin Eindrücke eines Engländers vom Strafrechtskongreß Wir haben gestern berichtet,' wie die schwedW Genossin.Branting bei ihrer Heimkehr vom Berliner Juristenkongreß ihre Erfahrungen geäußert hat. Heute siegt ein-^Interview des ai l ytze« rald" mit dem Londoner Rechtsanwalt G. H. G. Bing vor. der gleichfalls an diesem Kongreß teil« genommen hat. Immer wieder, so sagt der Engländer, wurde» wir pon.den deutschen Justizbehörden aufgefordert, uns doch von der totalen Unrichtigkeitaus- ländischer Presseber i ch t e über'di­deutschen'Rechtszustände' zu- überzeugen. Endlich wurde uns das Moabiter Gefängnis geöffnet.(& ist das Untersuchungsgefängnis, wohlgemerkt, weder das Columbiahaus der Gestapo , noch«in Konzen­trationslager, noch«ine Strafanstalt. Die Red.) Dort aber bekamen wir trotz aller Bitten nicht die Akten zu scheu, um uns ein Bild machen zu können, warum die Leute sitzen. Es wurden alle unsere Ersuchen, mit den Gefangenen oder selbst ihre« Wächtern reden zu können, abgelehnt. Die Be­sichtigung ging in raschem Tempo, Immerhin habe ich deutlich genug geschen, daß die Gefangenen un- glücklich, ängstlich und e rs ch r e di aussahcn. Den uns als Thälmann bezeichnete« Gefangenen,, der allein unter Bewachung in einem Hof turnte, haben wir nur einen Augenblick vo« 'einem Stockwerkfenster aus sehen können. Spre­chen durften wir nichtm i t i h m. So kann ich nur sagen: Ich war als bevorrech­teter ausländischer Gast und Kongreffist in Deutsch­ land aber ich habe mir kein Bild auf Grund eigener Erkundigung von der Lage der Gefan­genen und von der Rechtmäßigkeit ihrer Haft mache« können p darum kann ich auch den Wunsch des Reicht- justizministers, den Darstellungen der Auslands­presse entgegenzutreten, nicht erfüllen. Als auf dem Kongreß vorgeschlagen wurde, de« nächsten in.fünf Jahren in R o m abzuhalten,, erklär­ten sich die Engländer, Amerikaner und andere Aus­länder dagegen, und zwar mit der Begründung, der 8«tabstand sei zu groß, um jetzt schon den Ort des nächsten Kongresses zu bestimmen. Dar war natürlich wieder so eine international« Höflichkeit, die man sogar einer derartigen Gesellschaft schuldig zu sein glaubte.,.......... Abg. Didor verurteilt. Dor einem Pressesenat des Kreisgerichtes in Bratisiava hatte sich gestern der Abgeordnete der slowakischen Bolkspartei Karl Sidor als verantwortlicher Redakteur des.Slo- Vak" wegen der nach der Pribina-Feier in Neutra erschienenen Artikel zu verantworten. Sidor würde wegen Störung des allgemeinen Friedeng und Aufreizung zum Haß gegen eine, andere Na­tion schuldig erkannt und zu drei Wochen Siääts- gefängnis verurteilt. Staatsanwalt und Angc- llagter erbaten sich eine dreitägige Bedenkzeit. Der Verhandlung wohnten unter Führung Hlin« kaS fast alle Senatoren und Abgeordneten der Partei bei. Schuschniggs Arbeiter schlafen auf nacktem Stroh Fahrt durch das vernichtete Industriegebiet von Wiener-Neustadt Ein österreichischer Genosse, der im Aus­land lebt und eben von einer Urlaubsreise in seine frühere Heimelt zurückgekehrt ist, stellt uns diesen Bericht zur Verfügung, der mit er­schütternder Klarheit das vielgerühmteAuf­bauwerk" des-österreichischen FasciSmuS schildert. Eine Urlaubsreise nach Oesterreich ! Man freut sich, nach Jahren wieder einmal daS herr­liche Land mit seinen Bergen und Seen zu sehen. Freudig erwartet man die Ankunft des Zuges in Wien , wie in di« alte Heimat will man einziehen und die Brüder von damals begrüßen. Da stehen sie und warten, die treuen Genossen, die uns ein­geladen haben. Doch ernst sind ihre Gesichter und nur ein mattes Lächeln der Wiedersehensfteude spiegelt sich schüchtern darauf. Ein still geflüster- tesFreundschaft"! begrüßt uns und unsere Augen weiten sich und sehen mit Staunen das neue" Wien , das gleichsam erstarrt und ausge­storben uns ernst entgegenblickt. Wir wenden uns den Bergen entgegen, hin­aus aus dieser sttllgewordenen Weltstadt und fah­ren mit der Südbahn auf den Semmering . Doch das Schweigen begleitet uns. Stumm ragen die Fabriksschlote in die Lust, kein einzig«! sendet Rauch aus und die dazu gehörigen Fabriken find dem Verfall geweiht. Da ragt der Rosenhügel- Sender in di« Lust, der täglich der Welt verkündet, wie die Wirtschaft aufwärts geht und die Arbeits­losigkeit abnimmt. Die Wienerberger Ziegelwerke liegen umheimlich still und ruhig da, kein Arbeiter ist dort beschäftigt. Jeden Sonntag konnte früher Bürgermeister Seitz einen neuen Gemeindebau dem Gebrauch übergeben. Da war noch Arbest und Leben hier. Jetzt stehen die jungen Burschen un» tättg herum oder sie spielen Karten oderan- mäuerln", oderKopf und Adler" in der Sonne. Magere,-schlecht gekleidete Gestalten sind es. Sind doch am' 1. Full durch das neue SMawersiche- rungS-Gesetz alle Burschen bis 25 Jahre ausge­steuert worden. Da mußte ja die Arbeitslosenzif­fer heruntergehen! Doch dort im Industrie-Zen­trum, wie sieht es da aus? LeoberSdorf , die alle Maschinen-Fabrik ist fast gänzlich stillgelegt, mit ihr die Böhler Werke. Nur Hirtenberg arbeitet und liefert Munition für Italien . Blumau , Felixdorf , alles ohne Leben. Und Wiener-Neustadt !' Die älteste Lokomotiv -Fabrik Oesterreichs erzeugte dort ftüher für das In, und Ausland gesuchte Fabrikate, die Daimler-Werke beschäfttgten 2 bis 3000 Arbeiter, die Flugzeugfcchrik, die Radiato- ren- Fabrik waren vollbeschäftigt und gar erst Wöllersdorf war ein« Stadt für sich mit 10.000 Arbeitern, auch Tschechen und Slowaken und Ru­mänen. Wohin ist das alles gekommen? Wir be­suchen die Lokomotiv -Fabrik. Da gehen ja Arbei­ter hinein? Ja sie montieren die Maschinen ab, die ein Interessent billig erworben ins Ausland befördert. Die Daimler-Werke, erst mit der Flug­zeug-Fabrik verbunden, wurden nun nach Steyr verlegt. Eine kleine Anzahl Arbeiter konnte dort eingestellt werden, die anderen blieben zurück arbeitslos. Von hier sind die stolzen Kämpfer des Jän- ner-Streikes im Jahre 1818 ausgezogen, um dem Morden ein Ende zu machen, sie demonstrierten für den Abbruch des Krieges, sie verlangten mehr Brot für ihre hungernden Kinder. Damals wur­den sie von bosnischem Militär wieder zurückge­jagt in die Munitions-Werkstätten, aber im No - vomber 1918 haben sie doch gesiegt und in Wie­ ner-Neustadt eine Hochburg des Sozialismus er­richtet. Siegreich hat sie jahrelang dem Angriff des Fascismus stand gehalten. Zehntausende ju­belnde Schutzbündler und Arbeiter aus dem Indu­striegebiet haben am 7. Oktober 1928 dem Heim­wehraufmarsch zum Trotz fteudig ihr Bekenntnis zum Sozialismus abgelegt. Jetzt kämpfen sie den zermürbenden Kampf gegen die täglich wachsende Not, gegen den Hunger, die steigende Arbeitslosig- keit. Jeden Tag zu wenig zu essen. Bon einer Kürzung zur andern immer knapper einteilen. Zum Schluß langt es kaum noch auf Brot und schwarzen Kaffee. Aller Hausrat ist schon versetzt, zuletzt auch noch die Betten. Sie schlafen auf Stroh. Nicht mehr einzelne Familien, sondern viele hunderte in elenden Holzbaracken. Wenn sie eine alte Decke geschenkt bekommen, ist daS ein köstlicher Schatz, bis er auch ins Leihhaus wan­dert. Die Versatzscheine können nie ausgelöst, die Miete nicht bezahlt werden. Wenn einer noch ein Fahrrad hat, ist er ein Krösus, denn er kann noch .hr di« weiter« llmgegend fahren, um Beeren und zu brisiEM-Poch: einen Handkarren hat, wird beneidet. Er kann aus dem Walde Holz holen, um es weiter zu ver­kaufen und Brennmaterial für den Winter zu ver­sorgen. Er kann den Wagen seinem Nachbar nicht borgen, weil er ihn nicht mehr ersetzen kann und seine Lebenshaltung um eine Stufe tiefer sinkt, wenn er ihn einbüßt. Im Sommer kann man auch Gemüse« und Obst-Abfälle am Markt sam- .meln und hin und wieder aus einem Garten etwas Kohl oder Salat geschenkt bekommen. Aber der Winter! Wie viele bleiben ohne warme Mahlzeit und ohne warme Stube! Trotz Sammlungen und Winterhilfe". So stirbt der swlze Arbeiter dieses Industrie-Viertels langsam den Hungertod. Es bedarf in dieser Hungergegend, die dasautori­VILLA OASE oder: DIE FALSCHEN BORGER Roman von Eugene Dablt Berechtigte Uebertragung aus dem Französischen von Bejot Sie setzte sich ans Fenster und zog den Vor­hang auf. Vor sich sah sie ein« Reihe grauer Häu­ser. Frauen, über das Gitter der Küchentreppe ge­beugt, schüttelten Decken aus. Nach zehn gab es nicht mehr viel zu sehen. Ein Kater lief in einer Dachrinne hin. Wolken und Rauch verfinsterten den Himmel. Mitunter öffnete sie auch das Fen­ster. Aber dann blies der Wind, und sie zog den Kof wieder zurück.-Durch die Scheiben sah sie nur bekannte Bilder, die sie nicht mehr interessierten. Sie wünschte den Abend herbei mit den brennen­den Lichtern und den Schattenspielen hinter den Vorhängen. Wenn sie lang« saß, befielen sie Schmerzen. Sie stand auf, ging hin und her und kehrte zu ihrem Platz zurück. Es war die einzige Stelle, die noch etwas Abwechslung bot. Sie konnte, die Arme über der Brust gekreuzt, zum Himmel star­ren und sich vergessen. Der Aufschrei einer Sirene gellte. Sie warf einen Blick auf die Wanduhr: zwölf. Die Portiersfrau, der Julien den Auftrag gegeben hatte, die täglichen Besorgungen zu erle­digen. mußte jeden Augenblick kommen. Sie war­tete im Flur, und wenn es endlich klopfte, war sie froh, die Türe öffnen zu können. Die Mutter Virot legte ihre Pakete aus der Hand. Dann klatschte sie über die Mieter, die Mädchen, die Kaufleute des Viertels, über ihre enge Welt, von der Helene so gut wie nichts wußte. Widerwillig kochte sie sich ihr Essen. Es war ihr gleich, was man ihr brachte: diese Dinge hat­ten für sie keine Bedeutung. Sie hatte versprochen, viel zu essen. Wer ssie konnte das. Versprechen ebenso wenig halten wie das, eine bestimmte Me­dizin zu nehmen. Sie ein paar Bissen, tat sich Gewalt an, doch der Ekel zwang sie, das meiste unberührt zu lassen. Gelegentlich warf sie ein paar Brocken Fleisch durchs Fenster und beobachtete, wie sich die Katzen darum balgten. Zu ihrer eige­nen Beruhigung sagte sie sich jeden Tag aufs neue:Ich war ja nie eine starke Esserin, selbst als ich arbeitete." Im übrigen waren ihr die Mahlzeiten als Unterbrechung angenehm. Sie erinnerten sie an die Spielküche, die sie als Kind beglückt hatte. Nur hielt das Vergnügen nicht lange vor» und es begann ein trüber, endloser Nachmittag. In der ersten Zeit nähte sie. Mit großer Ge­duld hatte sie sich aus einem alten Kleid Irmas ein Abendkleid zurechtgeschneidert. Das war eine Arbest, bei der sie den Gedanken, freien Lauf las­sen konnte. Trotzdem hatte sie bald genug und zog vor, zu lesen. Die Bibliothek bestand aus Bänden, die Ju­lien gelegentlich kaufte. Die einen» weil sie dick, die anderen» weil sie reich vergoldet waren. In einer Ecke hatte sie Romane aufgestöbert, meistens Liebesromane, aber auch Kriminalgeschichten aus dem dunklen Paris . Eine triebhafte Neugier er­hitzte ihr Blut wie ein plötzliches Fieber und drängte sie, die Seiten schnell umzublättern, bis sie die Stellen fand, an denen Wollust und geile Wünsche geschildert wurden. Wenn sie zu Ende gelesen hatte, fand ihre aufgepeitschte Phantasie noch lange keine Ruhe. Jetzt erst ward ihr der Sinn gewisser Worte klar, die sie von Julien und seinen Freunden aufgeschnappt oder auf der Straße gehört hatte. Bor sich sechst errötend, er­innert« sie sich, daß sie zuweilen vor irgend einer Schmiererei stehen geblieben war, die sie an einer Hauswand, auf einem Plakat entdeckt hatte, und deren schmutziger-Sinn sich ihr erst jetzt offen­barte. Ob man nun bei Achille Demante war oder in Paris : dem Laster konnte man nicht entgehen. Zuletzt mußt: sie es noch als ein Glück schätzen, allein hier oben leben zu können. Mitunter kam Julien auf einen Sprung herauf. Ueberraschte er sie auf dem Diwan, ein Buch in der Hand, rief er ihr zu:Gut so, ruh dich nur aus." Einmal schrie er sie an, weil sie die Küche gescheuert hatte. Er wünschte, sagte er, daß sie gesund sei, wenn Irma am Monatsende nach Hause käme. Hast du gehustet? Brav die Medizin ge­nommen?" Sie zeigte ihm die Flasche, von der sie jeden Morgen ein paar Eßlöffel voll wegschüttete'. Er blieb nie lange. Er lief höchstens einmal durch alle Zimmer, nahm dies oder jenes mit, drückte den Hut auf den Kopf, drehte sich an der Türe um und brummte:Ich werde also der Mut­ter berichten, daß es vorwärts geht. Das wir- sie freuen. Du kennst sie ja. Sorgen kann sie nicht brauchen." Und dann rannte er die Treppe hinunter und rief:Wenn der Laden halbwegs still ist, komme ich morgen vielleicht mit Irma," Eine Weile noch hörte sie seine Schritte. Dann war wieder jene bedrückende Stille. Ju­liens Reden und Versprechungen gingen ihr im Kopf herum, und sie sah ihn vor sich, wie er mst dem Handrücken den Staub von einem Möbelstück wischte, mit dem Schlüsselbund Kirrte, behutsam einen Schrank aufschloß. Sollte sie nun traurig sein oder froh, daß er gegangen war? Onkel war ein Brummbär und oft nicht leicht zufriedenzu­stellens aber in seiner Nähe fand man wenigstens nicht die Zeit, über sich zu grübeln. Und doch: je länger sie allein war, desto deutlicher empfand sie den Abstand, der sie trennte. Jedesmal, wenn Julien kam, die Hände in den Taschen, den schwe-1 ren Leib vorgeschoben, ütfiel sie Schwäche, und sie kroch instinktiv, wie vor einer brutalen Gewalt, in sich zusammen. Gedanken drängten sich ihr auf. Ihre. Eltern weigerten sich, sie ins Hotel mitzunehmen und sie in ihre Geschäfte einzuweihen. Weshalb diese Ge­heimnistuerei, deren Hintergründe sie zu ahnen begann? Sie hielten sie wohl für zu jung und un­erfahren? Vielleicht auch für zu dumm? Sie über« trieben auch die Schwere ihrer Krankheit. Sie hätte schon Dienste leisten können. Wer Julie" wollte nichts davon hören.Im Montbert ist sei" Platz für ein junges Mädchen." Und Irma hatte hinzugefügt:Ja, wenn es uns allein gehörte. Aber wir haben Mitbesitzer. Später vielleicht- Vorläufig erhole dich." Es kam eine Stunde, da ihre Glieder schwer wie Blei wurden, die Rückenschmerzen nicht mehr nachließen, und die Bewegungslosigkeit sie ermü­dete. Ihr Husten, wie ein Feuer, das lange fl** schwelt hat, verbrannte ihr die Brust. Und wenn der Abend kam, überfielen stk traurige Gedanken. Eine an Verzweiflung gre"' zende Schwäche ließ sie zurückblicken in die Bec- gangenheit. Sie sah sich, gut eingemummt, im Schn^ umhertollen» Mamina rief nach ihr. Sie musst? ihr in der Küche helfen, mußte fegen, aufwische"- Sie tat es wie im Spiel. Abends saß Lagorio m" den Freunden am Feuer und würfelle. T'£_' c Zeit kam nie wieder. Und der Zukunft war nicht mehr so sicher wie nach ihrer Ankunft i" Paris . Das einzige Glück, das sie jetzt kannte, wat- zweimal wöchentlich zu den Arenoud zu gehe"- Sie wattete, bis es dunkel wurde, den" Berthe kam erst um sechs Uhr von der Arbeit zu» rück. Und dann erlebte sie das Familienglü^- von dem sie tagsüber geträumt hgtte. Erst er­schien Etienne, dann Ernest. Die Hängelampe warf einen goldgelben Schein auf den Tisch- Beim Essen erzählte jeder, was er gerade wollt?- Helene hörte zu.. Sie selbst hatte ja nichts 3" sagen. Und beim Anhören der anderen fühlte st- sich in das arbeitsame Leben von einst versetzt- Etienne mit seiner Begeisterung, seiner Aufleh- nyng, seinen Plänen fesselte sie besonders. Wenn et sprach, sah er sie unverwandt an. Ihr allein schie­nen seine Worte zu gelten. .(Fortsetzung folgt.)