Mittwoch, II. September 1935
15. Jahrgang
Einzelpreis 70 Henn (huchll.Blich S Haller Porto)
ZENTRALORGAN DER DEUTSCHEN SOZIALDEMOKRATISCHEN ARBEITERPARTEI IN PER TSCHECHOSLOWAKISCHEN REPUBLIK ERSCHEINT MIT AUSNAHME DES MONTAG TÄGLICH FRÜH. Redaktion und Verwaltung PRAG   xii.,fochova a. Telefon 0077. HERAUSGEBER) SIEGFRIED TAUB  , CHEFREDAKTEUR  ) WILHELM NIESSNER, VERANTWORTLICHER REDAKTEUR) DR. EMIL STRAUSS, PRAG  ,
Fascistischer Generalappell für die nächsten Tage anberaumt Rom.(Stefan!.) Mussolini   hat ungeordnet, daß in der nächsten Zeit in Italien   und in den Kolonien ein Generalappell sämtlicher Gliederungen-er fascistischen Partei stattfinde. An-em hiezu bestimmten Tag wird durch Glockengeläute, Sirenengeheul und Trommelwir­bel in den Städten und in den Dörfern ein Zei­chen gegeben werden, auf das hin alle Mitglied« fascistischer Organisationen ihre Uniform anlegcn «nd in den Sitzen ihr« Organisationen oder in eigens bestmmten Lokalitäten zusammenkommen werde«. Die Miliz wird sich in den Kasernen ver­sammeln. Die zeitweise oder dauernd im Auslande amgesiedelten Mitglieder werden sich dem Sekretär ihr« Organisation telegraphisch melden. Die so Bersammelten verbleiben am Ort« der Zusammenkunft bis Mitternacht, falls kein anderer Befehl er­lassen wird. Dir Mitglied« der Ballila, der Jugendorganisation, v«vleiben am Orte des Treffens bis 9 Uhr abends. Weitere Be­fehle werden erst an Ort und Stelle«folgen. Die Ankündigung des Generalappells wird von der gesamten römischen Presse in allergröß­ter Aufmachung veröffentlicht. Die Blätter be­zeichnen diese Maßnahme übereinstimmend als die Antwort auf di« antifascistischen und frei­maurerischen Manöver der letzten Tage. Lavoro Fascista  " bezeichnet die Verord­nung als besten und wirksamen Kommentar zur augenblicklichen internationalen Lage. Mussolini  habe sein« Vertreter nach Genf   entsandt, um kei­nen der normalen Wege, die abessinische Frag« zu erledigen, unversucht zu lassen. In dem Augenblicke aber, wo man jedoch hieraus einen Vorwand konstruiere, gegen den Fascismus und gegen die historischen Rechte der italienischen Nation zu demonstrieren, muffe an die einfache und klassische Formel Mussolinis erinnert wer­den: Mit Genf  , ohne Genf   oder gegen Genf  .
Englisch  -französische Besprechungen Genf  . Der französische   Ministerpräsident Laval empfing in seinem Hotel den britischen Außenminister Sir Samuel Hoare   einige Stun­den nach dessen Ankunft in Genf  . Hoare   befand sich in Begleitung EdenS. Die Unterredung ist nach eineinhalbstündi- g« Dau« mittags«nt«brochen worden, um in den Abendstunden fortgesetzt zu werden. I« Genf  « politischen Kreisen misst man die­sem eingehend«» Gedankenaustausch eine große Bedeutung für die weitere englisch  -französische Zu­sammenarbeit bei. Die Niederlage auch im Regierungslager zugegeben Warschau  . Der Ausgang der sonntägigen Sejmwahlen in Polen   wird selbst von einzelnen der Regierung nahestehenden Presseorganen als ein Mißerfolg der Regierung und des Regierungs­lagers bezeichnet. Die gesamte oppositionelle Presse schreibt von einer empfindlichen Niederlage der Regierung bei den Wahlen. Von den regie­rungsfreundlichen Blättern ist mit dem Wahlaus­gang der Krakauer.Kurjer Codzienny" und der Warschauer  Czas  " unzufrieden.Kurjer Cod­zienny" schreibt, daß die überaus schwache Wahl­beteiligung in den Städten, insbesondere in War­ schau   und Lodz   sowie in den westlichen Wahlkrei­sen einen dunklen Schatten auf das Wahlresultat werfen.Czas  " konstatiert, daß die Wahlabstinenz von über 50 Prozent der Wahl­berechtigten ein Mißerfolg der Regierungspartei sei und schreibt die Schuld an diesem Wahlaus­gang der Leitung des Regicrungsblocks zu, welche keinen engeren Kontakt mit weiteren Bevölke­rungsschichten herzustellen vermochte. Der sozialistischeR o b o t n i k" konstatiert, daß das Experiment mit der neuen Wahlordnung gänzlich mißlungen sei. Der national- demokratischeDziennik Rar." konstatiert, daß das Resultat der Sonntagswahlen das gänzliche Verschwinden des Einflusses des Regierungsblocks unter der Bevölkerung erkennen lasse.
Die Lase der arbeitenden Schichten schlechthin unerträglich jährlich Lohnveriust Erschütternde Darlegungen des Fürsorgeministers Genossen Netas im Ausschuß Die Hälfte der Bevölkerung erreicht nicht dar Existenzminimum
Prag  . Für Dienstag war der sozialpolitische Ausschuh des Abgeord- netenhauses von seinem Vorsitzende« Genossen Dr. Meissner zu einer Aus­sprache über die Wirtschaftskrise und die Lage der arbeitende» Schichten einberufen worden. Fürsorgeminister Genosse Zng. ReLas erstattete, nachdem Dubickh dem verstorbenen Dr. Lev Winter   eine« herzlichen Nachruf gewidmet hat­te, ei« erschöpfendes Referat über die Bemühungen des Ministeriums im Kampf gegen die Krise und ihre sozialen Folgeerscheinungen. Die Details, die er über das Arbeitseinkommen der breiten Bevölkerungsschichten an­führte, sind obschon im einzelnen ja bekannt in ihrer Zusammenfas­sung einfach furchtbar und mühten alle betettigten Faktoren auf­peitschen, das Menschenmöglichste zu unternehmen, um nach den Plane» des Fürsorgeministeriums durch Beschaffung von ausreichenden Arbeits­gelegenheiten und Erhöhung der Kaufkraft hier Rettung zu bringen. Genoffe Zng. Neias führte u. a. aus;
Produktionsumfang unbefriedigend Die Besserung der wirtschaftlichen Situation und damit der Arbeitslosigkeit schreitet bei uns viel langsamer fort als in der Mehrzahl der von der Krise betroffenen Staaten. Abgesehen von I a p a n, wo die industrielle Produktion den Umfang von 1928 schon um mehr als 50% übertroffen hat, haben nicht nur die Staa­ten mit entwerteter Währung den Poduktions- umfang von 1928 überschritten(die skandinavischen Staaten um 1530%, England um 11%), sondern auch die Staaten des sogenannten Goldblocks wei­sen gegenüber 1928 eine Höhere Indexziffer der industriellen Produktion aus. nämlich 70 und 80% von 1928, während die Tschechoslowakei   erst auf den Stand von 70% der Produktion von 1928 angelangt ist. ES zeigt sich als» immer klarer, daß di« Wirt- schaftSkrise bei unS eine Depression im Gefolge hat, auS der man auf dem bisherigen Weg« und mit den biSH«ig«n Mittel« nicht h«auskommt. Wenn wir nicht den ganzen Staat in einen da«, ernden Zustand der Berarmmrg treiben wollen, müssen wir andere«nd durchgrei­fendere Wege gehen. Die außerordentliche Zeit erf»rd«t««bedingt außerordentlich« Maß­nahmen und außerordentliche Opfer! Die Zahl der Arbeitslosen finkt nicht so, wie«S daS wirtschaftliche und finanzielle Interesse deS Staates erfordern würde«nd wie wir eS beim Vergleich mit de» anderen Staaten erwarten könnte». Wenn wir nicht die militärische Dienstzeit ver­längert hätten, so hätten wir Heuer noch um einige zehntausende Arbeitslose mehr. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt wird auch dadurch verschlechtert, daß der Arbeitsmarkt die,starken Nach­krieg sjahrgänge aufnehmen muß, die jetzt mit 16 und 17 Jahren in die Arbeit kommen. Außerdem scheißet die Rationalisie­rung ständig neue und neue Lohnarbeiter aus. Ungünstig wirkt sich ferner auch der Umstand aus, daß-die Auswanderung so gut wie völlig unterbunden ist. Daß überdies unsere Arbeitslosenstatistik, d. h. die Ziffern über die Zahl der nicht untergebrachten Bewerber um Arbeit, die Zahl der Arbeitslosen nicht richtig erfaßt, geht daraus hervor, daß von Jänner bis Ende Juni 1935 die Zahl der nicht­untergebrachten Arbeitswerber nur um 212.446 Personen sank, während die Zahl der Versicherten bei allen Krankenkassen in derselben Zeit von 2,269.776 auf 2,692.030, also um 322.254 Perso­nen stieg. Daraus geht hervor, daß Zehntausende Arbeit, erhalten, die n i ch t in den Verzeichnissen der Arbeitsvermittlungsanstalten enthalten sind. Auch wenn wir Heuer, zu Ende Tugust die n i e d r i g st e Arbeitslosenziffer zu diesem Zeit­punkt seit 1932 habens müssen wir uns doch die Tat­sache vor Augen halten, daß es uns mit den bis­herigen Mitteln seit Oktober 1932 nicht gelungen ist, die Arbeitslosenziffer unter 500.000 zu senken, neue Wege nötig Das muß für uns ein Ansporn sein, zur radi­kaleren Herabsetzung der Arbeitslosenziffer und zur wirtschaftlichen Belebung in größerem Maß- , stab als bisher alle zweckdienlichen Mittel anzuwen­
den, namentlich jene, die sich i m Auslande gut bewährt haben. Wir missen unS vor Augen halten, daß di« schleppende Wirtschaftskrise in beträchtliche« Maße,auch durch unsere eigene« Ber- haltnrfse verursacht wurde. Die Erfah- rulngen zeig«, daß der gegenseitige Wirtschafts­kampf der Staate« untereinander, die Zoll- und
Eines der Haupthindernisse der Wirtschaftsbelebung sind bei uns die Lohn- und GehaltsverhAtnisse, die heute die Kaufkraft eines großen Tei­les der Bevölkerung untergraben. Die breiten Massen der Angestellten sind in ihrer Gesamtheit der größte Konsument auf dem heimischen Markt und sie können in einer Zeit, wo unserem Export oft unüberwindliche Schwierigkeiten erwachsen, wirksam beitragen zur Belebung unserer Wirtschaft. Statt dessen waren wir Zeugen, daß es zur Herabsetzung der Löhne und Gehälter nicht nur in jenen Betrieben kam. die ihr« Produktion verringern mußten, sondern auch dort, wo in den letzten Jahren eine merkliche Pro­duktionsbelebung zu verzeichnen ist. Wie rapid die Löhne bei«ns gefallen find, zeigt rin Vergleich der Berstcherten in der Zen- IralsozialversicherungSanstall vom Juni 1930 und vom Juni 1935. Im Jahre 1930 waren 39.17 Prozent aller Versicherten in den drei niedrigsten Klaffen(bis zu 14. K£ täglich). im Juni 1935 dagegen 53.35 Pro­zent. In den drei höchsten Lohnklassen waren im Juni 1930 24.08 Prozent, im Juni 1935 nur 14.10 Prozent aller Versicherten. Nicht anders ist es bei der Allgemeinen Pen» sionsanstalt. Ende 1929 waren von 213.803 männ­lichen Versicherten in den drei höchsten Klassen 31.255. Ende 1934 von 227.482 nur 27.473. Bei den Frauen ist das Verhältnis noch schlechter. Ins­gesamt haben die Jahresbezüg« aller 297.719 Pen­sionsversicherten Ende 1929 4720 Millionen betra- aen. Ende 1934 bei einem um 19.020 höheren Ber- sicherungsstand nur 4512 Millionen. Dabei ist zu bemerken, daß eine Gehaltsherabsetzung bis auf 42.000 sich in dieser Statistik nicht wider­spiegelt. Die Beispiele für niedrige Löhne, die der Minister anführte, müssen di­rekt als««faßbar bezeichnet werden. Früh« erhielten z. B. die Glasarbeiter bei der Herstellung von Gablonzer Warr Stunden­löhne von 5 bis 7 Kd, heute Kc 1.50. Ein Heim­arbeiter in der Glasbranchc verdient bei 14stün- diger Arbeitszeit in der Woche 30 bis höchstens 40 KL. Junge Arbeiterinnen erhalten in der Glasschleiferei 50 bis höchstens 70 Heller pro Stunde. Auch bei den Bauarbeiter« erreichen dir Stnndrnlöhne in einzelnen Gebiete« nur 1.25 KL oder gar nur 1 KL, bei Erdarieitrn
Tevifrnmafinahnven etc. die Folgen brr Krise ungewöhnlich verschärft haben. Tie überspamrte Schutzpolitik«nd die wirtschaftliche Absperrung habe» weder d« eigene« Industrie und Landwirtschaft der betreffenden Staaten, noch den Konsumenten genützt, sondern sie haben Staat und Bevölkerung verarmt und neben andern Ur­sachen zu Kredit- und Währungs­schwierigkeiten und anderen unheilvolle« wirtschaftliche« Konsequenzen geführt. Bei diesem Stand der Weltwirtschaft- und Handelspolitik würden uns alle Maßnahmen nichts helfen oder bald durch Gegenmaßnahmen kompensiert sein, die unser Staat zum Schutze der heimischen Produktion, der landwirtschaftlichen wie der indu­striellen oder zur Erleichterung des Exportes er­greift oder ergreifen würde, zum Beispiel im Wege einer Devalvation der. Währung oder mit Hilfe von Exportkrediten. Um di« Krise völlig zu überwinden, müssen wir unS von dem bisherigen Protek» tioniSmnS und MonopoliSmuS abwenden und mit allen Mitteln auf dir Brr- mrhrung der Arbeitsgelegenheiten hin arbeiten, die ZinSfußherabsetzung erleichtern«nd durch inter- natwnale Kreditmaßnahmen für Industrie«nd Landwirtschaft den nötigen billige« Kredit ver­schaffen!
wird für die schwere Arbeit 75 KL wöchentlich gezahlt. Bei der Aeberprüfung der Rechnungen für Notstandsarbeiten kam daS Ministerium dar­auf, daß bei achtstündiger Arbeitszeit den Erd­arbeitenr nur 6 oder 8 KL täglich gezahlt wer­den. Auch in der Metallindustrie find die Löhne sehr niedrig; es gibt Fälle, daß ein qualifizierter Metallarbeiter nur KL 1.50 pro Sunde erthältl In den Ziegeleien ist ein derartiger Stundenlohn fast allgemein üblich. Bon 33.533 Heimarbeitern, die bei der Rei­chenberger BezirkSkrankenkaffe verfichert find, er­reichen 15.626 nicht einmal einen Monatslohn von 120 KL und dabei arbeite« sic mit ihren Fa­milien. Auf dem Böhm.-mährischen Höhenzug verdient eine ganze Weberfamilie bei 14stündiger Arbeitszeit nicht mehr als 160 KL monatlich. Was für Milliardenver- lüfte für den Konsum durch die sin­kenden Lohnsummen entstehen, ist daraus ersichtlich, dast die Zahl der bei der ZSBA Versicherten seit 1929 von 2,505.537 auf 1,877.994, der Durch, schnittsverdienst von 5979 KL auf 5097 KL zurückgegangen ist. Die versicherten Löhne betrugen im Jahre 1929 14 Milliarden 982 Mil- lionen, im Jahre 1934 nur noch 9 Mil- liarden 573 Mwionen. Nur an Löhnen der Versicherten der ZSVA betrügt der Rückgang gegenüber 1929 fünfeinhalb Milliarden KL pro Zahr! Neben der Glasindustrie ist die Textil- industrie am meisten betroffen, die angesichts des Exportrückganges in den letzten Jahren zum überwiegenden Teil auf den heimischen Markt an­gewiesen ist. Dabei sind die Löhne in den Betrieben, die am Kollektivvertrag beteiligt sind, mit 120 KL wöchentlich noch bedeutend höher, als in den ver­tragslosen Betrieben, wo 40 KL wöchentlich gezahlt werden. Rationalisierung Auch die Rationalisierung verur­sacht noch weitere Entlassungen von Lohnarbeitern und eine ständige Verschlechterung der Berhält- nifle auf dem Arbeitsmarkt. Die Berichte der Gewerbeinspektoren führen für 1934 weitere krasse Beispiele an, vor allem aus
Schandlöhne bewirken Mllllardenverluste des Konsums