Dienstag, 17. September 1935

Nr. 217

15. Jahrgang

ElnzsW* 70 Han« (ohachlteMdt 5 Holter Mo| nji»

IENTRALORGAN DER DEUTSCHEM SOZIALDEMOKRATISCHEN ARBEITERPARTEI IN DER TSCHECHOSLOWAKISCHEN REPUBLIK ERSCHEINT MIT AUSNAHME DIS MONTAG TÄGLICH FRÜH, reo Aktion und Verwaltung nag»ufochova«. Telefon atm. HERAUSGEBERi SIEGFRIED TAUB. CHEFREDAKTEUR ! WILHELM NIESSNER. VERANTWORTLICHER REDAKTEURi DR. EMIL STRAUSS, FRAG.

Scharfe Antwort aus Moskau

Nürnberg im Zeichen des Terrors Völlige Entrechtung der Juden Staatsangehörige ohne Rechte Offene Drohungen Hitlers gegen Litauen

Nürnberg . Irr der Neichstagssihung am Sonntag abends wurden drei Gesetze natürlich ohne Debatte im Laufe von wenigen Minute« ange­nommen, die die Hakenkreuzflagge zur alleinige« Reichsflagge machen, eine alle Erwartungen«och übertreffende scharfe Iudengefetzgebung einführe« und schließlich die Reichsangehörigen in vollwertige Reichsbürg^r und in minderwertige^Staatsangehörige" einteile«. Vorher hielt Hitler eine kurze Rede, in der er scharfe Angriffe gegen Litauen wegen der Memelfrage richtete.

Mit großer Beunruhigung, erklärte Hitler , verfolge das deutsche Volk die Vorgänge in Litauen . Seit Jahren werde das deutsche Element dieses Gebietes vertragswidrig mißhandelt und gequält. Vorstellungen der verantwortlichen Mächte in Kowno seien bisher äußerliche Forma­lien ohne Wert und ohne Folgen geblieben. Die deutsche Rrichsregierung steht, erklärte Hiller, dieser Entwicklung mit Auf­merksamkeit und Bitternis zu. Der Völkerbund sollte seine Interessen der Autonomie des Memel -Gebietes zuwenden, eh« auch hier die Ereignisse Formen amlehmen, die emeS TageS von a l l e n Seite»> e- dauert werden könnten. Dann ging es gegen Moskau : »Die bolschewistische Internationale be­treibt die Bölkerverhetzung erneut planmäßig und offen. Wir find jedenfalls ent­schlossen, der bolschewrstischrn Revolutionshetze in Deutschland mit den wirksamen Waffen der nationalfozöalistifchon Aufklärung(?)

entgrgenzutrrtrn. Der Parteitag dürste kamen Zweifel daran zugelassen haben, daß Versuche, Deutschland zu einer bolschewistischen Revolu­tion zu treiben, gründlichst abgewiese» wer­den.« Fast ausschließlich handle es sich um j ü* d i sch e Elemente, die als Träger der Völkerzer­setzung auftreten. Die internationale Unruhe scheine leider auch in dem. Judentum in Deutfch- land die Auffassung geweckt zu haben, daß die Zeit gekommen wäre, den deutschen nationalen Interessen jüdische Interessen merklich entgegenzu­stellen. Es bleibe nur der Weg einer gesetzlichen Regelung des Problems übrig, sollen nicht wer« *tcre Folgen eintreten. Die deutsche ReichSregir- rung sei dabei von dem Gedanken beherrscht, durch eine einmalige, säkulare Lösung eine Ebene zu schaffen, auf der es dem deutschen Volke möglich sein werde, ein»erträgliches Ver­hältnis" zum südischen Volke zu finden. Sollte sich diese Hoffnung nicht erfüllen und die Hetze ihren Fortgang nehmen, so müßte eine er­neute Ueberprüfung der Lage stattfinden. «*

Moskau . Als Antwort auf die Nürn­ berger Kundgebungen gegen die Sowjetunion verbreitete der Moskauer Radiofender Sonntag abends in deutscher Sprache eine außergewöhnlich scharfe und ausfällige Stellungnahme. Der Nürn­ berger Parteitag sei eineVersammlung vonRarre n", die an die WahnsimiSausbrüche des Mittelalters erinnere; seine Teilnehmer seien M o r p h i n i st e n, Provokateure» Abenteurer und Brandstifter." Rosenberg werde alsSchizophrener, der ins Irrenhaus gehöre", Goebbels alsSubjekt, das klar unter die Sterilisierungsparagraphen falle" und Hitler alsScharlatan" bezeichnet. Die Ausführungen schloffen mit der Fest­stellung: ,Ln ihrem Geheul gegen die Sowjet­ union versuchen fie das unterirdische Grollen im Innern zu ersticken. Die nenen Meister von Nürn­ berg bellen heiser und angestrengt den Mond an." Appell Litauens an die Signatare Kaunas. (Reuter.) Das sonntägige Auf­treten HitlerS gegen Litauen wird hier als eine Kriegsdrohung angesehen, welche eine Gefahr für den Frieden in Osteuropa ist. Dir litauische Regierung beabfichtigt, stch an die Sig- natarmächte des Völkerbundes mit dem Ersuchen zu wenden, Deutschland zu warnen. Die litauischen Regierungsstellen betonen, daß die Wahle« im Memelgebiet in legaler Weise unter der Kontrolle der Vertreter der Signatarstaaten vor stch gehen. Paris sekundiert Litauen Paris . Die französische Presse lehnt die Angriffe Hitlers gegen Litauen eilunütig ab und prangert die Angriffe des 66-Millicnenvolkes gegen den kleinen Zweimillionenstaat an. Der e m p s" sagt, daß Litauen Boiveise der Re­spektierung des Memelstatuts erbracht habe und da die kürzlichen Maßnahmen des litauischen Mi­nisterpräsidenten die volle Freiheit der Wahlen in den Memeler Landtag gesichert haben. Die einzige Gefahr, welche in Wirklichkeit das Memeler Sta­tut bedrohe, seien die Angriffe der deutschen Na­tionalsozialisten auf die unstrittigen Rechte der litauischen Souveränität.

Paraden und Wirklichkeit Paris.»Information F i nan- eie r e befasst sich in einew Artikel unter der lleberschrift»Prunkvolle Paraden und die Wirk­lichkeit" mit den Schwierigkeiten der inneren und namentlich der wirtschaftlichen Lage in Deutsch­ land . Das Blatt sagt, daß die innere 500-Mil- lionen-Mark-Anleihe, obwohl sich das Ende der Zeichnungsfrist nähere, noch lange nicht voll gezeichnet sei. Die Nürnberger theatralischen Zeremonien bringen dem Lande keinen Wohlstand und insbesondere keine internationalen Kredite. Der offi­zielle Markkurs wird künstlich aufrecht erhalten und entspricht nicht dem der wirklichen wirtschaft­lichen Lage Deutschlands entsprechenden Kurs. Deutschland bilde em wahres Handicap für die ganze Welt. Der Berliner Berichterstatter des gleichen Blattes ist der Ansicht, daß Hitler nun sein Pro­gramm ändern und zu einer allmählichen Sozialisierung der großen Unternehmun­gen schreiten werde. Der gleiche Berichterstatter erwartet eine neue große Auswanderungswelle der Juden aus Deutschland nach der durch die. sams­tägigen Gesetze geschaffenen Lage. * Der letzte Tag des Kongresses der NSDAP wurde mit einer großen Feier der neuen deutschen Wehrmacht begangen. Es wurden Uebungen von 16.000 Soldaten vor 50.000 Mitgliedern des Arbeitsdienstes, 100.000 Mitgliedern der SA und SS und 180.000 politischen Führern abgehalten. Hiebei wurden motorisierte Kavallerie und 135 Tanks mit Besatzung von je drei Mann vorge­führt, die einen Angriff gegen Tankabwehrge- flhütze unternahmen. Den Gipfelpunkt des Schau­spiels bildete die neue Fliegertruppe, deren Eska- drillen eine durch Pappendeckel-Bauten dargestellte Stadt vernichteten. Den Abschluß bildete eine De­filierung von Bataillonen der alten deutschen Armee.

Zuchthaus aufRassenschande Die drei vom Reichstag in Nürnberg be­schlossenen Gesetze haben folgenden Wortlaut: 8 1. Eheschließungen zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwand­ten Blutes sind verboten. Trotzdem geschlossene Ehen sind nichtig, auch wenn sie zur Umgehung dieses Gesetzes im Ausland geschlossen sind. Die NichtigkeiWlage kann nur der Staats­anwalt erheben. 8 2. Außerehelicher Verkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artver­wandten Blutes ist verboten. 8 3. Juden dürfen weibliche Staatsange­hörige deutschen oder artverwandten Blutes unter 45 Jahren nicht in ihrem Haushalt beschäftigen. 8 4. Juden ist das Hissen der Reichs- und Nationalflagge und das Zeigen der Reichssarben verboten. Dagegen ist ihnen das Zeigen der jüdi­schen Farben gestattet. Die Ausübung dieser Be­fugnis steht unter staatlichem Sckmtz. 8 5. Wer dem Verbot des 8 1 zuwiderhan­delt, wird mit Zuchthaus bestraft. Der Mann, der dem Verbot des 8 2 zuwiderhandelt, mit Gefängnis oder mitZuchthaus bestraft. Wer den Bestimmungen der 88 3 oder 4 zuwider­handelt wird mit Gefängnis bis zu einem Jahr und mit Geldstrafe oder mit einer dieser Strafen bestraft. 8 6. Der Reichsminister deS Innern erläßt im Einvernehmen mit dem.Stellvertreter des ! Führers und dem Reichsminister der Justiz die zur Durchführung und Ergänzung des Gesetzes erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvor­schriften. 8 7. Das Gesetz tritt am Tage nach der Verkündigung, 8 3 jedoch erst am 1. Jänner 1836 in Kraft. * nur derReichsbürger vollberechtigt 8 1. Staatsangehöriger ist, wer dem Ver ­end des Deutschen Reiches'angehört und' ihm j

dafür besonders verpflichtet ist. Die Staatsange­hörigkeit wird nach den Vorschriften des Reichs­und Staatsangehörigkeitsgesetzes erworben. 8 2. Reichsbürger ist nur der Staatsange­hörige deutschen oder artverwandten Blutes, der durch sein Verhalten beweist, daß er gewillt un­geeignet ist, in Treue dem deutschen Volk und Reich zu dienen. Das Reichsbürgerrecht wird durch Erlangung deS Reichsbürgerbriefes erworben. Der Reichsbürger ist der alleinige Träger der vollen politischen Rechte nach Maßgabe der Gesetze. 8 3. Der Reichsinnenmin ster erläßt im Einvernehmen mit dem Stellvertreter des Füh­rers die zur Durchführung und Ergänzung des Gesetzes erforderlichen Rechts- und Verwaltungs­vorschriften. Durch dieses Gesetz verlieren Nichtarier das Wahlrecht und die Fähigkeit, öffentliche Aemtrr zu bekleiden. .* Schwarz-weiB-rot verschwindet Artikel 1: Die Reichsfarben sind schwarz­weiß-rot. '. Artikel 2: Die Reichs« und Nationalflagge ist die Hakenkreuzflagge. Sie ist zugleich Handels­flagge. Artikel 3: Der Reichskanzler bestimmt die Form der Rtichskriegsflagge und der Reichs« dienstflagge. Artikel 4: Der Reichsinnenminister erläßt, soweit nicht die Zuständigkeit des Reichskriegs­ministers gegeben ist, die zur Durchführung und Ergänzung dieses Gesetzes erforderlichen Rechts­und Berwaltungsvorschriften. Artikel 5: Dieses Gesetz tritt am Tage nach der Verkündigung in Kraft. . Nach diesem Gesetz ist cs den Juden verbo­ten, die Reichs- oder Staatsflagge zu hissen. Sie dürfen nur die Farben der Juden aushängen. Offenbar damit die Streicherjünger ihre. Opfer nicht lange zu suchen, brauchen. Drei Gesetze gegen Recht und Brauch, drei Gesetze gegen alle! Menschlichkeit.

Hitlers Reichstag , das willenlose und gehor­same Werkzeug des Diktators, hat gesprochen. Es wird späteren Generationen einst schwer fallen sich vorzustellen, daß all das, was sich auf dieser »Versammlung von Narren" wie der amtliche Moskauer Funkbericht die Rcichstagssitzung nennt zutrug, sich wirklich zwei Menschenalter nach Fichtes Reden an die deutsche Nation, ein Jahr­hundert nach dem Tode Goethes, eineinhalb Jahr­hunderte nach Kants moralischem Sittengesetz- getragen hat. Das Wort, der Fascismus drehe das Zeitrad ins Mittelalter zurück, ist schauerlich überholt worden: niemals war das finstere Mit­telalter so finster wie die Neuzeit des Dritten Reiches , die wir miterleben. Es ist als habe das Dritte Reich mit diesem Reichstag die konzen­trierteste Quintessenz seiner Maximen liefern wollen: Barbarei, Heuchelei, Brutalität, Kriegs­drohung. Im Mittelpunkt der Schandgesetze, die der Reichstag Sonntag»beschlossen", das heißt auf Befehl des Führers verkündet hat, steht ein Ju­dengesetz, welches das mittelalterliche Sta­tut des»gelben Fleckes" weit in den Schatten stellt. Die Herrschaft eines von sexueller Perver­sion und pubextätShaftem Minderwertigkeitsge­fühl geleitetem Pogromklüngels, die bisher nur mit Peitsche und Revolver legitimiert war, wird dadurch nun auch mit der Legitimation des Para­graphen ausgestattet. War es bis gestern nur »Brauch", Menschen, die ein Wesen anderer »Rasse" liebten, halbtotzuprügeln, an den Pran­ger zu stellen, mit Schandtafeln umgehängt durch die Straßen zu zerren- ab heute ist es»re ch- t e n s". Juden sind zu Staatsbürgern zweiter Klasse gemacht worden, Ehen und»außerehelicher Verkehr" zwischen Juden und Nichtjuden werden mit Zuchthaus bestraft, ja selbst das Halten arischer" Hausgehilfinnen ist Juden bei strenger Strafe verboten. Und als gälte es, die Erbärm­lichkeit noch zu übertrumpfen, fügt Hitler diesem Gesetz noch einenMotivenbericht" bei, in dem er erklärt, er habe damit eine»einmalige säkulare Lösung" geschaffen, um»dem deutschen Volke ejn erträgliches Verhältnis zum jüdischen Volke" zu geben. Bis in die allerjüngste Zeit hinein fanden sich nn Ausland, aber auch in Deutschland selbst immer wieder Stimmen, die mit unbelehrbarer Mindheit die Greuel des Dritten Reiches , die all­zusehr durch Zeugenaussagen und Dokumente be­legt waren, als daß sie sich ableugnen ließen, als unvermeidliche Exzesse" hinstcllten, als barba­rische Ausschreitungen, die»eigentlich gegen den Willen der Regierung, und vor allem Hitlers " statffänden. Mit dieser Reichstagssitzung sind all diese feigen Versuche, sich um eine Stellungnahme zu drücken, entlarvt. Hinter derBar- barei des Dritten Re ich es, hin­ter der unvorstellbaren Verhöh­nung jedes menschlichen Rechtes und Denkens steht mit voller Verantwortung vor der ganzen Welt das braune Regime Deutsch­ lands und der Führer selb st. Aber nicht nur den Stempel des nackten braunen Barbarentums» auch den Stempel der schäbigsten politischen Heuchelei trägt dieses Ge­setz, das sichtlich em Einvernehmen mit demin Kulturfragen versöhnlichen" Herrn Schacht ausgeklügelt ist. Die ganze Grausamkeit des Ge-i setzes trifft wieder die besitzlosen Juden. Juden mit Geld werden sich's selbstverständlich auch in Zukunft irgendwie richten können. Was in den Villen von Berlin W borgeht, bleibt ja den Augen des Gesetzes meist verborgen; aber jeder kleine jüdische oder jüdisch aussehende> Angestellte und Arbeiter, der mit seiner Freun­din über die Straße geht oder auf einer Parkbank sitzt, ist der Meute der Streichcrbanditen, die nun mit Polizeivollmacht ausgestattet ist, schutzlos ausgeliefert. Die jüdischen Bankdirektoren und Großindustriellen und die jüdischenWirtschafts­führer", die eben noch mit ausdrücklicher Voll­macht Hftlers nach Amerika und England ent­sandt wurden, um Kredite für Deutschland zu