Nr. 227
Samstag, 28. Srptemter 1935
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dem abessinischen Feldzug den Charakter eines für die Italiener gefährlichen Waffenganges zu nehmen. Da werden den Lesern in den Zeitungen die Erinnerungen eines englischen Offiziers vorgesetzt, der erzählt, daß die Engländer gelegentlich ihres Feldzuges in Aethiopicn in den Sechzigerjahren(!) überhaupt keinen Toten im Felde und nur einige Dutzend Sterbefälle in Spitälern hatten. Der italienische Soldat in Abessinien wird dort wohl wie ein Vergnügungsreisender leben. 15.000 Mann stünden dem Negus nur zur Verfügung; sie seien aber damit beschäftigt, in der Nähe von Addis Abeba die Kniebeuge zu lernen. Ein Witzblatt zeigt abessinische Offiziere, wie sie sich abmühen, einen ungeheuren italienischen Tank in einer winzigen Mausefalle einzufangen. Kann ein Volk so naiv sein, einer so plumpen Stimmungsmache zu erliegen?„In Afrika ist Raum und Ruhm für alle!" verkünden Plakate; von Malaria, Typhus und Hitzschlag wissen sie nichts. Eine den Kolonialinteresien Italiens gewidmete Zeitschrift ruft auf der Titelseite ihren Lesern zu:„Mit Genfl Ohne Genf ! Gegen Genf !" Und unter der letzten Aufschrift sieht man Truppen marschieren. Fast in jeder Buchhandlung werden Karten von Nordostafrika feilgeboten, auf denen zwischen italienisch Somaliland und der italienischen Kolonie Erythräa einerseits und Abessinien andererseits überhaupt keine Grenzen mehr eingezeichnet sind. Von der Einladung des Mailänder Reisebüros, im nächsten Jahre eine Reise in die„ehemalige" Hauptstadt des Negus zu unternehmen, wurde in den Spalten dieses Blattes bereits gesprochen. Es ist die uns bekannte„Serbien mutz sterben"-Ideologie, mit der ein Volk blöd gemacht werden soll. Es scheint aber doch nicht so ganz zu gelingen. Schon eingangs wurde vor zuweit gehenden Schlüffen gewarnt. Aber manche Dinge sind doch recht vielsagend. So z. B. ein Aufruf der Bischöfe anläßlich des Generalappells der fascistischen Partei. Die Bischöfe ermächtigen die Pfarrer, aus Anlatz des Appells die Airchenglocken läuten zu lassen. Aber mit welcher Begründung! Nicht etwa, weil sie dem Appell einen Erfolg wünschen. Die Bischöfe hüten sich ängstlich, auch nur mit einem Worte die„Waffen zu segnen". Sie sprechen nicht von Italien , nicht vom Staat oder der Regierung, sie sprechen sehr deutlich vom„Regime", das jenen, die de» Ruf zum Appell überhört hwben
sollten, Unannehmlichkeiten zufügen könnte. U m das zu vermeiden, gestatten die Bischöfe, wie sie sagen: ausnahmsweise, das Läuten der Kirchenglocken, aber nur in den Orten, in denen es kein anderes Verständigungsmittel gibt. Wer zwischen, den Zeilen zu lesen versteht, wird dieser Stellungnahme der Kirche, die über Massenstim- mungen gut unterrichtet ist und mit ihnen rechnet, manches entnehmen können. Interessant ist auch, datz die Nachfrage nach ausländischen Blättern stark gestiegen ist und datz in den Kaffeehäusern insbesondere die großen bürgerlichen Schweizer Blätter geradezu verschlungen werden, von denen namentlich die linksliberale„Basler Nationalzeitung" die italienische Kolonialpolitik ungemein scharf verurteilt. Man muß das Schmunzeln gesehen haben, mit dem Italiener einander die in einem Prager Blatt erschienene Karikatur Th. Th. Heines gezeigt haben, die zwei Räuber darstellt, wie sie einem Ueberfallenen im Walde zurufen, daß sie seine Brieftasche unter ihr Mandat stellen wollen. Daß die Widersprüche in der offiziellen Kriegspropaganda jedem nicht Verblendeten die Augen öffnen müssen, liegt auf der Hand. Was einmal eine nationale und kulturelle Miffion des italienischen Volkes ist, kann nicht sofort darauf eine unbedeutende Polizeiaktion sein, und wenn Abeffinien wirklich der „elende afrikanische Landstrich" ist, als den ihn Muffolini in einem Interview in einem Pariser Blatte hinstellt(seinetwegen würde man doch keine Sanktionen ergreifen!),was bedeuten dann wieder die Verheißungen, datz dort„Raum und Ruhm sirr alle" ist, datz Italiens Zukunft auf dem glücklicher: Ausgang dieses Kriegszuges beruht? Von den Vorteilen, die ihr die Eroberung Abessiniens bringen wird, fühlt die Bevölkerung Italiens noch nichts. Hingegen weiß sie, datz die Steuern gewaltig erhöht werden, sie weiß, datz—sehr bezeichnend für den Fascismus— die Ausgabepost für-die Kriegsbeschädigtenfürsorge gesenkt worden ist, und sie fühlt vor allem die sehr empfindlichen Preissteige- r u n g e n noch vor dem Waffengang. Der Fascismus lügt auch dort, wo er die Wahrhest zugeben muß: Er nennt Preissteigerungen„Abänderungen einiger Lebensmittelprcise".(Im Dritten Reich heißt das„Hebung des Preisniveaus".) So ist, um einige Beispiele hervorzu-
8 Lire, der Detailpreis von Schweinefett von 6.40 Lire auf 8 Lire gestiegen. Die harten Tatsachen dieser„Abänderung" werden die Kriegsbegeisterung kaum steigern. ,AM Ob die angesammelte Unzufriedenheit zu Mr Explosion führen kann und wird, die das italienische Volk von seinen Bedrückern befreit, vermag heute, am Vorabend des Beginnes der Feindseligkeiten in Afrika , niemand vorauszusagen. —g^..
Addis Abeba feiert Feste Zuversichtliche Stimmung Addis Abeba . In der Hauptstadt hatte.! am Freitag niemand Sinn für die Schrecken der Kriegsgefahr und alle Abessinier feierten das Mascala-Fest. Die Feier fand ihren Höhepunkt am Nachmittag mit einer großen Truppenparade vor dem Kaiser. Die Stadt ist von Soldaten überfüllt. Die Häuptlinge der einzelnen Stämme begleiteten ihre Truppenabteilungen nach Addis Abeba . Es scheint, daß seit zwei Tagen die Stimmung betreffs des Konfliktes mit Italien in Ad dis Abeba wieder zuversichtlich geworden ist. Die Reorganisierung des abessinischen Flugwesens wird fortgesetzt. Unter dem Schutz der Schiffsseschütze Kairo . Vor Alexandria - kamen am Freitag die britischen Schlachtkreuzer„Renown" und „Hood" an. Sie liegen außerhalb des Hafens. Am Hafeneingang wurden Geschütze mit großer Reichweite in Stellung gebracht. Auch fanden Manöver unter Teilnahme der Flotte und von Flugzeugen statt. Tie Hafeneinfahrt wurde zum Schutz gegen U-Boote mit Stahlnetzen abgesperrt. Ms wurde nur eine kleine Fahrtrinne offen gelassen. Im Hafen selbst herrscht ein lebhaftes kriegerisches Treiben. Kraftwagen, Panzerwagen, Flugzeuge und Munition werden ausgelahen. nJnerhalb von fünf Tagen kamen'170 Flugzeuge an, die zusammengesetzt werden und für den Flug- östlich von Alexandrien, -/bestimmt
heben, der Detailpreis von Speck von T Lire
Hafen Abukir,
Abessinien— das Ziel der Raubkriegsplane Mussolinis
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A«f Hafer Karte kann man buchstäblich sehen, warum es nun in der Wcltpolitik geht. Man merkt, daß der Krieg, den Muffolini plant, ein recht gefährliches Abentener bedeutet. Bon weglosen Gebirgen und Schluchten auf der einen Seite, von gewaltigen, wasserlose« Wüste« auf der anderen Seite begrenzt, bietet dieses Land selbst einem Angriff mit den modernsten Kriegswoffrn fast unüberwindliche Hindernisse. Aber man sieht hier auch deutlich, warum England in dem Falle Abeffinien so vollkommen unnachgiebig sein muß. Aus dem Gebiet des Tanasee « entspringen dir Quellen des Nils. Wer die beherrscht, beherrscht damit die Waffervrrsorgung und di« gewaltigen Baumwollpflanzungen in dem nordwestlich angrenzenden ägyptischen Sudan Englands. Auf der anderen Seite aber beherrscht Abeffinien, wenn»S das Hinterland d«S jetzt schmalen
- italienischen GebietSstreifenS von Erythräa wird, den A«Sgang deSRaten Meeres nach dem Golf von Aden und damit den geheiligten Weg der britischen Schiffahrt von Europa nach Indien . Wenn Mussolini , auf sein afrikanischeS>Ries«nreich gestützt, den südlichen AuSgang des Roten MeereS beherrscht, dann wird die nördliche Zufahrt zum Roten Meer , der Suez-Kanal — das Glanzstück des britischen Imperialismus, machtpolitisch wertlos. Was hilft eS, daß die britischen Schiffe inS Rote Meer einfahren könne«, wen« Mussolini es in der Hand hätte, sie an der Ausfahrt z« hindern? Hier geht es nicht um M o r a l, sonder««m sehr reale Macht. DaS bekommt Herr Mussolini jetzt zu spüren. Warum— das ist auf diese Karte deutlich zu sehn.
Italienische Eindrücke Mailand , Ende September. Wer heute Italien bereist, dem drängt sich bi« Ueberzeugung auf, daß das Land sich in einer Situation befindet, aus der es ein Zurück nicht gibt und nicht geben kann, will das Regime sein Prestige wahren. Niemand könnte aber sagen, er habe den Eindruck gewonnen, das afrikanische Abenteuer Mussolinis sei im Lande irgendwie populär. Der gewissenhafte Beobachter wird nicht wagen, ohne Fühlungnahme mit allen Schichten der Bevölkerung— was naturgemäß in einem diktatorisch regierten Lande sehr schwer ist— das Urteil zu fällen, daß das italienische Voll in seiner Gesamtheit den abessinischen Feldzug ablehnt. Aber kein einziges Merkmal spricht für die gegenteilige Annahme, nichts deutet darauf hin, daß die italienische Bevölkerung für die kolonialimperialistischen Raubpläne des Fascismus Verständnis oder gar Sympathie hat: das Voll steht der geschäftlichen Stimmungsmache der Apparatleute vollkommen apathisch gegenüber. Dabei wird wirklich nichts unterlassen, um die patriotischen Instinkte anzueifern und wachzurufen. Sogar der alte König, dessen Rolle nicht gerade beneidenswert ist, wird der Bedeutungslosigkeit, in die er dank, dem Fascismus geraten ist« entrissen. Auf großen Plakaten wird er dem Volle im Stahlhelm(I) gezeigt. Daß Mussolinis Konterfei- überall prangt und sogar in neuester Zeit auf Hauswände gemalt wird, ist weiter nicht verwunderlich^ In den letzten Wochen erschienen aber Plakate mit dem Mussolinikopf, unter denen nicht anderes zu lesen war, als:„Duce! Duce! Duce!"» als würde es der Anfeuerung Mussolinis noch bedürfen. Die fascistische Kriegspropaganda arbeitet mit einer SkruppÄlosigkeit ohne gleichen. Selbstverständlich wird gegen Abeffinien „Greuelpropaganda" in breitestem Ausmaße getrieben. Die Mörder Matteottis ergehen sich in sittlicher Empörung Wer abessinisches Gefängniswesen, wiewohl doch-er Negus niemals behauptet hat, daß sein Land ein Kulturstaat ist. Die Bur- Ischen, die ein ganzes Voll in Sklaverei geworfen haben, greinen darWer, daß in Abessinien noch hie Sklaverei besteht, wiewohl sie natürlich in den benachbarten italienischen Erythräa auch noch Nicht betrügt wurde. Sichtbar ist die-Tendenz,