Nr. 230 Donnerstag, 3. Oktober 1935 Seite 5 Die Lohndrückerei auf den staatlichen Straßenbauten Durch Jahre hindurch geht der zähe, uner­müdliche Kampf der sozialistischen Parteien um die Durchführung von Jnvestitionsarbeiten. Das Hauptargument dabei ist, daß die schon seit Jah­ren hungernden Arbeitslosen wieder einige Kro­nen verdienen sollen und daß ein großer Teil des Aufwandes wieder in Form von Lohnzahlungen der allgemeinen Kaufkrafthebung zugute kommt. Bei der Durchführung der Investitionen, namentlich der Straßenbauarbeiten, wird diese Zielsetzung leider vielfach ins Gegenteil verkehrt. Bei den Strastenarbeiten der Bezirke ist eine Schmutzkonknrrenz der offerierenden Privat­firmen eingerissen, die in allen Fällen aus Kosten der Arbeiter geht. Entweder werden Arbeitsleistungen verlangt, die in keinem Verhältnis zur Bezahlung stehen, oder es wird auf allen möglichen Umwegen versucht, die Verdienste bei der Bemessung der Akkordsätze zu drücken. Bei den staatlichen Straßenarbeitcn, die von der Abteilung 42a der böhmischen Landes­behörde in Eigenregie durchgeführt werden, wäre die Gelegenheit gegeben, mit gutem Beispiel vor­anzugehen. Es geschieht aber das Gegenteil. Immer Wiede? entstehen Schwierigkeiten, weil nach dem unerforschlichen Ratschluß der hohen Bürokratie im Arbeitenministerium und in der erwähnten Abteilung der Landesbehörde ein Lohn- tarif zur Grundlage genommen wurde, der zwi­schen einem Jngenieurverein und einer agrari­schen Land- und Forstarbeiter­gewerkschaft abgeschlossen worden ist. Wieso gerade diese Gewerkschaft, die in unseren Rand­gebieten so gut wie gar keine Mitglieder hat, als Vertragskontrahentin ausgesucht wurde, wird noch aufzuklären sein. Jedenfalls sind die auf diese Weise statuierten Löhne bei weitem niedriger als die von der zuständigen Bauarbeitergewerkschaft gebietsweise vereinbarten Tarife, an die beispiels­weise die Privatfirmen gebunden sind. Die aus diesem Zustand entstehenden Diffe­renzen«»erden von der Abteilung 42a der Landesbehörde in der denkbar selbstherrlichsten Weise erledigt. Man scheint dort und im Arbeitsministerium die demokratische Gepflogenheit nicht zu kennen, mit den zuständigen Gewerkschaften über die berech­tigten Forderungen der Arbeiterschaft zu verhan­deln und die auftauchenden Differenzen im Ver­gleichswege zu bereinigen. Ueber die in diesem Ressort geübte Bor- gansgweise geht uns eine neuerliche Beschwerde zu: Bei Reparaturarbeiten auf der Staatsstraße Beraun Haselbach wurden im Bereich der Bezirke Bischofteinitz und Taus in der ersten Woche 2.85 XL pro Stunde bei vierzigstündiger Arbeitswoche bezahlt. Das war den maßgebenden Hrn. Beamten Noch zu hoch. Durch Diktat wurde eine Lohnherabsetzung auf 2.80 XL pro Stunde durchgeführt. Dann ist den Arbeitern ein neuer Lohntarif vorgelegt worden, nach welchem die Ar­beiter über 57 und unter 19 Jahren nur 1.90 Kronen pro Stunde und die übrigen 2.20 XL er­halten. Was dabei in vierzig Stunden und mit allen Abzügen verdient wird, ist leicht auszu­rechnen. Diese Borgangsweise wurde bereits in der Pilsner»Nova Doba" einer heftigen Kritik unterzogen. Alle Versuche von gewerkschaftlicher und parlamentarischer Seite, eine erträgliche Neuregelung zu treffen, wurden unter Hinweis auf den famosen Vertragsabschluß der agrarischen Land- und Fc-rstarbeitergewerkschaft abgelehnt. Ein solches Verhalten der höheren Bürokratie steht in krassem Gegensatz zu ihrer eigenen Ein­stellung, wenn es um Beamtengehaltsfragen geht. Während in solchen Fällen besondere Betonung auf das Kaufkraft-Argument gelegt wird, sind die maßgebenden Herrn offenbar der Meinung, daß für einen verheirateten Arbeiter ein Wo­chenlohn von hundert Kronen noch zuviel ist. Ueber diese Einstellung und über diese Methoden bei Durchführung der öffentlichen Arbeiten wird sowohl bei den Budgeiberatungen des Abgeord­netenhauses als auch der böhmischen Landesver­tretung ein ernstes Wort zu sagen sein. Dazu werden Investitionen nicht durchgekämpft, daß die hohe Bürokratie dabei mit den Privatunterneh- mern auf dem Gebiete der Lohndrückerei konkur­rieren kann! Man.muß es vorher sagen... und weitersagen! i. Alle Kriege entstehen nur um den Besitz von Geld. Platon(427347 b. Chr.) II. Im längsten Frieden spricht der Mensch nicht soviel Unsinn und Unwahrheit, als im kürzesten Kriege. Jean Paul . Hl. Dereinst wird man in den Museen Kanonen ausgestellt sehen, wie jetzt die alten Folterwerkzeuge, und wird darüber staunen, daß derlei einmal im Gebrauch sein konnte. Victor Hugo . IV. Lehrt die Kinder, den Haß zu hassen... Er­ziehet sie zu vernünftigen Menschen, die... dem nationalistischen und imperialistischen Ehrgeiz wider­stehen, der ihre Väter zermalmt hat. Anatole France . V. Alle edlen Menschen sollten diese Gesinnung mit warmem Menschengefühl ausbreiten, Väter und Mütter ihr« Erfahrungen darüber den Kindern ein­flöße«, damit das fürchterlich« Wort»Krieg", das man fo leicht ausspricht, den Menschen nicht nur ver­haßt werde, sondern daß man es mit gleichem Schauer als Veitstanz, Pest, Hungersnot, Erdbeben, den Schwarzen Tod zu nenen oder zu schreiben kaum wage. Aus Herders Nachlaß. Der Ueberläufer Linder. Zu unserem Wie­ ner Bericht über die Gleichschaltung des ehema­ligen Stadtrates Julius Linder wird uns von österreichischen Genossen mitgeteilt, daß Lin­der in der Partei niemals eine nennenswerte Rolle gespielt hat. Julius Linder, der übrigens schon fest den Feberkämpfen eine sehr zweideutige Haltung eingenommen hatte, war lediglich als Fachmann für Ernährungswesen in den Wiener Stadtrat berufen worden. Bon irgendeiner poli­tischen Bedeutung ist er nie gewesen. Di« wissenschaftlich« Expedition auf dem Eis­brecherSadko", an deren Spitze G. Uschakow steht, kehrt nach erfolgreicher Arbeit in den nörd­lichen Gewässern der Arktis nach Archangelsk zurück. Die Expedition erforschte insbesondere das Gebiet -wischen Franz-JosefS-Land und dem Nordland, das bisher auf den Karten Sowjetrußlands als»weißer Fleck" figurierte. Im Mittelpunkte dieses Gebietes wurde«ine Untiefe festgestellt und in die Karte ein­getragen, während an den Küsten des Nordlandes eine große und drei kleine Inseln entdeckt wurden. Soll man Frauen seinen Platz anbieten? Der »Daily Expreß " hat bei seinen Leserinnen eine Um­frage veranstaltet, ob sie es erwarten, daß ihnen ein Mann im Autobus oder in der Untergrundbahn seinen Platz anbietet. Seltsamerweise ist die Ant­wort durchaus anders ausgefallen, als man meinen sollte. Die- einsichtigen englischen Frauen fordern diese Höflichkeit von feiten des Mannes keineswegs mehr. Da diejenigen Frauen, die auf den öffent­lichen Verkehrsmitteln keinen Platz bekommen, meist während der Stunden des größten Andranges, das heißt aber, zur Arbeit fahren, so müßten sie sich unter den modernen Verhältnissen mls dem Manne völlig gleichberechtigt betrachten. Wenn das aber für die Arbeit als solche gilt, so gilt das auch für die damit verbundenen Unannehmlichkeiten. Gegen diese Logik ist freilich nichts einzuwenden I Volkswirtschaft und Sozialpolitik Neue österreichische Zollnovelle. Die neuerlich angekündigte neue österreichische Zollnovelle wird im Oktober erlassen lverden. Sie soll in erster Reche dem Schutze einiger neu entstandener In­dustriezweige dienen und andererseits den niedri­gen Preisen der internationalen Konkurrenz ein Gegengewicht bieten. Ferner-soll in den nächsten Tagen ein Ausfuhrverbot für Heu und Stroh mit Gültigkeit bis zum 15. Mai nächsten Jahres er­lassen werden. Oeffentkiche Arbeitesbeschaffnng in Neu- Seeland . Der Finanzminister CoateS hat im Par» lament in Neu-Seeland ein Arbeitsbeschaffungs­programm im Betrage von fünf Millionen Pfund verkündet; es enthält u. a. große Siedlungsplane. Daneben sollen auch frühere Kürzungen der Pen­sionen und Gehälter wieder wettgemacht werden, um die Massenkaufiraft anzukurbeln, Regulierung des Weizenmarktes in Kanada . Die Regierung hat den Weizenpreis dieses Jah­res auf ein Minimum von 87.5 Cent pro Bushel festgesetzt. Steigt der Weltmarktpreis über diese Grenze hinaus, dann erhält der Farmer den höhe­ren Preis. Fallt er darunter, wird die kanadische Regierung den Preisunterschied ausgleichen, d. h. sie garantiert dem Farmer den festgesetzten Preis von 87.5 Cent pro Bushel. Der Aufkauf von überschüssigen Weizenmengen obliegt der staat­lichen GetreidegesellschaftCanadian Grain Board".? Russische Ausfuhr von Landmaschinen! Die Odessaer WerkeOktoberrevolution" haben im laufenden Jahre etwa 5000 Landmaschinen nach Holland , Griechenland , der Türkei und Mongolei ausgeführt. Neuerdings haben die Odessaer Werke aus der Türkei einen Auftrag auf Lie­ferung eines großen Postens sogenannter.Bra­ bant "-Pflüge erhalten. lieber Ole Sittlichkeit Von Th. G. Masaryk. In derSudeiendeutschen Buchgemeinde" erschien soeben eine Auswahl aus Masaryks philosophischen Schriften unter dem Titel ,Ideale der Humanität" sübeksetzt voü.'M.' Anton M o u ch a). Wir entnehmen dein Büche folgende Betrachtungen Masaryks über Pro­blem« der Ethik: Bei der Untersuchung der Sittlichkeit und der Grundlagen der Sittlichkeit ist eine Frage forma­ler Art von Wichtigkeit: Wie erkennen wir die obersten Wahrheiten der Sittlichkeit? Was soll über meine Sittlichkeit entscheiden? Bestimmter gesprochen: Kann ich den Ursprung der Sittlichkeit aus dem Verstände oder aus dem Gefühl ableiten? . Fast alle älteren Philosophen des vergan­genen Jahrhunderts haben den Ursprung der Sitt­lichkeit aus der Vernunft abgeleitet. Die Philo­sophie der Vernunft'bestimmte den Charakter des ganzen achtzehnten Jahrhunderts. Damals war es Brauch, sich in allem auf die Vernunft zu be­rufen. Heute berufen sich die Menschen in der Theorie und Praxis gerne auf das Gefühl. Auf die Zeit des Rationalismus folgte die Zeit des Gefühls. Für die Zeit des Rationalismus und der auf die Vernunft gegründeten Ethik ist Kant ein be­deutender Name. Die reine Vernunft gibt dem Menschen den kategorischen Imperativ, das ange­borene innere Bewußtsein dessen, was sein soll; nach Kant ist dieser Imperativ durch die Ver­nunft geheiligt. Dagegen sagen wieder andere und ich führe nur Hume an: Die Sittlichkeit ist nicht in der Vernunft, sondern in dem Gefühl und zwar in der Sympathie, der Humanität, der Liebe be­gründet. Einander zu lieben das ist das Ge­setzbuch jeder Sittlichkeit. Diese Vorschrift muß nicht bewiesen werden, das Gefühl gibt sie jedem von selbst. Ich bekenne mich hier zu jenen, die die Sitt­lichkeit auf das Gefühl gründen, aber ich denke nicht daran, daß das Gefühl mit der Vernunft im Widerspruch stehen soll: Es gibt viele Gefühle: schöne, unschöne, edle, unedle, grobe, rohe das sind alles Gefühle. Die Gefühlsethik darf sich in den Gefühlen nicht verlieren. Ich glaube also, daß die Harmonie des Gefühls mit dem Verstand und bis zu einem gewissen Grade eine Vorherrschaft des Gefühls als Grundlage der Sittlichkeit dienen kann. Nach der formalen Frage über den Ursprung der Sittlichkeit wollen wir uns über die Grund­sätze der Sittlichkeit klar werden. Dazu wählen wir das beste von dem, was wir gehört haben. Aber ich fürchte, daß es sich nur um Selbstver­ständliches handeln wird. Ich erinnere mich da immer an den Eulenspiegel, der die Schneider einberief, weil er ihnen etwas wichtiges zu sagen habe. Alle kamen herbei und Eulenspiegel machte sie darauf aufmerksam, daß sie nicht vergessen sollten, einen Knoten zu machen. Und ähnlich geht es dem, der nach der Untersuchung der philo ­sophischen und ethischen Systeme seine eigene Ent­scheidung treffen soll. Die Grundlage der modernen Sittlichkeit ist nichts neues, sondern der alte anerkannte Grund­satz:«Liebe deinen Nächsten wie dich selbst". Wer ist der Nächste? Wir sprechen vom Ideal der Humanität-; ich nehme dieses Ideal an. Es hat für uns eine» doppelten Sinn: erstens: das Ideal vkr Menschlichkeit, ein Mensch- zu sein: Zweitens: Rücksicht auf die Menschheit im weite­sten Umfange. Aber die Humanität als Liebe zur Mensch­heit im weitesten Umfange kann leicht rein begriff­lich, eine Liebe in der Phantasie, nicht in der Wirklichkeit bleiben. Die Liebe muß konzentriert werden. Man kann nicht alle in gleicher Weise lieben. Wir wählen aus und müssen uns die Ge­genstände unserer Liebe aussuchen. Wir müssen ein bestimmtes Ziel haben. Und deshalb ist der Allernächste unser Näch­ster, wenn die Liebe zu ihm praktisch wirksam sein soN. Und die Allernächsten sind für uns die Mutter, der Vater, der Bruder, die Schwester, die Frau, die Kinder. Wir haben noch keine Ahnung davon, was man in diesem Kreise, den wir zu lieben glauben, leisten kann. Aber bitte, beobach­ten Sie sich und andere, welches Verhältnis wir zu den nächsten Personen haben und wir werden oft staunen, wie wenig wir sie kennen und wie wenig wir sie in Wahrheit lieben. Es läßt sich also wenigstens nicht behaupten, daß man nur das liebt, was man wenig kennt. Die Nächsten unter den Verwandten siyd für uns alle die Kinder. Schon längst wurde gesagt:»Ehre deinen Vater und deine Mutter I" Ich glaube, daß wir hinzu­setzen müssen: Ehre die Seele deines Kindes! Denke an die künftigen Generationen! Unsere Liebe wird also auf Gegenseitigkeit beruhen, aber sie darf bei der Gegenseitigkeit nicht aufhören. Der Nächste des Mannes ist die Frau, für die Frau der Mann. Dieses inttmste Verhältnis muß eine wirkliche Liebe auf das wirksamste hei­ligen. Die Frau ist dem Manne völlig gleich, nur der physische Unterschied ist anzuerkennen: sie ist schwächer. Wenn das Menschlichkeitsideal, das sich auf die ganze Menschheit erstreckt, ein wenig unbe­stimmt ist, ist es dadurch bestimmter, daß es auch die Nation einschließt? Ist die Nation nicht auch ein unbestimmter und allgemeiner Gedanke? Der Mehrzahl der Menschen ist das nationale Ideal zwar etwas weniger geläufig als die Idee der Menschheit, aber doch unbestimmt, wie bei jenen, die an die Menschheit denken. Und wieviel wird ebenso im Namen der Menschheit gelogen! Die Liebe, dje Menschlichkeit müssen positiv sein. Ost hält man z. B. den Haß gegen ein an­deres Voll bereits für die Liebe zum eigenen Volle. Wertvoller ist es, keinen Haß zu hegen, sondern positiv zu lieben. Ich werde nicht darüber streiten, ob man etwas Fremdes ebenso lieben kann, wie das Seine. Zum Beispiel ein fremdes Voll so wie sein eigenes. Es wäre unnatürlich das zu verlangen; aber man gewöhne sich das Voll, die Familie, die eigene Partei, jeden posi­tiv zu lieben, das heißt ohne den Hintergrund des Ausweis für den Monat September (Die erste Zahl bedeutet Parteifonds, die einge- llammerte Wahlfönds:) Bodenbach : XL 4300.(900.). Karlsbad : XL 4480.(1120.), Kez- mark: XL 35., Landskron: Kc 400. (100). Pilsen -Budweis : XL 880. (220), Prag : XL 375.(92.). Preßburg : XL 40.(10.), Reichender g: XL 70.. Sternberg: XL 1360.(340.), Teplitz - Saaz : XL 3200.(800.). Trautenau : XL 800.(200.). Troppau : XL 1440. (360.). Hasses und es wird sich uns eine ganz neue sitt­liche Welt erschließen. Die Liebe muß tatkräftig sein. Wir müssen für den Nächsten etwas tun, für ihn arbeiten. Aber ein unruhiges, aufgeregtes Suchen und Hasten ist keine Arbeit; hie Arbeit muß ruhig, ihrer Ziele bewußt sein. Heute wird die Arbeit schon überall und viel geehrt. Aber auch die Ruhe kann eine Arbeit sein. Ich erinnere an den Aus­spruch Miltons:Die nur stehen und warten, dienen auch". Achtgeben auf das, was geschieht. Die Arbeit ist kein Ideal, kein oberster Zweck. Sie ist ein Mittel. Wir, jeder, will seine freie Zeit haben. Und dann wird es sich darum handeln, was man mit der Freiheit anfängt. Arbeit bedeu­tet Kleinarbeit, die wenig angenehm ist. Das ist jene Arbeit, die niemand tun will. Aber wir sind Romantiker. Solcher Romantik steckt in jedem genug. Wir wollen Helden sein und uns großer Taten rühmen. Taten, aber keine Arbeit. Doch wie viele solche Generäle und Helden gibt es und wie vielen Menschen glückt eine große Tat? Wir wollen alle Führer sein. Es ist kein Zweifel dar­über, daß es Führer geben muß, aber der Führer soll keinen Herren spielen. Ein guter Führer wird der sein, der zu dienen versteht und fühlte daß er selbst geführt wird und geführt werden will. Manchmal bedarf es großer Opfer, wenn auch selten. Es gibt sicher wenig Menschen, die die Ge­legenheit hatten, das Leben zu opfern, aber doch malen wir uns alle in der Phantasie die Situation aus, in der wir bereit wären unser Leben für eine Sache zu opfern. Aber das ist eine Phrase, ein Phantasiegebilde. Die Menschheit-, das Volk, die Familie, die Partei, der Kamerad brau­chen unsere Arbeit. Man soll am Märtyrertum keinen Gefallen haben. Man soll am Tode keinen Gefallen finden. Es ist merkwürdig: die Men­schen wollen leben,und können sich vom Tode nicht losreißen. Wenn man also leben will, kann- man nicht Märtyrer sein wollen. Wenn bisher der Ruf lautete: Weg mit den Peinigern! muß man auch sagen: Weg mtt den Dlärtyrernl Solange es Pei­niger gibt, gibt es auch Märtyrer, aber so lange es Märtyrer gibt, wird es auch Peiniger geben. Man erinnere sich an die sympathische Marianne in Turgenjews RomanNeuland", die ihr Leben für Rußland opfern will. Stets wartete sie, bis -die Gelegenheit kommt und das Volk'sagt: jetzt -opfere dein Haupt. Dieser Augenblick kam nicht» obwohl sie ihn ständig erwartete. Aber es kam der Fabriksdirektor Solomin, ein praktischer Mensch, und der zeigte ihr, um was es sich han­delt: Rußland erivartet nicht, daß du dein Leben opferst, aber kämme diesem unsauberen Knaben die Haare, wasche den schmutzigen Topf üsw., das ist notwendig. Arbeiten heißt dem Bösen beharrlich wider­streben. Ueberall, immer und namentlich dem Uebel in seinen Anfängen. Das bedeutet nicht radikal, sondern ausdauernd sein. Keine Angst zu haben, möchte ich sagen. Aus Angst sind Men­schen gewalttätig, aus Angst lügen sie. Ein Tyrann und ein Lügner haben Angst und auch der, welcher vergewaltigt, ist ein Sklave? Seneka sagte:»Loutemptor sunemet vitae dominus alienae«(wer das eigene Leben verachtet, ist Herr fremden Lebens). Aber wir dürfen unsere Macht nicht mißbrauchen weil die Welt betro­gen sein will, dürfen wir sie nicht betrügen. Liebe bedeutet nicht Empfindsamkeit. Wir sind allzu gefühlsselig und Gefühlsseligkeit ist Egoismus. Wir sind mit Kindern und Erwachse­nen zärtlich, aber wir haben von jener bewußten Liebe, von der Neruda sprach, keine Ahnung. Eine solche bewußte Liebe muß etwas sagen, was für den ersten Augenblick vielleicht über­rascht: Liebe auch dich! Aber das ist nichts so son­derbares; Christus sagte auch: Liebe deinen Näch­sten wie dich selbst! Aber die Menschen verstehen es nicht, sich selbst zu lieben. Pfiffigkeit und Be- rechnnug sind noch keine Selbstliebe. Liebe dich und kümmere dich um dich selbst. Beglücke nicht ständig andere, tue nur deine Pflicht. Es ist ein großes Uebel, daß wir Angst da­vor haben, was der Nachbar über uns spricht. Aber es kommt darauf an, sein eigenes Urteil zu besitzen, eine Persönlichkeit zu sein. Wahren wir entschlossen unser eigenes Selbst! Wir sollen nicht auf fremde Rechnung, auf Kosten eines fremden Gewissens leben. Die Sittlichkeit ist im Gefühl verankert. Aber nicht jedes Gefühl ist echt, schön, und weil die Sittlichkeit auf dem Gefühl ruht, widerspricht sie deshalb dem Verstände nicht. Wir suchen uns zu bilden; gerade weil das Gefühl blind ist, müssen wir das Gefühl mit dem Verstand erleuchten. Wir müssen eine praktische, aber auch eine allgemeine und philosophische Bildung suchen. Heute brau­chen wir auch eine geschichtliche, politische Bildung. Sittlich bedeutet heute in hohem Maße politische Sittlichkeit. Man darf keinen Unterschied zwischen Politik und Sittlichkeit machen. Wer nach wahrer Bildung strebt, muß beob­achten und denken lernen und nicht nur die Rest­gier stillen. Weise zu sein, darum handelt es sich. Vieltvisserei bringt keine Rettung.