Nr. 231 Freitag, 4. Oktober 1935 Seite 5 Gustav Fröhlich mit seiner neuen Gattin Gustav Fröhlich , der sich von Gitta Alpar scheiden ließ, wurde soeben während des Aufenthaltes in Wien mit seiner neuen Gattin, der jungen L i d a B a a r o v a, ausgenommen Blutarmut — eine soziale Krankheit (MTP) Die Frage, ob es eine besondere Form der Blutarmut gibt, die nur bei Menschen in un» günstiger wirtschaftlicher Lage auftritt, ist kürzlich von dem bulgarischen Arzt Dr. Majrakoff näher behandelt worden. Er hat bei 540 Arbeitern den Gehalt an Hämoglobin— dem Blutfarbstoff, der beim Transport des Sauerstoffs nach den einzelnen Organen eine wichtige Rolle spielt— und dann auch die Anzahl der roten Blutkörperchen untersucht, von denen normalerweise vier bis fünf Millionen sich in einem Raummillimeter befinden. Die so gewonnenen Ergebnisse wurden mit den Werten für Lohn, Nahrung und Wohnung der einzelnen Arbeiter in Vergleich gestellt. Majrakoff fand, daß Arbeiter!, die vom Lande nach der Hauptstadt Sofia gekommen waren und die zunächst mit großen wirtschaftliche« Schwierigkeiten zu kämpfen hatten, anfangs einen geringeren Hümoglobingehalt und eine kleinere Zahl roter Blutkörperchen aufwiesen al- ihre in Sofia geborenen und aufgewachsenen Berufsgenossen. Die Untersuchung ergab des weiteren, daß bei einer Verbesserung der LebeirSverhaktriisse, also des LöhneS, der Ernährung und des Wöhnraumes— gemessen nach der Anzahl Raummeter Luft, über die der einzelne verfügt—, sowohl der Hämoglobingehalt des BluteS als auch die Zahl der roten Blutkörperchen in unverkennbarer Weise stiegen. Volkswirtschaft und Sozialpolitik Wirtschaftsaufschwung in Amerika Die Gewerkschaften über die Wirtschaftslage Im letzten Monatsbericht der amerikanischen Arbeiterföderation wird die Wirtschaftslage ziemlich optimistisch beurteilt. In dem Bericht heißt es: „Nach einer Warteperiode von fünf Monaten hat die Wirtschaft mit einem Aufschwung begonnen. Die Aussichten für die letzten fünf Monate des Jahres 1938 sind für die Wirtschaft sehr günstig. Der voraussichtliche Geschäftsgewinn mutz mit den Arbeitern in Form von Arbeitsstellen und höheren Löhnen geteilt werden, wenn wir eine gleichmäßig balancierte und dauernde Besserung der Wirtschaftslage haben sollen. Die letzten fünf Monate können uns sehr wohl auf die höchste Stufe der Jndustriegewinne seit 1930 bringen. Der gegenwärtige Aufschwung ist so weit der gesündeste. Er ist der erste, der nicht die Folge von Regierungsausgaben oder Währungseingriffen ist. Er ist der erste, der die Folge seiner eigenen innewohnenden Stärke ist. Die Dividendenzahlungen im August übersteigen die vom August des letzten Jahres um 11 Millionen Dollar oder 4 Prozent. Die Bestellungen für die Landwirtschaftsmaschinenindustrie in der ersten Hälfte des Jahres übersteigen die während der gleichen Periode des vorhergehenden Jahres um 75 Prozent. Die Autoverkäufe sind in dieser Periode um 599.000 Autos gestiegen. Nach zuverlässigen Berichten gibt die Autoindustrie 100 Millionen für neue Maschinen aus und die Stahlindustrie 130 Millionen". Nichtsdestoweniger mutzte die amerikanische Arbeiterföderation die Feststellung machen, daß immer noch elf Millionen Arbeiter ohne Beschäftigung sind.(Ende März 1933— Höchststand der Krise waren 13 Millionen arbeitslos. Red,). Von der steigenden Produktion allein kann die Absorbierung dieser elf Millionen Arbeitslosen nicht erwartet werden.„Die Arbeitsstunden müssen mehr und mehr gekürzt werden, um mehr Leuten Arbeit zu geben", heißt es in dem Bericht.„D'e Löhne müssen erhöht werden. Jeder Fortschritt der Arbeiter bedeutet eine Sicherung der Zukunft". Die schwarze« Jude« bete« für den König der Könige Die Falashas, die Letzte« de» antike« Judentums Addis Abeba , im September. Nicht nur in der christlichen Kirche„Zur Heiligen Medizin" wird nach koptischem Ritus in diesen Tagen, in denen ganz Abessinien das Freudenfest feiert, das die Regenperiode abschlietzt, um Frieden, oder wenn eS sein mutz, um Sieg, gebetet. Auch in der Sprache des Alten Testamentes , in Althebräisch, wie es zur Zeit Salomos gesprochen wurde, steigen aus dem Tempel der Falashas Gebete gen Himmel, die für den König der Könige, dem Nachkommen der alten jüdischen Königsdynastie, den Segen des Friedens oder den Segen für seine Waffen erflehen. Denn in Abessinien wohnt neben den vielen anderen Stämmen, die zum schwarzen Kaiserreich gehören, auch ein jüdischer Stamm, der eine seltsame Geschichte hat. Aber seltsamer noch als seine legendenumwobenen Schicksale sind die Gestalten seiner Vertreter: sie sind schwarz, und ihre Gesichter zeigen wenig semitische Merkmale, und unterscheiden sich kaum von der abessinischen Urrasse der Amharas. Sie gehören zu dem Stamme der Fa- lashas, der Name heißt nichts anderes als„Einwanderer". Aber sie sind in dieses Land vor Jahrtausenden gekommen. Wie der jüdische Stamm in die Gebirge Abessiniens kam, wissen wir nicht. Die Legende sagt, daß sie allesamt von jener sagenhaften Königin von Saba abstammen, deren Fehltritt mit König Salomo dem ersten Menelik das Leben gab und die abessinische Dynastie begründete. Sicher ist nur, daß die Falashas kurz nach dem Abschluß des Alten Testa mentes in das Land gekommen sein müssen, da ihnen lediglich die Fünf Bücher Moses und sonst nichts von den heiligen Schriften der Juden bekannt ist. Sie feiern das Passah-Fest, den VersöhnungStag und das jüdische Neujahr und kennen die Beschneidung— aber darin unterscheiden sie sich nicht von den christlichen Aethiopiern, so wenig wie von den mohammedanischen. Zum ersten Male erfuhr man in Europa von dem Vorhandensein der Falashas durch einen englischen Reisenden, JameS Bruce , im 18. Jahrhun- tzert. Später ist im Jahre 1867 der prominente Orientalist Joseph Halkvy durch die„Alliance Jsrallite Universelle" von Paris aus zur Erforschung dieses Stammes nach Abessinien gesandt worden. Von ihm und von seinem Schüler Faitlovitch , der im Jahre 1910 ein Buch unter dem Titel„Quer durch Abessinien" veröffentlicht hat, stammt unser Wissen über die Falashas. Den Forschern fiel vor allem ihre große Sittenstrenge auf. ES kommt kaum vor, daß ein Falasha die Gesetze übertritt. Diese Gesetze sind freilich nicht schwer zu lernen: denn für die Falashas gelten allein die Zehn Gebote der Alten Testaments . Dadurch, daß ihnen der Talmud unbekannt ist, der in einer Zeit entstanden ist, als sie schon außer jedem Zusammenhang« mit den anderen Teilen des Judentums bestanden, beschweren sie die vielen Auslegungen nicht, und ihre Religiosität hat sowohl die Frische als auch di« Strenge einer ursprünglichen Religion. Die Forscher fanden, daß sie sich, abgesehen von der bemerkenswerten sittlichen Höhe, nicht allzu sehr von der Bevölkerung unterschieden, innerhalb deren sie lebten. Sie sind seßhaft und betreiben hauptsächlich Landwirtschaft, daneben einige Gewerbe, wie Tischlerei, Korbbinderei und AehnlicheS. Sie sind als Maurer und Baumeister weithin bekannt, und sie haben sogar die christlichen Kirchen gebaut. Die Falashas sprechen im gewöhnlichen Leben nicht mehr Hebräisch. Die Verkehrssprache heißt wissenschaftlich„Ouara" und ist ein hamitischer Dialekt, das Althebräische ist allein die Sprache ihrer Gebete geblieben. Die Aufsindung der Falashas, deren Zahl Faitlovitch auf 50.000 schätzt, hatte seinerzeit eine große Sensation erregt. Faitlovitch nahm zwei junge Falashas nach London mit, wo sie eine europäisch« Erziehung genossen. In jüngster Zeit find wiederholt junge Falashas nach Europa und Amerika gesandt worden, wo sie vor allem auf jüdischen Schulen erzogen wurden. Sie sind dann später, namentlich als Lehrer, nach Abessinien zurückgekchrt und wirken unter ihrem Volksstamme. Allerdings ist von einer Modernisierung auch durch diese seltsame Eigenmission nicht viel zu verspüren. Die alten Riten, die alten Vorstellungen beherrschen das Leben der Falashas. Sie rechnen sich voll zu den abessinischen Völkerschaften und sind für den NeguS in den Krieg zu ziehen bereit. S. P. Film in Bon Fritz Mit gerunzelter Stirn, die Hände nachdenklich vor der Brust verschränkt, steht ein Dutzend Äerzte um das Krankenbett des Tonfilms. Die Krise ist schuld, sagen die einen. Es fehlt an Geld, den Patienten richtig zu ernähren, so wurde er blutarm und siecht dahin. Der große. Lärm bringt ihn um, meinen die anderen. Die Lautsprecher des Rundfunks dröhnen in seinen Ohren und zerren an seinen Nerven. Das Fernsehen ist sein Tod, erklären die dritten. Das Gespenst der Television schreckt ihn Nacht für Nacht aus dem Schlaf, raubt ihm Ruhe und Lebensmut. Dann stecken die Aerzte die Köpfe zusammen und halten ein Konsilium ab. Der Patient braucht eine Injektion, beschließen sie. Sie laufen ins Laboratorium und brauen ein neues Serum: Der Film wird bunt, er wird plastisch. Die Aerzte wissen, daß ihre Künste dem Kranken nur vorübergehend helfen, aber immerhin: sie hoffen. Sie rücken ihre Brillen zurecht und gehen nach Hause. Unterwegs denkt jeder für sich: Ich weiß ja, was ihm fehlt, aber ich darf es nicht sagen. Das Publikum ist kinomüde geworden, weil die Filmindustrie ihm nun seit Jahrzehnten immer wieder dieselben Stoffe, die gleichen Themen, die bereits zu Tode gehetzten Motive des Familienblattromans, der Klischeeoperette und der Lescbuchlegende vorsetzt. Die europäische Filmproduktion legt resigniert die Hände in den Schoß und wartet auf ein Wunder. Die amerikanische setzt alles auf eine Kart^: die Weiterentwicklung der F i l m t e ch n i k, und erlebt die Enttäuschung, daß auch der farbige, der plastische Film, dem Kino nur für einige Monate seine Anziehungskraft zurückgeben, solange sie eine„Sensation" sind. Das Kinopublikmn aber begreift nicht, warum es seit Urväterzeiten immer dieselben, längst langweilig gewordenen Konflikte, immer die gleichen, abgestandenen Späße sehen muß — und bleibt zu Hause. Die Wirklichkeit bietet eine Ueberfülle brenned interessanter Stoffe, jede Zeitungsnummer enthält Material für ein halbes Dutzend Tragödien, die wirkungsvoller wären als all die lächerlich komplizierten traurigen Begebenheiten in den von den Filmautoren ausgedachten Drehbüchern, enthält Motive für ein halbes Dutzend Groteskkomödien und Possen, die an Durchschlagskraft des Witzes und an Situationskomik alle an den Haaren herbeigezogenen Operetten- und Possenlibrettos weit überragen. Warum traben Filmdichter und Filmregisseure wie lahme Kamele mit verbundenen Augen immer im Kreise um denselben, alten Ziehbrunnen, aus dem sie doch nur Wasser schöpfen können? Zwei scheinbar unübersteigbare Mauern schieben sich zwischen den Film und das Leben: die Verständnislosigkeit der Produzenten, die stets nur dem bereits Dagewesenen Zugkraft zutrauen, und die Engherzigkeit der öffentlichen Stellen, I Fesseln Rosenfeld die den Film einer drakonischen Zensur unterwerfen. Wenn man die großen Probleme aufzählt, die unsere Zeit bewegen, wenn man in den Alltag greift und ein Bündel Menschenschicksale herausholl, wie sie sich heute überall ereignen, so wird man finden, daß diese Probleme und diese Schicksale als Filmstoff nicht in Frage kommen, weil die Industrie sie entweder nicht für wichtig hält oder aus Angst vor dem Zensor nicht zu gestalten wagt. Die Menschheit fiebert in Angst vor einem drohenden Krieg, der FasciSmuS stürzt die Welt in die Gefahr des Untergangs, verwandelt zivilisierte Länder in Brutstätten der Barbarei— man darf Bücher darüber schreiben, vielleicht ein Theaterstück, aber wagte ein Filmproduzent einen Film, der die Schuldigen beim Namen nennt und von'der technischen Utopie zur kritischen Wirklichkeitsdarstellung überginge, begännen sogleich die„Schritte" und„Interventionen" der Diplomaten der betroffenen Länder, und der Film wüßte zurückgezogen werden. Im Mittelpunkt des Wellinteresses steht das Problem der Arbeitslosigkeit: welcher Filmdichter durfte ihm Gestalt verleihen? Es hat Arbeitslosenfilme gegeben— sie arteten in Operettenkitsch aus, ein Tenor, der tüchtig war, brachte es trotz Arbeitslosigkeit zu einem Bräutchen, einem Häuschen und einem gutbezahlten Posten. Wo eine Wunde der Welt klafft, macht ein Librettist einen Witz; dem Verhungernden wird erzählt, die Menschheit blühe herrlichen Zeiten entgegen. Krise? Zertrümmerte Eristenzen? Vernichtete Familien? Sobald ein Film diese Themen aufzugreisen wagt, muß er sie mit rosigem Optimismus überglänzen; alle Wege, auch die aus der Hölle, führen zum Happy end . China in Flammen, Indien in Gärung, Afrika in Aufruhr— der Film darf nur blasse Dschungelromantik bieten, das Problem des Kolonialimperialismus, der die Welt in Brand steckt, reduziert sich auf eine Liebesgeschichte vor schauriger Geräuschkulisse: im Urwald brüllen die Löwen . Und die„kleinen" Tragödien des Tages? Von der Not zerfressene Familien, Elternmord, Geschwisterhaß, Ehebruch, Abtreibung, Selbstmord aus namenloser Einsamkeit, aus würgender Verzweiflung? Wehe dem Filmautor, der an diese Themen rührt! Der Zensor belehrt ihn mit drohend erhobenem Zeigeftnger. daß er im Begriffe sei, durch die dramatische Nachgestaltung von Konflikten, die sich jeden Tag und allen Ortes begeben, Sitte und Moral zn gefährden, daß er durch das Eingeständnis dessen, was i st, die Grundlagen der Ordnung untergrabe. Attentat auf einen König? Es gibt bestimmt ein Land, dessen Reaierungsoberhaupt sich getroffen fühlte. Justizkritik? Debatte über religiöse Probleme? Entlarvung patriotischer pseudobistorischer Legenden? Schon hat der Zensor die Schere zur Hand, und wenn er den Film nicht ganz verbietet, der- LI» Negerromani Joe Conway: Schwan und Rot 240 Seiten. In Leinen geb. KC 14.—, broschiert Kö 12.—. Zu beziehen durch die Zentralstelle für das Bildungswesen, Prag XII., Slezska 13. stümmell er ihn zumindest so, daß er seinen Sinn verliert. Wir leben in der Zeit des Wiedererwachens der Zünfte. Verdirbt sich in einer Posse jemand an schlechtem Käse den Magen, so wird sich todsicher eine Käsehändlerzunft melden, die in dem Film eine„Gefährdung ihrer Lebensinteressen" erblickt— und irgendein Amt wird dieser Beschwerde stattgeben: Dreht eine Filmgesellschaft einen Spionagefilm, so muß sie die Gestalten der Handlung in Phantasieuniformen stecken, den Film in den luftleeren Raum verlegen; denn was alle Welt weiß, darf nicht zugestanden werden, daß dieser oder jener Staat einen Spionagedienst unterhält. Selbst die Toten sind mit Vorsicht zu behandeln; wird ein Meyer- ling-Film gedreht, so erheben freiwillige oder unfreiwillige Verteidiger des Hauses Habsburg Protest, wird Rasputin verfilmt, sind sogleich die Nachkommen irgendeines russischen Fürsten zur Stelle, die eine Schadenersatzklage erheben, weil sie mit der Darstellung ihres erlauchten Ahnherren durch den Filmregisseur nicht einverstanden sind. Handelt die Zensur demokratischer Staaten aus manchmal gebotener, manchmal übertriebener Rücksicht, so täbt sich die fascistischer Länder in brutalster Willkür aus: Dantes Werke zu verbieten, wagt man nicht, weil man die Blamage.fürchtet, aber ein Dante-Film fiel der deutschen Zensur zum Opfer; das Inferno könnte zu Vergleichen führen... Nicht nur jede soziallritische Vertiefung, jedes Vordringen zur Wahrheit und Wirklichkeit bleiben dem Film versagt, auch ganze, weite Gebiete der modernen Forschung sind ihm verschlossen. Das Problem des Unterbewußten darf er nicht anschneiden, wo kämen wir auch hin, wen^ auf der Filmleinwand, vor dem Forum der breiten Massen, eingestanden würde, daß unter der Maske des friedfertigen Bürgers die Grimasse eines Dämons grinsen, das friedlichfromme Lamm ein verkleidetes reißendes Raubtier sein kann? Der Mensch im Kino soll und darf nicht wissen, was der Mensch auf der Straße sieht und erlebt, er soll und darf nicht erfahren, waS in Kliniken, Laboratorien und Universitäteil als einwandfrei klare Erkenntnis der' Wissenschaft bereits längst formuliert ist. Er must" dümmer sein und dümmer bleiben, als er" sein könnte und sein müßte— oder er muß sich zumindest dümmer stellen. Was nach genauer Beachtung aller„Belange"- die von einem Film eventuell verletzt werden könnten, das Sieb der dramaturgischen Abteilungen der Filmgesellschaften und später das der Zensur passiert hat, ist nur Spreu; die Amüsieroperette, der leere, entgeistigte Unterhaltungskitsch, der als dramatische Triebkräfte immer nur drei oder vier verstaubte Motive verwenden darf: Eifersucht, Gewinngier eines einzelnen Schurken (niemals einer Klasse!), den unlenkbaren Zufall und das inappellable„Schicksal"..Die Filmproduktionsmaschine ist bereits so genau auf diese Schablone eingestellt, daß sie sich auch alle jungen, anfangs rebellischen Kräfte unheimlich schnell assimiliert. Avantgarderegisseure,, die mit eincnt Film, der gegen das Klischee verstieß, einen Erfolg errangen, bleiben mit ihrer zweiten Schöpfung in neun von zehn Fällen bereits brav im „Rahmen des Gewohnten"; sie lassen sich vom Geld verlocken, oder sind des aufreibenden Kampfes mit den komplizierten Instanzen, die sich allem Lebendigen und Neuen in den Weg stellen, müde. Haben sie ein halbes Dutzend„kommerzieller" Filme gedreht, so verfallen auch sie in die Illusion, daß ihr Himbeerwasser noch inrmer Blut, ihr beschriebenes Papier noch'mmer Leben, ihr Zelluloidprodukt noch immer Wiedergabe der Wirklichkeit sei. Sie sind vom Mechanismus absorbiert und zu einem winzigen Rädchen ein?r großen Maschine geworden. Die Maschine läuft, und das Gesetz, das Menschen ihr aufgezwungen haben, ist längst ihr eigenes geworden. Sie anzuhalten, ihr eine neue Richtung zu geben, erfordert Mut, und Mut ist letzten Endes eine Frage des Geldes. Nur eine Filmgesellschaft, die es sich leisten kann, auf die halbe Erde als Absatzmarkt zu verzichten, vermag das Risiko eines Verstoßes gegen das unübersehbare Gewirr der Interessen und Vorschriften in allen Winkeln der Welt auf sich zu nehmen. Wie viele Filmproduzenten diesen Mut aufbringen, zeigt das Repertoire unserer Kinos; es sind im wesentlichen nur ein paar amerikanisch« Firmen. Krise? Blutarmut? Rundfunk? Fernsehen? Der Patient stirbt an Atemnot . Die Luft im Zimmer ist dick und stickig. Man müßte das Fenster öffnen— weit— um den hellen Tag hereinzulassen, seine betörende Musik, sein Rauschen und Wachsen, seinen Dust und seine Kraft. Vor dem Fenster jedoch stehen ängstliche Wächter, und so bleibt es geschlossen, dringt in den Raum vom Atem der Welt kaum ein leises Zittern, von der Größe der Himmel kaum ein fahler Abglanz, von den Wundern und Schrecken der Wirklichkeit kaum ein zaghafter Widerhall.
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15 (4.10.1935) 231
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