Mittwoch, 9. Oktober 1935 15. Jahrgang Einzelpreis 70 Henn (einxhlieUicb 5 Heller Porto) XENTRALORGAN DER DEUTSCHEN SOZIALDEMOKRATISCHEM ARBEITERPARTEI IN DER TSCHECHOSLOWAKISCHEN REPUBLIK ERSCHEINT MIT AUSNAHME DES MONTAG TÄGLICH FRÜH. REDAKTION UND VERWALTUNG PRAG XII.. FOCHOVA 62. TELEFON SNTP. HERAUSGEBER« SIEGFRIED TAUB. CHEFREDAKTEUR « WILHELM NIESSNER. VERANTWORTLICHER REDAKTEUR« DR. EMIL STRAUSS , FRAG. Europa blickt nach Genf Schicktalntunden der Völkerbünde» Bestrafung des Friedensbrechers oder Scheinsanktionen 7 Der Völkerbund tritt heute zu der bedeutsamsten und folgenschwersten Sitzung seiner bisherigen Geschichte und selbst dieses ereignisreichen Jahres zusammen. Er wird darüber zu entscheiden haben, welche Sanktionen, also welche Straf-, Sühne- und Zwangsmaßnahmen gegen Italien zu ergreifen sind, das nach dem einstimmigen Beschluß des Rates vcm Montag den Frieden und damit die Satzungen des Bundes gebrochen hat. Der ost zitierte Artikel 16 des Paktes hat folgenden Wortlaut: «Wenn ein Bundesmitglied unter Verletzung der durch die Artikel 12, 13 und 15 übernommenen Verpflichtungen zum Kriege schreitet, so wird cs ohne Weiteres so angesehen, als hätte es eine kriegerische Handlung gegen alle anderen Bundesmitgliedcr begangen. Dies« verpflichten sich, unverzüglich mit ihm alle Handels- und finanziellen Beziehungen abzn brechen, den Staatsangehörigen jeden Verkehr mit den Angehörigen des Vertragsbrüchigen Staates zu »erbieten und alle finanziellen, kommerziellen oder persönlichen Berbindungen zwischen den Angehörigen dieses Staates und denjenigen jede- anderen Staates akzubrechen, gleichviel, ob er dem Vunde angchört oder nicht. In diesem Falle ist der Rat verpflichtet, den verschiedenen beteiligten Staaten vorzuschlagen, mit welchen Land-, See- oder Luft streitkräften die Rundesmitglieder für ihren Teil z« der bewaffneten Macht beizutragen haben, die zur Wahrung der Bundespflichten bestimmt ist." 1. die Unterbrechung der diplomatischen Beziehungen, nicht aber der Konsularbeziehungen, 2. die Einschränkung des Post-, Eisenbahnverkehrs und der Verbindungen sonstiger Art, 3. wirtschaftliche Sanktionen im Sinne der Einschränkung der Ausfuhr bestimmter Warengattungen fest, die zu Kriegszwecken benützt werden könnten. Falls diese Maßnahmen Italien nicht zu größerer Nachgiebigkeit bewegen sollten, würde die Frage der Blockade erwogen werden, die von allen Mächten oder von einer oder zwei Mächten durchgeführt werden würde, die entsprechend den Weisungen des Völkerbundes handeln würden.^ Zu dieser letzten Art der Sanktionen würde der Völkerbund nur als zu äußersten Maßnahmen greifen, denn das würde bereits in den Charakter von militärischen Sanktionen fallen. Es ist wahrscheinlich, daß nur drejenigen Staaten, die entschwfsen sein werden, an den Sanktionen teilzunehmen, in dem mit der Koordinierung von wirtschaftlichen und finanziellen Sanktionen betrauten technischen Ausschuß vertreten sein werden. Am Jahr«.1921 hat der Völkerbund. dell Anhalt des Artikels 16 wie man sieht in sehr großzügiger Weise interpretiert und die Waffe der Sanktion stumpf gemacht. Mer nicht einmal diese Resolution ist ratifiziert worden, so daß die Gefahr besteht, daß der Bund zu weit geringeren Sanktionen greift. Soweit sich die Stimmung beurteilen läßt, die in den maßgebenden Ländern herrscht, so ist m England die Neigung zu scharfen Maßnahmen » gestiegen. Von den Konservativen bis zur Labour- Party und vom Erzbischof von Canterbury bis auf die äußerste Linke istdieNation einig in dem Verlangen, daß der Friedensbruch streng gerügt und alles getan werde, Italien zum Frieden zu zwingen. Von allen Blättern nimmt nur die„M orning Po st" einen abweichenden, nicht gerade italienfreundlichen, aber Sanktionen abgeneigten Standpunkt ein. Anders in Frankreich . Zwar hat die Opposition der Rechtskreise gegen die Sanktionen nachgelassen und die Linke nicht aufgehört, sie zu fordern, es ist aber in der Preffe und bei der Regierungsmehrheit die Tendenz unverkennbar, die Wirkung der Sanktionen abzu- s ch w ä ch e n, die Aktion hinauszuschieben und Mussolini durch eine Prämie für seinen Fricdensbruch zu einem friedlichen Ausgleich zu verlocken. Laval möchte auf zwei Stühlen sitzen: sich mit Italien nicht Überwerfen, aber der Schein der Völkerbundautorität wahren. Es ist eine überaus gefährliche Politik, die Frankreich da treibt. Sie könnte nur mit der Isolierung Frankreichs und einer Weiteren Annäherung Englands an Deutschland enden. Macht Frankreich diesmal den Völkerbund zum Gespött der Welt, so wird er in anderen Fällen erst recht Zersägen. Atalie n tritt in Genf immer noch sehr anmaßend auf und Aloisi bemüht sich, die offiziellen Lügen seiner Regierung recht und schlecht zu vertreten. An der italienischen Presse konzentriert sich die Hetze vor allem auf Lord Eden. Am übrigen deutet die Preffe an, daß Atalien nach dem»Sieg" bei Adua eher bereit sei zu verhandeln, da der„Ehrenpunkt" jetzt ausscheidet. Allerdings werde es nicht den ersten Schritt tun. „GazettadelPopolo" z.B. schreibt: Atalien gebe allen, die guten Willens sind, zu verstehen, daß es heute leichter sei, mit Italien zu verhandeln, als gestern, weil nach der Lösung der delikatesten Frage der Ehre und des Prestige, die nur eine Austragung mit den Waffen zuließ, über die anderen Probleme immer Verhandlungsmöglichkeiten bestanden hätten. Natürlich sei es nicht Sache Italiens , zu einer Beschleunigung zu treiben oder Angebote zu yr a ch e n. „P o p o l o d' A t a I i a" schreibt völlig größenwahnsinnig, mit dem 6. Oktober beginne eine neue Geschichte, die Geschichte des neuen Atalien Mussolinis, das sich seiner eigenen Macht und seines eigenen Rechts bewußt sei. Der Friede Europas stütze sich auf Atalien(I). Mit diplomatischem Betrug könne Atalien verurteilt werden, aber der Vormarsch des italienischen Soldaten, des italienischen Technikers sei der Vormarsch der Zivilisation. Am allgcmeineneglaubt man, daß Mus- s o l i n v aber gerade nach seinen Siegen zu ernsten Verhandlungen— auch wenn England sich soweit erniedrigte, sie aufzunehmen— nicht bereitfinden würde, lieber die Pläne Mussolinis gibt ein Bericht des Tsch. P. B. aus Rom intereffanten Ausschluß. Es heißt da: Italien bereitet sich schon seit längerer Zeit auf die Verteidigung gegen die Folgen wirtschaftlicher Sanktionen vor. An hiesigen Stellen wird versichert, dass die wirtschaftliche Stellung Italiens ziemlich stark ist, um diese Sanktionen für eine bestimmte Zeit ertragen zu können. Das Hauptstreben Italiens geht heute dahin, daß die Sankttonen nur sukzessive verwirklicht werden. In diesem Sinne entfaltete Rom in den letzten Tagen eine große diplomatische Tätigkeit, nicht nur in Paris , sondern auch in London . Mussolini unterscheide nach einer Ber - Der Wortlaut des Arttkels, statuiert in einer Zeit, da die Sieger von 1919 noch nicht dachten, daß zuerst einer von ihnen als Brecher des Vertrages dastehen würde, ist im Grunde eindeutig. Die dem Bunde angehörenden Staaten hätten im völlig eindeuttgen Sinne des Artikels 16 die Beziehungen zuIta« Iren abzubrechen und ihren Untertanen jeden Verkehr und alle finanziellen, kommerziellen und persönlichen Verbindungen mit Atalien zu untersagen. Das heißt, daß— eigentlich schon nach der Feststellung, daß Italien angegriffen hat— alle Bundesmitglieder den italienischen Gesandten die Päffe zuzustellen, den Eisen bahn -, Schiffs- und sonstigen Verkehr nach Atalien abzubrechen und die Grenze militärisch zu sperren hätten. Und all dies nicht schrittweise und verklausuliert, sondern«unver- z ü g l i ch". Die Aufgabe der Sitzung wäre es nach dem Wortlaut des Artikels 16 nur, nachdem der Angreifer festgestellt ist, die Stärke der militärischen Kontingente festzustellen, die von den einzelnen Mächten aufzubieten wären. Hier ergibt sich freilich schon eine ernste Schwierigkeit. Ein großer Teil der italienischen Landgrenze ist dem Friedensbrecher mit seinem Vasallenstaat Oe st erreich gemeinsam, deffen Regierung weder den Willen noch die Macht hat, eine Grenzsperre durchzuführen. Doch wäre das nicht entscheidend. Es steht außer Zweifel, daß die Durchführung der klaren Bestimmungen des Artikels 16 durch England, Frankreich , die Schweiz , Jugoslawien und die nicht an Atalien grenzenden Völkerbundstaaten Mussolini binnen wenigen Tagen auf die Knie und den Frieden in Afrika wieder herstellen, in Europa sichern körnte. Es liegt an der Uneinigkeit der Bundesmächte und der zwiespältigen Politik vor allem Frankreichs , wenn die Sttuation zur Ergreifung entschiedener und rascher Erfolg verbürgender Maßnahmen nicht reif ist. Ueber das Höchstmaß deffen, was der Völkerbund beschließen wird, unterrichtet die fol-, gende Reutermeldung aus Genf : An amüichen Stellen wird erklärt, daß Sanktionen entsprechend den Prinzipien der Resolution der Völkerbundversammlung vom 4. Oktober 1921 zur Durchführung kommen werden. Diese Prinzipien setzen Aufmarsch der Abessinier Die italienische Offensive unterbrochen Ein Tas ohne größere Kämpfe Die gestrigen Meldungen von den abessinischen Kriegsschauplätzen lassen trotz aller Widersprüche doch den Schluß zu, daß der italienische Elan durch die unerwarteten Schwierigkeiten vor Adua und Adigrat gedämpft ist. Die Italiener hakten es für rötlich, schon nach den ersten Kilometern ihres Bormarsches eine Pause einzuschalten, um sich auf dem gewonnenen Terrain zu sichern. Eine Meldung des Reuter-Bureaus, wonach Aksum gefallen sein sollte» wurde in Rom selbst dementiert. italienische Kolonialtruppen übergegangen? Addis Abeba . Die Nachrichten-Uebermittlung funktioniert sehr uneinheitlich. Meldungen von der Nordfront laufen nur sehr spärlich ein, da die einzige Telephonleitung Adua—Makale—Dessie —Addis Abeba seit der Einnahme Aduas unterbrochen ist. Die abessinische Regierung behauptet neuerdings, daß eine große Zahl von Eingeborenen aus Erithräa von den Italienern überlaufen sei und die abessinische Grenze, insbesondere im Bezirk Machale überschritten habe. Die Ueberläu- fer hatten zahlreiche Maschinengewehre mitgebracht. Vor einer Schlacht bei Makale Während die italienischen Berichte den Rückzug Ras Sayums melden, behaupten die Abessinier, die den italienischen Vormarsch in der Provinz Tigre westlich des Takase-Flusses zugeben, daß der rechte Flügel der italienischen Arinee im Norden von einem dreifachen Strom abessinischer Truppen bedroht ist, die unter der Führung von Ras Sayum, Dedschamatsch Ajel und Ras Kassa stehen. Ras Kassa rückt air der Spitze von 30.060 Mann zum Flusse Setit an der eriträisch- abessinischen Grenze vor. Auch im Gebiete von Makale werden starke Abteilungen konzentriert und man erwartet, daß es dort zu einer Schlacht kommen wird. Ras Sayum teilte telegrafisch mit» daß er einen italienischen Oberst und 30 Offiziere gefangengenommen habe. D^r Negus wünscht jedoch nicht» daß die Gefangenen in die Hauptstadt gebracht werden, weil er befürchtet, daß es unter der Bevölkerung zu Ausschreitungen kommen könnte. Todesleslonen Ueber London aus Addis Abeba eingelangte Nachrichten besagen, daß die sogenannten abessinischen Todeslegionen insgesamt fünf, von welchen jede 300 Mann zählt, nach Atalienisch- Erithräa eingebrochen sind und die Stadt Adi Caie besetzt haben. Diese Meldung wurde von Rom dementiert, von Addis Abeba jedoch neuerlich bestätigt. Vormarsch in Somaiitand An der Südfront rücken die italienischen Truppen in zwei Richtungen vor, und zwar von der Basis Dolo-Uet in der Richtung auf den Ganala-Doria-Fluß und von der Basis Ual-Ual in nördlicher Richtung auf Sasabaneh. Ado, rtörd- lich von Ual-Ual, ist Montag von den Italienern besetzt worden. Bisher unbestätigten Nachrichten zufolge wurde der Ort Dolo wieder erobert. Per italienische Heeresbericht: ' Im Verlauf des 7. Oktober haben die Truppen, die jenseits von Adua besetzten Stellungen ausgebaut und die Verbindungslinie und den Zubringedienst organisiert.- Zahlreiche Pionierabteilungen und eine große Anzahl von Arbeitern haben die rückwärtigen Verbindungen derart instandgesetzt, daß die Autokolonnen bereits regelmäßig bis an die Front herankommen können. Ein Gegenangriff auf Odmager wurde von den aus dem Grenzgebiet von Teffenei stammenden Askaris zurückgeschlagen. Die Bevölkerung der besetzten Gebiete hat unter dem Kultursvmbol der italienischen Trikolore ihr normales Leben wieder ausgenommen. Bei den Operationen der letzten Tage wurden Hunderte von Gefangenen gemacht und viel Kriegsmaterial weggenommen. Angesichts der auf italienischer Seite verwandten Schutzmittel sind die italienischen Verluste minimal. Die abessinischen Verluste sind, wenngleich noch nicht feststellbar, schwer. Die Stimmung aller Truppen ist vorzüglich. Diplomatische Beziehungen abgebrochen Addis Abeba. (Tsch. P.-B.) Die abessinische Regierung hat ihrem Charge d'affaires in Rom die Weisung erteilt, die Zustellung des Reisepasses anzufordern. « Genf. (Tsch. P.-B.) Der abessinische Gesandte Tecle Havaxiate überreichte dem Völker« b und rat eine Note, in welcher die abessinische Regierung auf den Umstand aufmerksam macht, daß sie dem italienischen Gesandten in Addis Abeba die Erlaubnis erteilt hat, im Lande zu verbleiben, obwohl Italien gegen Abessinien Krieg führt. ES geschah das unter der Bedingung, daß die italienische Gesandtschaft ihren Radio-Sendeapparat nicht benützen und keine innerpolitischen Schwierigkeiten in Abessinien Hervorrufen werde. Doch wurde das gegebene Versprechen gebrochen und die ttalienische Gesandtschaft entpuppte sich al- Zentrum von Spionage und Komplotten. Die abessinische Regierung hat deshalb das gesamte Personal der italienischen Gesandtschaft aufge- fovdert, Abessinien sofort zu verlassen. Für die Sicherheit der italienischen diplomatischen Personen sowie für das Archrv der Gesandtschaft wird die abessinische Regierung Sorge tragen. Flucht der Europäer aus Addis Abeba Wie aus Addis Abeba gemeldet wird, haben Dienstag früh zahlreiche Fremde die abessinische Hauptstadt mit einem Sonderzug nach Dschibutti verlaffen. Unter ihnen befanden sich, dem Reuter- Büro zufolge, 20 Amerikaner, 37 Aegypter, 20 Deutsche , sowie Franzosen , Griechen und Armenier. Auch 40 Eingeborene, Angestellte der italienischen Gesandtschaft und des Konsulates in Debra Markos, waren unter den Fahrgästen.
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15 (9.10.1935) 235
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