Samstag, 2. November 1935

Nr. 255

15. Jahrgang

Etezelpnlt 70 Heiter (einschließlich 5 Heller Porto)

T.ENTRALORGAN DER DEUTSCHEN SOZIALDEMOKRATISCHEN ARBEITERPARTEI IN DER TSCHECHOSLOWAKISCHEN REPUBLIK ERSCHEINT MIT AUSNAHME DES MONTAG TÄGLICH FRÜH. Redaktion und Verwaltung frag xu., fochova a. Telefon smzz. HERAUSGEBER. SIEGFRIED TAUB . CHEFREDAKTEUR ; WILHELM NIESSNER. VERANTWORTLICHER REDAKTEUR. DR. EMIL STRAUSS. FRAG.

Revolverattentat gegen den chinesischen Ministerpräsidenten Nanking. Der Ministerpräsident und Außenminister der Nanking -Regierung Wang- tschingwei wurde am Freitag bei der Eröffnung des Kongresses der Nationalpariei Kuo­mintang durch ein Rrvolverattentat schwer verletzt. Außerdem wurden noch zwei Delegierte des Kongresses durch Schüsse getroffen. Der Ministerpräsident wurde sofort operiert und es besteht die Hoffnung, ihn am Leben zu erhalten. Der Attentäter soll die Tat deshalb begangen haben, weil er die japanophile Politik der chinesischen Regierung nicht guthieß. Außer ihm wurden zwei seiner Mitschuldigen sowie sechs weitere Personen in Haft genommen, die der Mitschuld verdächtigt werden.

Soziailstenprozeß in Hamburg Der Staatsanwalt droht mit Todesstrafe Sozialdemokraten und Kommunisten wer­den in Deutschland dauernd verhaftet, in Kon­zentrationslager gebracht oder von nazistischen Gerichten zu hohen Strafen verurteilt. Die Welt erfährt von diesen selten etwas genaues. Jetzt liegt uns ein authentischer Bericht über eine Ge­richtsverhandlung vor, die am 15. Oktober in Hamburg gegen die Sozialdemokraten Ober« holt, KieraS, Thron, Schuhmacher und Goldenhauer geführt wurde. Sämt­liche Angeklagten waren beschuldigt, sozialdemo­kratische Druckschriften, die aus Kopenhagen ge­kommen waren, verbreitet zu haben. Die beiden ersten Angeklagten erhielten vier Jahre Zucht­haus und vier Jahre Ehrverlust, die drei anderen eineinhalb bis zweieihalb Jahre Zuchthaus mit entsprechend langem Ehrverlust. Der Staats­anwalt Behr hatte für den Hauptangeklagten sieben Jahre Zuchthaus gefordert und u. a. aus­geführt: .,Wer mit Leuten, die vom Ausland her Hochverrat treihen. Verbindung hat und sich ver­leiten läßt usw. gleichgültig ob SP!. oder KPD , wird hier als Hochverräter behandelt und auf Jahre hinaus unschädlich gemacht. Nötigen­falls wird ihm der Kopf vor die Füße gelegt. Das erklärt auch jeder Kommunist, daß er nicht daran denke, im gegen­wärtigen Zeitpunkt mit Knüppeln und Dolchen auf die Straße zu gehen, um die Hitlerregierung zu stürzen, aber was diese Berufsverbrecher politischer Prägung verbindet, ist das Warten auf die be­kannte und erhoffte revolutionäre Situation-" M Der Staatsanwalt erklärte, erst in den letz- ten Tagen sei es gelungen, das Netz einer hoch- berräterischen Verschwörung der Sozialdemokra­tie, die in Kopenhagen ihren Sitz habe, aufzu­decken. Dieser Prozeß sei nur der Vorläufer eines gewaltigen Hochverratsprozesses gegen die Draht­zieher im Dienste der Hochverräter von Kopen­ hagen . Als Hauptschuldige bezeichnete er die Sozialdemokraten Auhagen, Marzinski, Schmedemann und D u w e. Prozeß Thälmann Berlin. Im Laufe des Monats Novem­ber soll daS Verfahren gegen den deutschen Kommunistenführer Thälmann , der sich seit lan­gem in Moabft in Hast befindet, eröffnet werden.

Die Schweizer Mandatszifffern definitiv 61 neue Männer Bern . Die Endergebnisse der Wahlen in den Rationalrat bestätigen die Zahl der Mandate der einzelnen Parteien, wie sie am Dienstag bekannt­gegeben wurde. Ein Drittel deS Nationalrates setzt sich aus neuen Mitgliedern zusammen. Siebenunddreißig bisherige Mitglieder haben Nicht mehr kandidiert und vierundzwanzig bis­herige Nationalratsmitglieder wurden nicht wie- dergewählt. Dar glückliche Oesterreich... , Linz. Die Gemeindevertretung in Linz be­schloß, den Mietzins in Gemeindebauten um 2 0 auf 60 Prozent zu erhöhen. Die Stadt Linz hat in den letzten Jahren etwa 400 neue Wohnungen gebaut. Salzburg . Das hiesige Schwurgericht verur­teilte den ehemaligen Salzburger Gaukomman­danten der illegalen nationalsozialisti­schen Organisation, den pensionierten Landes« gerichtsratDr. Jenewein, wegen Geheim- bündelei zu 18 Monaten Arrest, einen seiner Genossen, Mitglied der gleichen Organisation, zu acht Monaten und vier weitere Angeklagte zu sechs bis zwölf Wochen Arrest. Kondylls verbannt die republikanischen Führer Athen . Die Regierung Kondylis Hai di- beiden republikanischen Führer P a p ä n d r e u und Papanastasia des Landes verwiesen. Papanastasiu hat angeblich den Versuch unternom­men, Flugzettel zu verteilen, in denen die griechi­ sche Armee zum Ungehorsam aufgefordert wurde.

Der Attentäter wurde ursprünglich für eine» japanischen Journalisten gehalten. Es handelt sich jedoch um den 20jährigen Chinesen S« n f e n- m i n, der sich in ausländischer Kleidung an den Ministerpräsidenten herangrmacht hatte und den Revolver unter dem Ueberzieher verbarg. Der Attentäter wurde von der Leibwache des Ministerpräsidenten niedergeschossen und in schwer verletztem Zustande in dasselbe Kran­kenhaus transportiert, in das der Ministerpräsi­dent gebracht wurde. Das Krankenhaus ist von einem starken Polizeikordon umstellt. Es verlautet, daß über Nanking bereits daö Standrecht verhängt wurde. Der Kongreß der Kuomintang, auf dem über die chinesisch- japanischen Beziehungen verhandelt werden sollte- ist auf unbestimmte Zeit vertagt worden. Die Meldung, daß der Ministerpräsident seinen Verletzungen erlegen sei, wurde bald dementiert. Nach den letzten Berichten hat sich sein Zustand gebessert. Wangtschingwei wurde von drei Kugeln im Gesicht,-im Rücken und an der Lunge verwundet. Der Attentäter wurde von dem Gene­ral Tschanhuljan, dem ehemaligen mandschuri­schen Kriegsminister, entwaffnet. Vorher hatte schon der Delegierte Tschantschi, eines der ällesten Mitglieder der Kuomintang, den Ministerpräsi­denten mit seinem eigenen Leibe ge­deckt, wobei er selbst verwundet wurde. Der An­schlag wurde in dem Augenblick verübt, als"die

Delegierten des Kongresses in Gruppen beieinan­der standett und sich lächelnd den Photographen stellten. Tokio rechnet mit Kurswechsel Tokio . Das Attentat in Nanking wird vom Hiesigen Außenministerium bedauert. Es wird vermutet, daß nunmehr mit einem Kabi­nettswechsel in China gerechnet wer­den müsse, der Störungen in den chinesisch-japa­nischen Beziehungen zur Folge haben könnte. Die Frage der Nachfolge Wangtschingweis sei für die Beziehungen Japans zu China von großer Bedeu­tung. Die Presse betont in ihren Kommentaren, daß Wangtschingwei die stärkste Stütze T s ch a n g k a i s ch e k s war. Schanghai . Der Anschlag auf den Minister­präsidenten Wangtschingwei hat bei der Schang­haier Bevölkerung große Unruhe hervorge­rufen. Ueberall auf den Straßen bilden sich Gruppen, die das Ereignis erregt besprechen. Die Polizei patrouilliert zu Pferde durch die Stadt und ist bestrebt, größere Ansammlungen zu zer­streuen. An der Schanghaier Börse haben die Nankinger Ereignisse einen Kurssturz zur Folge gehabt, dem vor allem die Regierungspapiere ausgesetzt waren. Auf Anordnung der Regierung ist die B ö r s e g e s ch l o s s e n worden.

LlqHidlcning des Nlctcrsdiutzcs? Ein geianrltdier Plan Dfit dem Ende des Jahres läuft die Gültig- keit des jetzt bestehenden Mieterschutzgesetzes ab. Damit wird die Frage des Mieterschutzes erneut in den Brennpunkt der sozialpolitischen Auseinan­dersetzungen gerückt. Seit dem Bestehen der Mie- terschutzgesetzgebung wird sie von den Hausbesit­zern auf das heftigste bekämpft. Sie hatte sich während des Krieges zum Schutze der Angehöri­gen der im Felde weilenden Soldaten als eine soziale Maßnahme den Regierenden aufgezwun­gen. Mit der Erstarkung des Einflusses der ge­werkschaftlichen und politischen Arbeiterbewegung nach dem Kriege war die- Mieterschuhgesetzgebung bei uns und auch in einer Reihe anderer europäi­scher Länder zu einer sozialen Wohnungsgesetz- g^bung ausgebaut worden. Aber wie auf anderen Gebieten so hatten auch im Wohnungswesen die Vorstöße der sozial­feindlichen Jntereffentengruppen und der Reak­tion überhaupt wachsenden Erfolg. Der Mieter­schutz und die staatliche Wohnungsfürsorge wurde in der Mehrzahl der Länder schon vor einer Reihe von Jahren arg durchlöchert und in fortschreiten­dem Maße abgebaut. Dieses Vordringen der Reaktion im internationalen Ausmaße begünstigte auch bei uns die Bestrebungen zur Aufhebung des Mieterschutzes. In den letzten zehn Jahren ist diese Frage ost auf der Tagesordnung gestanden. Besonders während der kurzen Zeit der Bürgerblockregierung ist sie in der einseitigsten Weise nach den Gesichts­punkten der Hausbesitzerintereffen beantwortet worden. Der Mieterschutz wurde erheblich gelockert und nur dem hartnäckigsten Widerstand der So­zialdemokraten war es zu danken, daß die Pläne der Hausbesitzer und der bürgerlichen Parteien nicht in weitergehendem Umfange zur Durchfüh­rung kommen konnten. Mit der Verschärfung der Wirtschaftskrise wurden die Angrifte gegen die Mieterschutzgesetzgebung immer heftiger und die Bemühungen der inzwischen in die Regierung ein­getretenen Sozialdemokraten, das Problem des Mieterschutzes und die staatliche Bausörderung in großzügiger Weise zu regeln, scheiterte an dem Widerstand der Hausbesitzerinteressen und der bürgerlichen Parteien. Die bürgerliche Mehrheit im Parlament und in der Regierung setzte schließlich immer mehr Lockerungen der Mieterschutzgesetzgebung durch. Immerhin gelang es den äußersten Anstrengun­gen der Sozialdemokraten, wenigstens für die minderbemittelten Bevölkerungsschichten den Mie­terschutz im wesentlichen zu erhalten. Das Gesetz, das am Ende dieses Jahres abläuft, trat im Feber 1034 in Kraft. Es erleichterte dem Hausbesitzer die Kündigung, nahm die Dreizimmerwohnungen vom 1. Jänner 1935 ab gänzlich aus dem Mieter­schutz heraus und hob außerdem jegliche Bestim­mungen des Gesetzes für solche Mieter auf, deren Einkommen 24.000 Kronen jährlich, sofern sie noch für eine weitere Person zu sorgen haben, 36.000 Kronen übersteigt. Bon dem Beratungskollegium für Woh­nungsfragen ist nun ein neuer Wohnungsgeseh- entwurf ausgearbeitet worden, der in erschrecken­der Weise erkennen läßt, daß die Mehrheit dieses Beratungskollegiums sich nicht von sozialen Ge­sichtspunkten, insbesondere nicht von den Inter­essen der minderbemittelten Bevölkerungsschichten hat leften lassen. Dieser Gesetzentwurf fordert nicht weniger als nach einer gewissen Uebergangs» zeit die völlige Aufhebung bet Mieterschutzgesetz­gebung. Diese weitgehende Forderung wird in einer Weise begründet, die nicht sachlich genannt werden kann und die schärfste Zurückweisung ver­dient. Es heißt in der Begründung, daß die letzte Reform der Wohnungsfrage auch denjenigen kei­nen Nutzen gebracht habe, für die das Gesetz be­stimmt war, umgekehrt aber das Baugewerbe und die Bauindustrie sowie auch die Arbeiterschaft ge­schädigt habe. Diese Behauptung steht im vollen Umfang im Widerspruch, zu den Tatsachen. Denn dadurch, daß es den Bemühungen derSozialdemo- kraten gelang, bei der letzten Reform den Mieter­schutz für die Ein- und Zweizimmerwohnungen und für alle Mieter mit wenigerals 24.000 Kro­nen Einkommen jährlich zu erhalten, sind diese Mieter vor empfindlichen Mietzinssteigerungen und dadurch vor einer Verschlechterung ihrer so­zialen Lage bewahrt worden. ES.ist weiter falsch.

Lenk rechnet mit einem halben Jahr Sanktionsdauer

Genf . Nach Genf kamen bereits am Don­nerstag und Freitag die Staatsmänner, die auf der Sanktionskonferenz und dann in Privatbe­ratungen die Fragen durchberaten sollen, die den abessinisch-italienischen Konflikt betreffen. Freitag vormittags fand bei Laval eine diplomatische Zusammenkunft statt, zu der Laval die britischen Minister Hoare und Eden eingrladen Hatte. Die drei Staatsmänner behan­delten den französisch-britischen Standpunkt be­treffend die weitere Lösung des afrikanischen Konfliktes sowie gewisse Probleme, die die Sank­tionen betreffen. Der Sprecher der britischen Delegation er­klärte, die englische Delegation sei mit den Bera­tungen zufrieden. Laval stimme mit den britischen MinisternHoare und Eden in derForderung über­ein, daß der Koordinationsausschuß aufgefordert werde, das nächstmögliche Datum fest- zulegen, zu welchem die Sanktionen Geltung er­langen sollen. O Bon der Sanktionskonferenz tagte am Frei­tag bloß derFinanzausfchnß, der sich mit der Frage des Clearings der Mitgliedsstaa­ten mit Italien beschäftigte, die durch die Ver­treter der Kleinen-Ententrstaatrn angeschnitten worden ist. Es zeigte sich, daß die Liquidierung der Forderungen an Italien sehr schwierig sein werde, wenigstens vor der Erledigung des abes­sinisch-italienische« Konfliktes. Wirtschafts-Sanktionen ab 15. November? Genf . Minister Titulescu verhandelte Freitag mit Minister Hoare über die Fragen, welche die Staaten der Kleinen Entente interessieren. Im Achtzehnerausschuß wurden einige' Fragen betreffend die wirtschaft­lichen Sanktionen, insbesondere das Problem des Clearingsabkommens

mit Italien , behandelt. Ein Einvernehmen über die Lösung dieses Problems konnte auch nach einer achtstündigen allgemeinen Debatte nicht erzielt werden, weshalb der aus Vertretern Griechenlands , Englands, Spaniens , Frankreichs , Jugoslawiens und Rumäniens zu­sammengesetzte Sonderausschuß noch gestern abends zusammentrat, um einen praktischen Vorschlag zur Liquidierung der For­derungen der Mitgliedstaaten, welche Sanktionen gegen Italien durchführen, auszuarbeiten. Der Achtzehnerausschuß wird heute seine Verhand­lungen über die Clearingfrage abschlietzen und zur Behandlung weiterer Probleme der wirt­schaftlichen Sanktionen schreiten. Man rechnet damit, daß die diplomatischen Beratungen in Genf bereits heute abends abgeschlossen werden. Es heißt, daß das Datum des 15. November für die Durchführung der Sanktionen heute von der Konferenz genehmigt werden wird. Jugoslawiens Finanz-Sanktionen in Kraft Belgrad. (Avala.) Gestern traten in Jugo­ slawien die finanziellen Sanktionen gegen Ita­ lien in Kraft. Der Finanzminister veröffentlichte ein diesbezügliches Dekret, durch das jedwede Anleihen an die italienische Regierung ebenso wie alle Bankkredite, aus denen die italienische Regierung direkt oder indirekt einen Nutzen ziehen könnte, verboten werden. Mussolini organisiert Gegenwehr gegen die Sanktionen Rom . Ministerpräsident Mussolini empfing Donnerstag im Palazzo Venezia Vertreter des| Jnduftriellrnverbandes, die Vorschläge unterbrei­teten, wie den Sanktionen entgegengetreten wer­den könne. Der Ministerpräsident setzte persön­lich die Hauptgrundriffe dieses Aktionsplanes fest.