Nr. 270

Leo Tolstoi

Zu seinem fünfundzwanzigsten Todestag am 20. November Von Hermann Wendel .

In der Erinnerung lebt der fast zum Mythos getvordene Tolstoi des letzten Lebensjahr zehnts: ein Prophet des Alten Testaments , wei­Ber Bart, der im Winde flattert wie eine Fahne. glühende Augen in eingefallenem, hagerem

Mittwoch, 20. November 1935

riß. Aber auf dem neuen Weg stürmte Tolstoi Einzelnen alles, die politisch- soziale Umwälzung

mit der Leidenschaft hin, mit der er alles an- der Gesellschaft nichts. Jede politische Aktion

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Flugzeuge,

Geite 5

die die Erde verschlingt

,, Niemand macht sich einen Begriff davon, welche ungeheuer großen Anlagen da gebaut worden sind. Die ganze Anlage ist ein Wunder der Technik. Dort, wo ich gearbeitet habe, liegen die Parkpläße der Maschinen alle unterirdisch und eine große Strecke vom Start- und Lan­dungsplatz entfernt. Ueber den Parkplatz wächst Wald. Von ihm aus läuft bis zur Startstelle eine unterirdische Anrollstrecke."

,, Man kann die Maschinen natürlich landen sehen, man sieht auch wie und wo sie im Boden verschwinden, dann ist man aber kaum mehr in der Lage, bei der Größe der Anlage den Punkt auch nur einigermaßen sicher zu bestimmen, wo die Flugmaschine verschwunden ist.

Die unterirdischen Gänge und Unterstände find mit Beton und Stahl abgedeckt und tragen außerdem noch eine viele Meter dicke Erdschicht, in die Bäume gepflanzt werden.

packte, blieb gar nicht bei der Kirche und ihrem schien ihm eitel und nutzlos, und ob er einst wohltemperierten Gottesglauben stehen, sondern Proudhon aufmerksam angehört hatte, stand ihm stieß mit wilder Tatkraft bis zum Ur christen- vom Sozialismus doch nur ein Zerrbild vor Von den neuen unterirdischen Flughäfen tum durch, wo es am urchristlichsten war. So- Augen, da er ihm wie irgend ein kleiner Spieß­( F. K.) Ein Mann, der bei Hannover an fort stellte er unerfüllbare Forderungen für die bürger nachsagte, er wolle nur die niedrigste einem unterirdischen Flughafen mitgebaut hat, Menschheit auf, als sei ihre Erfüllung ein Kin- Seite der menschlichen Natur befriedigen: das erzählt unserem Berichterstatter folgendes: derspiel. In der Kreuzersonate", die in Streben nach materiellem Wohlergehen". Daß ihrer ganzen Ausdruckweise mit Liederlichkeit, gar die Revolutionäre sich seiner Schriften be Unsittlichkeit, Laster, Lüsternheit, Ausschweifung" dienten, dünfte ihn nicht anders, als benutzte man für die einfachsten und selbstverständlichsten Hand- das Evangelienbuch, ein Dorf in Brand zu stek­lungen fatal an den Traktätchenstil der Inneren ten. Aber wenn sich in diesem auch seelisch un­Mission erinnert, verdammte und verdonnerte er geheuren Rußland, das einen Rasputin wie die Liebe zwischen Männlein und Weiblein als einen Lenin gebar, Tolstoi in allem Positiven das Widernatürliche" und pries und predigte die eher mit dem Wundermönch berührte, kam er im vollständige Keuschheit" kaum noch einen Negativen an den Marrjünger heran. Ob er auch Schritt von dem sonderbaren Heiligen des Alter- von ganz anderen Voraussetzungen ausging und tums, Origon e 3, entfernt, der, allen Anfech- zu ganz anderen Folgerungen gelangte als der tungen zu entrinnen, das bewußte Glied kurzer Sozialismus, seine kühne und leidenschaftliche Hand herausriß. Kritik an dem geltenden Herrschaftssystem, am Aber dieser Sturz ins Urchristentum war Gewaltstaat, an der Ausbeutung, Versklavung nicht von ungefähr, und es war auch teine Mas- und Verdummung des Menschen durch den Men­terade, wenn 3lija Repin den Grafen Tol- fchen, sein unbeirrbarer und rücksichtsloser Pros stoi dieser Jahrzehnte als Bauern hinter dem test gegen den Krieg, gegen die Todesstrafe, gegen Pflug malte: in Bauernkittel, Bauernstiefeln, die Galgen und Greuel der Gegenrevolution Bauernmüße. Das Rußland , in dem der Dichter wirkte, ohne daß er es wollte, als Dynamit in aufivuchs, war noch ein rein agrarisches Land; dem Gesellschaftsbau des zaristischen Rußland . seine entscheidenden Eindrücke empfing er auf dem Unbewußt war Tolstoi der erfolgreiche Wegbe Landgut seiner Eltern; das größte Ereignis in reiter der russischen Revolu der Zeit seiner Reife war nicht der Krimtrieg, tion. sondern die Bauernbefreiung von Darum begehen die Sowjets, die seine reli 1861, und als legitime Typen lebten in seiner giösen Schriften in den Giftschrank gesperrt Welt nur der Beackerer der Scholle und der Aus- haben, am 20. November den fünfundzwanzig­beuter des Beaderers, der Landmann und der sten Todestag Leo Tolstois durch Vorträge und Schwärmerantlig und eine eifernde Stimme, bins Landedelmann. Da der rastlose Sucher nach See- Leseabende landauf, landab und durch eine be­dröhnend über die Lande. Verblaßt ist daneben lenfrieden bei dem einen Pol seiner Gesellschaft, sondere hochoffizielle Gedenkfeier im Tolstoi­das Bild des Tolstoi früherer Entwicklungsspander aufgeblähten, selbst zufriedenen Verworfen Museum zu Jasnaja Poljana . Aber wo immer nen, des jungen Nichtstuers, der bei Wein und heit in Epauletten und Krinolinen", kein Genüge die Lagerfeuer der großen Freiheitsarmee der Zigeunermusik in einer Nacht ein Vermögen ver- fand, fühlte er sich von ihrem anderen Pol, dem Menschheit flackern, erinnert man sich zu diesem ſpielte und nach späterem zerfnirschtem Einge- simplen M us ch it, magnetisch angezogen. In der Tag des genialen Dichters und tapferen Beken­ständnis ein unermüdlicher Hurer" war, des Tat fog die Doktrin des Propheten Tolstoi ihr ners. Ja, wie ein Elementarereignis tam er über Artillerieleutnants, der im Krieg und Frieden , Wesentlichstes aus der Welt des Mir, der das alte Europa , Flammenzeichen am Horizont, im Guten und Schlimmen dahinlebte wie alle bäuerlichen Dorfgemeinschaft, in deren Rahmen daß die Grundfesten der überlieferten Ordnung Offiziere des weißen Baren, des Europareisen- der Einzelne fast ein Pflanzendasein führt, im allenthalben am Wanken sind. den, der unerschöpflich an guter Laune und tollen Wechsel der Monde das Feld bestellt, den Winter Streichen schien, des Landedelmannes, der auf auf der Ofenbank verdämmert, Schicksalsschlag jeinem Gut bei Weib und Kind, seinen frischen mit dumpfer Ergebenheit hinnimmt, Speise und literarischen Ruhm begießend, alles Grübeln weit Trant, Gewand und Hausgerät selbst erzeugt, bon sich wies und alles Glück gefunden zu haben nichts weiß und nichts braucht von der Welt drau­wähnte. Aber auch nach der inneren Einkehr Ben, teine Beitung, feine Wissenschaft, keine Stadt, Wachsende Arbeitslosigkeit im Reich bäumte sich ungeheures Lebensgefühl in diesem feinen Staat, ein neben der Geschichte herleben­Die Prager Presse" meldet aus Berlin : In Deutschland werden an den verschieden begnadeten Menschen; noch der Siebenundsechzig der Mensch, den für die Unterdrückung durch die jährige lernte radfahren, und der mehr als Acht- Büttel des Barismus eine mystische Gottverbun Das Abflauen der Staatskonjunktur hat sten Orten unzählige Anlagen solcher Art er­richtet. Die dabei Beschäftigten sind in der zigjährige mußte jeden Morgen einen Gaul zivi- denheit entschädigt. Dieser russische Bauer des dazu geführt, daß zahlreiche metallverarbeitende Regel durch Eid zu absoluter Schweigsamkeit schen den Schenkeln spüren. Der in der Steppe Mir, ins Geniale gesteigert, ist der spätere Tol- Betriebe ihre Belegschaften erheblich reduzieren verpflichtet worden. Teilweise wurden sie auch Hammelfleisch aus Holzschüsseln schmauste, sich stoi, der sich rüstig daran machte, alle überliefer­bei den Tartaren von der Heilkraft der gegorenen ten Begriffe der abendländischen Zivilisation mit mußten. Die Firma Siemens hat in den für die Dauer der Arbeit in die Armee aufge­Pferdemilch überzeugte und sich daheim entzückte, der Holzart zu zerhacken. Aber sein Leben und letzten Tagen 2500 Arbeiter entlassen. nommen und vereidigt.

LA. TOLITOS

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Volkswirtschaft und Sozialpolitik

Diese

daß beim üblichen Verbrüderungskuß am Osters selbst sein Sterben, das er zum Kunstwerk im Mehrere hundert Arbeiter, die in den Maschinen­ſeſt die Bärte der Bauern nach grühling tochen, Sinne ſeiner Lehre gestalten wollte, erwies bün- fabriken Argus und Amb i beschäftigt waren, war allezeit ein Na turkindund Sinnen- dig den Unsinn und die Unmöglichkeit dieser fana- sind gleichfalls erwerbslos geworden. mensch mit hundertfältig aufgeschlossenen Or- tischen Feindschaft gegen die durch die Arbeit von ganen, um alle Wunder des Daseins zu erhaschen. Jahrtausenden aufgespeicherte Gesittung. Da er Krisenerscheinungen greifen auch auf andere In­Auf dem Grund dieser Eigenschaft erwuchs am Abend seiner Tage aufbrach, als Pilger und dustriezweige über. Osram hat mit 1000 Ar­die große St in it I er schaft des Erzäh Gottsucher unerkannt auf den Landstraßen zu beitern, die große Schokoladefabrik Trumpf lers Tolstoi, die ihn neben 3o la und 3 bien wandern und zu enden, steckte er doch etwas Geld mit fast 300 Arbeitern das Arbeitsverhältnis ge­zum Stammvater des modernen Realismus ein, das er verabscheute, und setzte sich in die ihn noch verstand, den Spitznamen Dünnhäuter", fällige auf einer kleinen Station legen mußte, Deutschen Arbeitsfront über Arbeiterentlassungen. macht. Nicht umsonst gab ihm seine Frau, als sie Eisenbahn, die er haßte, und als sich der Hin löst. Zahlreiche Betriebe verhandeln mit der Denn er hatte die feinsten Nerven, um jede Re- standen die Großen der medizinischen Wissen- Bei der Arbeiterschaft des Ruhrgebies gung der Landschaft, jede äußere oder innere Be- schaft, die er ablehnte, um sein Lager, und Tele- te 3 macht sich infolge der immer afuter werden­wegung der Menschen aufzunehmen und wieder- phon und Telegraph, die er verachtete, trugen den Lebensmittelteuerung eine erhöhte Er zugeben. Seit er in seinem Frühwerk Se was am 20. November 1910 die Kunde von seinem regung bemerkbar. Die Arbeiter haben an topo I" den Krieg nicht als heroisch- romanti- Tode in alle Welt. Die Zivilisation ließ ihrer mehreren Orten in zahlreichen Betrieben ihrer schen Firlefanz, sondern in seinem wahren Be- nicht spotten. Unzufriedenheit auf recht deutliche Weise Aus­ſen, in Blut, in Leiden, in Tod" malte, recte sich Da das Chriftuswort Ich aber sage euch, druck gegeben. In vier Zechen der Rheinischen seine Darstellungskraft immer mehr in die Breite daß ihr nicht widerstreben sollt dem Uebel", für Metallwerte in Düsseldorf wurden Versammlun­und in die Tiefe. Romane wie Krieg und Tolstoi den Schlüssel zur Erkenntnis abgab, war gen abgehalten, in denen die Arbeiter die Forde Frieden"," Anna Karenina " und auch ihm die sittlich- religiöse Vervollkommnung des rung nach einer Teuerungszulage erhoben. Auferstehung" gleichen gewaltigen Fels­

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blöcken, die das Staunen und die Bewunderung| der Menschen wecken werden, solange es eine russische Literatur gibt, und wieviel faukasische Gebirgsfrische weht noch aus einem Alterswert twie adschi Murat"! Wahrheit, Klarheit, Einfachheit, Anschau­licht, AI I verständlichkeit sind die großen Tugenden des Gestalters Tolstoi , der da­zu wie selten einer den langen Atem des gebo­renen Epikers hatte: seine Gipfelleistung Krieg und Frieden " ist ein ganzer Kosmos, eine Welt für sich mit einem fast unübersehbaren Gewim­mel von Menschen, die alle gleich liebevoll ge=| schaut und geschildert sind; der Dichter selbst, boll gerechten Stolzes verglich diese Bände der home-| rischen Ilias. Aber es kam der Augenblick, da der Vater seine Kinder verdammte und nicht nur Shakespeare als Schriftsteller vierten Ranges" beiseite schob und Goethes selbsts| bewußtes Heidentum" schmähte, sondern mit der gesamten Kunst die eigenen Schöpfungen, denen er zu neunundneunzig Hundertsteln seine Un­Sterblichkeit verdankte, als schlechte, nichtige,| gleichgültige Bücher" verwarf.

Das war nach der inneren Krise, die

den Fünfzigjährigen um und umstülpte. Wenn Tolstoi von Nechljudow, dem Helden seiner Auf­erstehung", sagte, daß in ihm wie in allen Leu ten" zwei Menschen, der geistige und der anima lische, stedten, so trug er auch selben schon als Knabe, der über den Sinn des Lebens grübelte, ein Medaillon mit Rousseaus Bild auf der| Brust, und in allem animalischem Treiben war| der Siebenundzwanzigjährige geistig genug, bon » Gründung einer neuen Religion" zu träu­men. Daß jezt, um 1880 heraum, der Drang| nach sittlicher Erneuerung über ihn herfiel, hing mit förperlichen Erscheinungen zusammen; das Alter mahnte, der Tod erhielt Form und Um­

der

England stiftet ein Lazarett für Abessinien Unter Mitwirkung des Britischen Roten Kreuzes wurde in London ein fahrbares Lazarett für Abessinien zusammengestellt, das einschließlich des Aerzte- und Pflege­personals in den nächsten Tagen nach Abessinien eingeschifft wird.

Jeder Unterstand einer solchen Anlage ist in sich selbständig und von anderen Unterständen unabhängig angelegt. Natürlich gibt es Ver bindungsgänge. Sie können aber ohne Mühe völlig abgedichtet werden. Für die Anlagen eri­ftiert eine eigene Stromversorgung und meistens auch unabhängige Wasserversorgung. Weit ab von den Parkplätzen befinden sich die Tanks für die Betriebsstoffe. Sie stehen mit der Haupt­anlage durch gut gesicherte Rohrleitungen in Ver­bindung.

Zu jeder Anlage gehören Mannschaftsräume, Küchen und Werkstätten. Wie groß eigentlich die ganze Anlage ist, weiß von den Beschäftigten faum einer. Troßdem ich ein ganzes Jahr an einem solchen unterirdischen Bau beschäftigt ge­wesen bin, kann ich heute noch nicht genau an­geben, wo sich die Anlage eigentlich befindet. Wir sind von Hannover aus in geschlossenem Liefer­wagen abgeholt und wieder dorthin zurück­gebracht worden. Rund um den ganzen Platz war eine so dichte Bostenkette aufgestellt, daß nie­mand von der Baustelle weg konnte, ohne sich in die größte Gefahr zu bringen."

Christliches ,

Autoritäres, Fascistisches...

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Der Arbeiter- Zeitung" entnehmen wir die folgenden, nicht gerade vom versöhnlichen Geist" des Schuschnigg - Regimes zeugenden Meldungen: Der Weibsteufel von Sierning", Theresia det hat, wurde zu acht Jahren schweren Möslinger, die aus verbrecherischen Trieben einen ihrer zahlreichen Liebhaber grausam ermor Rerters verurteilt.

Es ist noch nicht lange her, da erhielt eine andere Frau in Oesterreich fünf Jahre Serter: sie hatte ein einziges Erem plar der Arbeiter Beitung" weg­zuräumen vergessen.

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Man vergleiche die beiden Strafen! Für einen tückischen Mord acht Jahre. Für eine ille­gale Zeitung fünf Jahre!

Das sind die Gerechtigkeitsmaße der östers reichischen Justiz.

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Für Pietät wird man eingesperrt.

Der frühere Vizebürgermeister von Graz , Genosse Rück I, wurde verhaftet, weil er auf dem Grab seines Freundes, des im Feber 1934 standrechtlich hingerichteten Märtyrers Stanet, ein paar rote Rosen niedergelegt hat.

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Wo sie keine Autorität haben.

Wie erst jetzt bekannt wird, hat am Tage der Regierungsumbildung die Heimwehrwache des Bisambergfenders, die vom Wie­ner Heimatschuß des Fey gestellt wurde, in aller Form gemeutert. Die unzufriedenen Hah­nenschwängler rissen die Platate von Starhem­berg und Schuschnigg ab und gaben ihrem Unmut hemmungslos Ausdruck. Die ganze Wache wurde verhaftet und ihr Kommandant eingesperrt. Auch sonst befinden sich derzeit im Polizeigefängnis Rossauerlände mehrere Heimwehrmänner in Haft, die allerdings besondere Begünstigungen genießen und in Uniform spazieren gehen.

Zwölf Ukrainer vor Gericht

Warschau . Hier nahm am Montag der große Prozeß gegen zwölf Mitglieder der nationalsozia listischen Utrainerorganisation seinen Anfang. Die Angeklagten werden der Teilnahme an dem Anschlag gegen Innenminister Pieracki bes schuldigt, der bekanntlich am 16. Juni 1934 er­mordet worden ist. Der Hauptschuldige, der Utrainer Mafiejko, ist ins Ausland geflüchtet. Die Anklageschrift zählt mehr als 100 Seiten. Man rechnet damit, daß auch der Prozeß mehrere Wochen andauern wird. Zur Verhandlung find zahlreiche Journalisten aus dem Auslande eingetroffen.