Nr. 274
Sonntag, 24. November 1935
15. Jahrgang
Ehmlpreh 70 Heller (•hmMMIkb S IMtar Nrt4
1ENTRALORGAN DER DEUTSCHEN SOZIALDEMOKRATISCHEN ARBEITERPARTEI IN DER TSCHECHOSLOWAKISCHEN REPUBLIK ERSCHEINT MIT AUSNAHME DES MONTAG TÄGLICH FRÜH, Redaktion und Verwaltung frag xii., fochova a. telefon sxt?. HERAUSGEBER! SIEGFRIED TAUB . CHEFREDAKTEUR , WILHELM NIESSNER. VERANTWORTLICHER REDAKTEUR* DR. EMIL STRAUSS, FRAG.
Die Mission unseres Staates
Programmatische Friedensrede
Kampf für den Frieden Ist
Dr. Benes'
Kampf für die Demokratie, Kampf gegen die Krise
Prag . Im überfüllten großen Saale der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität veranstaltete Samstag vormittags die Prager Hochschulstudentenschaft eine große Friedenskundgebung. Ueber Ersuchen der Studentenschaft hielt der Professor der Karlsuniversität und Minister des Aeußern Dr. Benes einen fast zweistündigen Bortrag, der die Antwort auf die von der Studentenschaft gestellte Frage:„Wie ist für den Frieden zu arbeiten?" darstellte. Minister Dr. Benes wurde beim Eintritt in den Saal von der akademischen Jugend mit stürmischem Beifall empfangen. Minister Dr. Benes ging in seinem Bortrag von der philosophischen Humanitäts-Konzeption aus, die das Kriegsmorden als unmenschlich ansieht, als Beleidigung der menschlichsten Lehre, die je die Menschheit hatte, nämlich der Lehre Christi-' Der Krieg widerspricht aber auch der Modernen Soziologie und Philosophie der Geschichte, die den Begriff der Humanität als Endziel alles menschlichen Strebens und Fortschritts angenommen hat. Für Dr. B e n e s, ist der Sm« der ganzen Geschichte ständiger Fortschritt zur Humanität wie dies Herder, nach ihm Ka«1, Goethe und Schiller , bei den Franzosen Condoreet und Comte, verkündet haben, die in den Fußstapfen der Ideologie der französischen Revolution schreiten. Gegen den Krieg sprechen auch Gründe der drastischen Nützlichkeit. Da es in Zukunft immer schwieriger werden wird, einen Krieg zu lokalisieren, wird er auch fiir starke Staaten aufhören, vorteilhaft zu sein, llm so weniger kann er allerdings für uns, und zwar auch im Bunde mit starken Staaten, nützlich sein. Es gibt allerdings einige politische Doktrinen, die den Krieg sittlich und philosophisch anders beurteilen. Den Krieg erklären sie als Ausdruck des Dynamismus der Gesellschaft, als Komponente der Lebensexpansion, als Kampf gegen die Lebrnsstagnation, die ihnen eine vorgeschichtliche Wahrheit und Notwendigkeit ist. Andere Doktrinen stellen die alte Konzeption vom.„Herrenvolk" und von der,Her- rrnrasse", die Konzeption von der„reinen Rasse" und den sogenannten Rassismus in den Vordergrund. Sie teilen die Menschheit in niedere und höhere Rationen ein, billigen den höherstehenden Rationen höhere Rechte zu und betrachten den Krieg als natürliches Instrument für die Erreichung jener höheren Rechte der Ration und des Staates. So sehen den Krieg insbesondere gewisse Doktrinen autoritärer Regime des zeitgenössischen Europa . Gegen die humanitäre Ansicht stellt sich rbenfalls in gewissem Sinne die Konzeption des historischen Materialismus, die den Krieg als Natürliche schicksalsgegebene Folge deS kapitali stischen Systems ansieht. Der Minister stellt sich konsequent gegen alle diese Theorien; gegenüber "ein Fascismus behauptet er, daß die menschliche Gesellschaft ihre Energie und Dynamik und Expansion auf den verschiedensten anderen Gebieten oer menschlichen Tätigkeit zur Geltung bringen iann, daß dazu nicht die barbarischen Formen "es Krieges notwendig sind. Der HeroiSmuS und die Entwicklung der Nation kann in grandiosen Formen ohne Krieg gepflegt werden» der in der heutigen Form des bakteriologischen und chemischen Krieges mit Heroismus überhaupt nichts zu tun hat. Gegenüber der Theorie vom Herrenvolk, der Herrenrasse und dem Rassismus erklärt Dr. Be- 0eZ, daß es überhaupt keine reineRasse, 'ein Herrenvolk und keine Herrenrasse gibt- In pfr modernen Zeit, wo die Nationalitäts-Idee pst ganze Welt beherrscht, ist jeder Versuch, auch per größten Nation, im Vorhinein zum Mißlingen verurteilt, sich über eine andere Nation in
menschlicher und moralischer Hinsicht erheben zu wollen. Was die Theorie des historischen Materialismus anlangt, sei die Fatalitätstheorie heute auch von den Sozialisten Und Kommunisten verlassen worden. Wenn sie den Völkerbund als Weltorganismus zur Rettung des Friedens anerkennen und unterstützen, geben sie zu, daß man den Krieg durch den Willen und die Arbeit der Politiker und der Diplomatie verhindern kann. Im weiteren zeigte der Minister, wie der Kampf Um Krieg und Frieden im heutigen Euro pa eng mit dem Problem des Nationalismus und mit dem Problem der Diktatur und Demokratie zusammenhängt. Die politischen Doktrinen, die theoretisch den Krieg verteidigen, bilden sich eine Konzeption des überspitzten Prestige-Nationalismus, der dann wirklich leicht zum Krieg führt. Ebenso verteidigen und verwirklichen alle Doktrinen und Regimes, die theoretisch den Krieg verteidigen, die Prinzipien der autoritären, antidemokratischen Regierungen. Es hängt dies mit dem heutigen Kampf um die Mission und den Sinn des Staates zusammen. Dr. Benes glaubt, daß unsere Konzeption des demokratischen Staates, der neue wirtschaft- liche und kulturelle Funktionen hat, jedoch die Ideale der demokratischen Freiheit bewahrt» siegen wird» womit auch die Ldee des Friedens siegt. In Uebereinstimmung mit dieser Konzeption stehe unsere ganze innere und auswärtige Politik.- Wir sind überzeugt, daß sich ein geordneter demokratischer Staat ohne innere Revolutionen die Entwicklung zu einem höheren Grad politischer, sozialer und wirtschaftlicher Gerechtigkeit zu ermöglichen versteht, daß er die nationale Gerechtigkeit, eine verständige nationale und konfessionelle Toleranz zu verwirklichen weiß. Gleichermaßen verteidigen wir auch die internationale Demokratie. Wir sind für die Idee der internationalen Gerichte und Arbitrage und wir unterstützen praktisch den Versuch nach Schaf- ftmg einer internationalen Weltinstitution, des Völkerbundes. Daran wird die Tatsache nichts ändern, daß wir uns für den Fall decken, daß in diesem oder jenem Falle diese Institution enttäuschen könnte. Dr. Benes glaubt, daß die Demokratie und der Friede verteidigt werden müssen, wenn notwendig mich mit dem Schwert.
Washington . Der italienische Botschafter suchte am Samstag den Außenminister Hüll anf» um die Lage zu besprechen, die durch die ablehnende Haltung der amerikanischen Re- girrnng gegenüber der Ausfuhr von Kriegsmaterial nach Italien eingetreten ist und die sich im Laufe der>nächsten Woche» durch erhöhten Druck der Regt erung gegen Reeder und Exporteure noch verschärfen dürfte. Obzwar keine amtliche Erflärung über den Inhalt der Unterredung ausgegeben wurde, so wurde doch bekannt, daß Hüll sich rundweg weigerte, von der bisherigen Politik der AuSfuhrdrosselung nach Italien abzugehen. Donnerstag hat der Staatssekretär für Inneres die amerikanische Raphthaindustrie daran erinnert, die Raphthasendungen nach Italien ^ ein z«stell en,«nd Freitag wurde bekannt, daß dir Regierung von Washington sich mit der Absicht trage» einen Druck auch auf die Schiffahrtsgesellschaften auszuüben, Kriegsmaterial auf den ihnen gehörenden Dampfern nicht mehr zu befördern.
Auf die Frage, wie man weiter für den Frie- i den arbeiten müsse, antwortete Minister Dr. Benes: Die tschechoflowakische Außenpolitik wird konseuent weiter die Politik des Völkerbundes machen- Sie wird konsequent die Politik ihrer! bisherigen Bündnisse verfolgen, sie wird die Verwirklichung des Donaupaktes anstreben, sie wird für ein Abkommen zwischen Deutschland und den Wrstmächten,«nd damit auch zu einem Abkommen zwischen uns und Deutschland hinarbeiten, sie wird sich für die Beendigung deS abessinisch-italienischen Konfliktes«nd für ein vernünftiges Abkommen mit Polen einset- zrn. Das ist ihr konkretes Programm für daS Jahr 1936. Zu keiner Angriffspolitik oder irgend einen Krieg werden wir uns hergeben. Wir wollen nur Ruhe und Frieden. Die große Verschiedenheit der europäischen Regimes sei ein Hindernis zur Ordnung normaler Verhältnisse und zur Sicherung des Friedens. Persönlich sei Minister Dr. Benes überzeugt, daß der Ausgleich der europäischen Regime durch natürliche Entwicklung zu neuen Formen des staatlichen Regimes,«nd zwar demokratischen Charakters» gelangen werde. Schließlich zeigte der Minister, ein wie wichtiger destruktiver Faktor, der zum Kriege treibt, die Wirtschafts- und soziale Kunst ist. Daher ist für Dr. Benes der Kmnpf gegen die Wirtschaftskrise«in Kampf gegen den Krieg. Eine bewußte Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Schritt für Schritt die soziale Gerechtigkeit für die niederen Klassen verwirklicht, ist in der heutigen Zeit einer der großen Faktoren nicht nur für den inneren, sondern auch für den äußeren Frieden. AnS all dem ist ersichtlich, führt« am Schluss« Minister Dr. Benes aus, daß unsere ganze Konzeption der inneren und äußeren Friedenspolitik eine große Synthese, ist: Sie ist evolutionär, sie ist demokratisch-dynamisch, indem sie nicht nur statisch sein und die Augen vor den Notwendigkeiten der Entwicklungsänderungen verschließen will. Die Jugend hat die Tendenz, radikal zu sein, nach links und nach rechts. Dr. Benes gibt zu, daß er ebenfalls radikal gewesen ist; der Lebenskampf hat ihn gelehrt, mehr radikal in der Sache als in der Theorie und Form zu sein. Der größte Radikalismus beruhe darin, ruhig sachlich und unermüdlich vorwärts zu gehen, zu einem höheren Grad der sozialen und politischen inneren und internationalen Gerechtigkeit. So stellt sich Dr- Benes die Arbeit für den Frieden vor. Er glaubt fest, daß auch im Jahre 1938 der Friede in Europa gewahrt bleiben wird. Minister Dr. Benes glaubt tief an die Frie- denSmiffion unseres Staates. Dazu prädestiniert ihn seine geographische Lage, nationale Tradition und innere Struktur.
Dock eine Schiffsladung unterwegs Trotz der Warnung des Staatssekretär- Hüll, es dürfe kein Kriegsmaterial nach kriegführenden Staaten abgesandt werden, verließ Freitag der Frachtdampfer„Oregon " den kalifornischen Hafen San Pedro, um nach Jta- lienisch-Somiland eine Fracht von 36.000 Barrels Flugzeugbenzin zu befördern. Die Besatzung des Schiffes setzt sich aus Matrosen zusammen, die gewerkschaftlich nicht organisiert sind, da die organisierten Matrcfen den^Dienst auf diesem Schiffe abgelehnt hatten. Die amerikanischen Petroleumgesellschaften sind der Ansicht, daß das beste Mittel,, die Petroleumsendungen nach Italien zu verhindern, ein offiziell ausgesprochenes Embargo wäre. Ein fre iw illi g e.r Verzicht auf dst Lieferungen nach Italien könnte von den Gesellschaften nicht erwartet werden. Wenn die. Regierung ein Embargo verfügen wird, werden sich die Gesellschaften, wie es scheint, unterwerfen.
Japans zwanzigjähriger Krieg Die neuerliche Bedrohung Chinas durch den japanischen Versuch, di« Nordprovinzen des chinesischen Reiches ähnlich wie vorher die Mandschurei in einen„unabhängigen" Staat zu verwandeln, hat seinen unmittelbaren Anlaß in der Währungsreform, die von der chinesischen Zentralregierung in Nanking verkündet wurde, aber im historischen Zusammenhang gesehen, ist sie nur ein neuer Vorstoß in dem Kriege, den der japanische Imperialismus nun schon seit zwanzig Jahren um die Herrschaft über China — und letzten Endes um die Vorherrschaft über idas ganze ö st liche Asien führt. Der Beginn der japanischen Invasion in China datiert vom Jänner 1915. Damals stellte Japan , das lange vorher schon die Halbinsel Korea unterworfen hatte, und das den Ausbruch des Weltkriegs benützt hatte, um die in Nordchina gelegene deutsche Kolonie K i a a t« schau zu besetzen, an China die„21 Forderung e n", in denen Japan die Beherrschung Nordchinas und der Mandschurei und für die übrigen Teile des chinesischen Reiches weitgehende wirtschaftliche Vorrechte beanspruchte. Schon damals hat Japan für seinen Vorstoß einen Zeitpunkt gewählt, der Europas Interesse an anders Punkte der Welt gefesselt hielt. Während auf den Schlachtfeldern Frankreich -, Rußlands und des Balkans die Geschütze donnerten, hat Japan feig« Machtziele in China der Verwirklichung näher gebracht. Die chinesisch« Regierung sah sich gezwungen, di« 21 Forderungen wenigsten- teilweise anzunehmen, insbesondere den japanischen Siedlern in der Mandschurei Privilegien zu geben, die mandschurische. Eisenbahn unter japanische Kontrolle zu stellen und der japanischen Einwanderung und dem japanischen Handel in Nordchina die Tore zu öffnen. Erst nach Beendigung des Weltkrieges mischten sich die Großmächte Europa ? und die Vereinigten Staaten von Amerika wieder in die ostasiatische Politik ein und bemühten sich, dem japanischen Vordringen in dem als Absatzgebiet auch für sie wichtigen Riesenreich China Einhalt zu tun. Der Erfolg ihrer Bemühungen war der Neun-Mächte-Vertrag von Washington im Jahre 1919, in dem Japan die politische Unabhängigkeit und territorial« Unverletzlichkeit Chinas anerkennen mußte. Aber die Jahre des Friedens, die nun folgten, waren für China Jahre verschärfter Ausbeutung durch die konkurrierenden Großmächte der Welt. Die Privilegien der Europäer, die in den großen Hafenstädten des Reiches faßen und die chinesische Wirtschaft für sich monopolisierten, wurden-immer drückender empfunden, und daS Vordringen der Japaner im Norden wurde immer bedrohlicher fiir den Weiterbestand deS chinesischen Reiches. Die nationalrevolutionäre Bewegung, schon vor dem Weltkriege von Sun-flat-Sen'n? Leben gerufen und nachher durch die russische Revolution genäbrt, flammte auf, und die große chinesische Revolution begann, die der Kuomintang zur Mackit verhalf, den Bovkott aus- ländischerWaren vorwärtStrieb un*’ die Schaffung eines neuen, innerlich geeinten und nach außen unabhängigen China zum Ziele hatte, ohne es aber erreichen zu können. Denn aus der Revolution wurde bald ein chaotischer Bürgerkrieg, ein Kampf der Generale, die teilweise in japanischen und teilweise in russischen Diensten standen und ein Kampf der von Tschangkaitschek beherrschten Kuomintang gegen die Kommunisten, die au? Verbündeten der herrschenden Partei bald zu ihren am blutigsten verfolgten Feinden wurden. Als die Wirren im Jahre 1931 ihren Höhepunkt erreicht hatten, begann Japan einen neuen Vor» stoß. Im September geschah ein Ueberfaoll auf die mandschurischeEisenbahn, und unter dem Vorwand, daS Land von Banditen säubern zu müssen, marschierte eine japanische Armee in Mulden ein und besetzte in einem zwölf Monate dauernden Feldzug den größten Teil der Man» dschurei, die daraufhin von China abgetrennt und zum„selbständigen" Staat unter dem Namen Mandschukuo erklärt wurde. Auch für den mandschurischen Feldzug hatte sich Japan wieder einen für Europa kritischen Zeitpunkt gewählt: eS war die Zeit der sckiärssten europäischen Wirtschaftskrise und deS wachsenden deutschen FaseiSmuS. Japan fühlte sich deshalb