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Nr. 300
Mittwoch, 25. Dezember 1935
„ Das größte Phänomen im Weltall "
Zu Konrad Heidens Hitler - Biographie*) Konrad Heiden , der eine ausgezeichnete Ge- dem andern, was dieses Antlig spiegeln soll oder spieschichte des Nationalsozialismus geschrieben und dann geln will. Eine Entwicklung ist übrigens da, auf die eine, nicht mehr auf derselben Höhe zeitgeschichtlicher der physiognomisch vorgehende Biograph Rücksicht Forschung stehende, aber lesenswerte Schilderung der nehmen sollte. Zwischen 1922 und 1932 hat sich das Geburt des Dritten Reiches " publiziert hat, wagt weiche, breiige, auch im Augenblick wandelbare Gesich nach diesen Vorarbeiten an das schwerste Problem sicht augenscheinlich, soweit die gestaltlose Masse das heran, das Soziologie, Psychologie und Historiogra- zuläßt und überprüfbar macht, in den Hauptzügen phie die diese beiden vereinen muß in unserer geändert. Epoche vorfinden, an das Problem Hitler .
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Es sei vorweg gesagt, daß er es nicht löst. Er rollt es faum in seinem ganzen Umfang auf. Das Wesentliche bleibt Rätsel und es wird nicht einmal gesagt, wie viel von ihm dunkel ist; das ist vielleicht der stärkste Einwand, den man gegen die Biographie erheben kann. Indem sie vorgibt, das Bild des deutschen Diktators zu entschleiern, und sich und den Lesern nur in einzelnen Punkten Rechenschaft über die nicht zu durchdringende Tiefe, den nicht zu be= wältigenden, im Nebel verschwimmenden Umfang der Aufgabe ablegt, täuscht sie eine Antwort vor, wo eine Frage an kommende Geschlechter steht, eine Frage,
die wohl erit jene beantworten werden, denen die Lösung nicht nur auf dem Gebiet der Geschichts
schreibung, sondern auch auf dem der Gefchichte gelingt,
Das Psychologische
Es bleibt ein Rätsel trotz alledem, und nichts
Männliches ist ihm an die Seite zu stellen, sondern wieder wäre der Vergleich nur möglich mit so vielen rauengesichtern, vor denen man sich staunend fragt: was hat sie unüberwindlich, begehrenswert, zum Zauber ihrer Epoche gemacht, wie sah denn die Frau überhaupt aus, die dieses Gesicht als Maske trug?( Man versuche es bei Katharina II. !)
Der Mann und die Zeit
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wollte. Es war vielleicht nur ein Zufall, daß die lichkeit erkannt wird, daß es aber die Regel ist, wenn deutsche Arbeiterbewegung in den sechziger Jahren Dugendprodukte zu Persönlichkeiten gestempelt wer marristisch und nicht lassalleanisch wurde. Ein brand- den. Sie sind ja nur der materielle Punkt, an den roter Frauenschopf, der Lassalle toll machte, eine win eine Legende anknüpft. Phantasmagorien, Gespenster , zige, damals und noch lange unsichtbare und unbe- Luftgestalten, die aus dem Gerücht, der Zeitungslüge, fannte Mikrobe in der Hirnrinde des genialen Füh- der Reklamnotiz, dem Gebot irgendeines Apparates rers, die Piſtolenkugel eines walachischen Bojaren entstehen, hängen sich an einen Menschen an und er und ausgelöscht ist derzauber, der vielleicht stärker ge- wird groß, viel viel größer als er selbst ist. wesen wäre als alle Kraft der Gedanken, die aus dem 1st Hitler Hitler? Londoner Eril von Marx und Engels auf den Kontinent strömte. Vielleicht, sage ich; es lohnt sich jedenfalls, derlei Fragen heute zu überprüfen. Daß Gregor Strasser in entscheidender Stunde durch die Berliner Weinstuben bummelt, statt nach der Macht
Und das ist vielleicht das Problem Hitler, ein Problem, deffen Monographie noch zu schreiben ist: ist Adolf Hitler wirklich Adolf Hitler ? Man müßte ein Nestroy sein, um diese
Frage auch nur richtig aussprechen zu können; er hat aussprechen ließ, einmal zu wissen, wer stärker sei: etwas geahnt, als er den Holofernes den Wunsch. oder i".
3 greifen, daß Schleicher die Minuten nicht nüßt, er aber mit verrenktem Arm zur Flucht imstande ist, daß an der Feldherrnhalle Hitlers Nebenmann fällt, die ihn rettet, während die Kameraden nos fämpfen ,, i und bluten, das sind Zufälle, die Heiden sehr hoch einschätzt; und wahrscheinlich gibt es ihrer viele in der Geschichte Hitlers .
Das Rätsel bleibt
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Der Mann mit dem Gesicht, das keines ist, der Mann mit der typischen Halb- Bildung, mit der Monomanie des aufgeregten Kleinbürgers, der Mann mit dem Charakter einer Diva oder Courtisane, der Mann ohne Entschluß, der Mann, der ein fürchterliches Deutsch schreibt und banale Reden hält, der Mann mit der mißtönenden Stimme man könnte die Reihe beliebig lang fortsetzen hat doch Weltgeschichte gemacht. Er hatte Erfolg und es bleibt ein Rätsel, warum er ihn hatte. Immer wieder fragt man sich: warum nicht Göring , Goebbels , Strasser , Darré, Röhm, Rosenberg jeder andere wäre als Ditta tor eher vorstellbar, warum gerade ER?
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Er hat eine Begabung, die nicht in Frage steht: er ist das größte propagandistische Talent der Epoche. Heiden nennt Goebbels , vermutlich mit Recht, nur den Schüler Hitlers . Aber daß man mit diesem Talent allein Geschichte machen und mehr sein kann als ein Trommler, ist doch neu und erstaunlich.
Die besten Teile in Heidens Buch sind die soziologischen. Er schreibt da zwar seine früheren Bücher aus, aber das schadet dem neuen nicht. Zur Erklärung des Nationalsozialismus, zur Aufklärung über die beiden grundverschiedenen Schichten, die sich im Nationalsozialismus zu einer äußeren Einheit verbinden, hat Heiden sehr viel beigetragen. Auch jetzt bemüht er sich, Hitler aus seiner Zeit, aus der BeKonrad Heiden geht, wie die meisten Biogra- wegung zu erklären, das geschichtliche Rohmaterial zu phen, bei denen Emil Ludwig Schule gemacht schildern, aus dem das Dritte Reich gebaut wurde. hat, seinen ,, Helden" vor allem von der psychologi- Kleinbürger, Deklassierte, Arbeitslose, Industrielle, schen Seite an. So beliebt das Verfahren heute ist, Junker, Generäle marschieren auf und haben ihren so schwere Bedenken kann man dagegen erheben, denn| Platz im Bilde der Epoche. Aber wieder bleibt die die psychologische Tiefenforschung führt oft in ein Frage: warum führt gerade Hitler diese Kunterbunte Labyrinth, während die solide alte Methode einem Bewegung? Daß er dem Kleinbürger und dem Gewenigstens ein rundes Bild der Fassade und des Um- strandeten aus der Seele spricht, ist ohne weiteres zu risses einer Erscheinung bermittelte, wenn sie schon glauben. Aber gerade die aktivsten und gläubigsten nicht in die Tiefe vordringen konnte. Es finden sich Elemente der NSDAP . hätten doch vor ihm fliehen bei Heiden also viele psychologische Deutungen: und sich zu Gregor Strasser schlagen müssen; Hitler , der die Realschule ohne Reifezeugnis ver- gerade die Industriellen und Generale hätten Hitler Die Persönlichkeit in dieser Zeit Lassen hat( der Biograph müßte übrigens die Jugend- durchschauen können und es ist schwer einzusehen, geschichte Hitler- Schicklgrubers ebenso wie seine warum sie nicht mit Göring gehen. Er schlägt Will man es erklären, rationalistisch erklären, merkwürdigen Familienverhältnisse doch gründlicher vielleicht die Brücke von einem Lager zum andern, er so muß man diese Zeit wohl noch gründlicher analyuntersuchen und schlüssiger aufhellen können, als dies ist im Streit der Cliquen der Vermittler, er ist so sieren. Dann kommt man nicht aus mit der SozioHeiden gelingt), Hitler, den die Kunstakademie ab- schwach, daß alle Stärkeren ihn ertragen fön- logie des Kleinbürgers und der Analyse der verfaulehnt, ist ein„ früh Gescheiterter". Aber ist nen. Es gibt viele Erklärungen, Heiden sucht sie lenden bürgerlichen Gesellschaft. Dann muß man das Aehnliches nicht wirklich großen Männern auch ge- und macht manche glaubhaft, aber wieder bleibt das Problem untersuchen, wie in dieser Spätzeit des schehen? Helmholtz ist im Gymnasium durchgefallen, Problem selbst unklar. Denn andere Epochen sahen Abendlandes das Denken der Menschen zustande Rilfe bekam Nichtgenügend aus Deutsch , Napoleon andere Lösungen und andere Länder auch. Musso- fommt. Man muß die geistigen Großmächte, die groflog zweimal aus der Armee, der alte Moltke lini wächst aus ganz ähnlichem sozialen Boden und Ben Gifte dieser Zeit in ihrer umfassenden Wirtsambegann als nirgends heimisch werdender Dilettant ist doch kein Hitler. teit begreifen: Druckerschwärze, Zeitungspresse, Film, seine Laufbahn, Bismard war als Beamter zweimal Reflame, Kulturmache, Vereine und Zirkel, Apparate gestrandet und als Abgeordneter fast ausgepfiffen und anonyme Mächte, den ganzen komplizierten Meworden, als Putschist verunglückt und beinahe auch Augenscheinlich spielt, das wird man in diesem chanismus gesellschaftlichen Dentens und einer atoals Diplomat, ehe ihm der große Sprung gelang. Jahrhundert noch lernen müssen, der Zufall doch eine misierten Stollektivität muß man durchforschen, um zu Hitler hat ein nichtsnußiges Talent", er größere Rolle in der Geschichte, als das rechnende verstehen, daß es in dieser Zeit wahrscheinlich ein ist der IIusionsbürger". Das ist alles und systemisierende 19. Jahrhundert wahrhaben ganz irrjinniger Zufall ist, wenn wirklich eine Persönrichtig, dies und viel mehr; aber all das erklärt ihn nicht und nicht seine Erfolge. Sicher ist er eine problematische Natur( ,, die beiden Hitler " heißt ein Kapitel bei Heiden), aber das waren fast alle großen Männer, neben denen er doch klein wirkt, weil seine Problematik teine übermenschlichen Dimensionen hat, weil er weder im Guten noch im Bösen wirklich groß erscheint.
Und warum wirft er troßdem? Heiden sucht diese Wirkung des größten Massenerschütterers der Weltgeschichte" mannigfach zu erklären. Wieder stimmt bieles und doch bleibt ein Rätsel übrig.
Von der psychologischen Seite scheint mir Otto Strasser das Problem Hitler noch am schärfsten erkannt zu haben, wenn er den„ Führer" eine Frau nennt. Das ist nicht grob materiell- sexualogisch zu verstehen. Was das Materielle seines Eros betrifft, so tappen alle Enthüller und Biographen im Dunkel, auch Heiden kann nur Details mitteilen, die im übrigens schwer zu überprüfen sind. In seinem seelischen Verhalten aber hat Hitler entschieden Büge, die der Charakterologe weiblich nennen wird. Sein Instinkt, seine Hysterie, das triebfichere Verhalten gegenüber der Masse, das Fehlen jeder männlich gciftigen Logif, die traumwandlerische Sicherheit, die sich nach Schwanken, nach Weinfrämpfen, nach Intrigen plötzlich einstellt, das find charakterologisch ficher weibliche Züge. Sein Verhältnis zu den Freunden, zur Masse, zum Gegner, ist so eher zu erklären, als wenn man ihn als Mann nimmt und an Män nern mißt. Man müßte daher zum Vergleich nicht Cäsar, Sulla, Cromwell, Napoleon, Bismard, nicht Mussolini , Stalin , Kemal heranziehen, sondern Katharina II. , die Pompadour, Cleopatra. Das wäre ein Weg; es ist schwer zu sagen, ob er weiter führt, als der Heidens.
Die Physiognomie
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Das ist ja wohl das größte Rätsel an IHM. Die stärksten Einwände gegen Gesicht und Haltung berblassen vor der Photographie, die erbarmungslos etwas entschleiert aber was? nun etwas, das nicht da ist! Heiden brauchte hier nur aufzu nehmen, was Weigand von Miltenberg im„, Adolf Hitler - Wilhelm III." darüber gesagt hat. Und doch bleiben wir wieder steden. Denn was bielen am Gesicht des„ Führers" auffällt, was sie in ihm vermissen, was sie abstößt oder zum Lachen reizt, aufs tiefste erschrecken läßt oder es ihnen unmöglich macht, das oft geschaute Gesicht länger als eine Minute im Gedächtnis zu behalten( nämlich das leibjaftige Gesicht, nicht nur Bärtchen und Stirnlocke, die Anhaltspunkte der Karikaturisten!), das scheint Millionen zu begeistern, zu überzeugen, scheint Millionen nicht au fehlen, scheint eine Nation bezwungen zu haben. Die Wirkung des Gesichts auf die Masse, das ist das eine ungelöste Geheimnis neben
*) Konrad Heiden : Hitler , Das Leben eines Diktators, Europa- Verlag , Zürich .
Der Zufall
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GHT
und Gelegenheitsarbeiter Adolf Hitler - Schicklgruber Es gibt also einen früh gescheiterten Realschüler aug Braunau am Inn , der heute von fünfhundert Millionen zeitungslesender Menschen für den Führer und Reichskanzler Adolf Hitler gehalten wird und selbst glaubt, er sei es. Aber sind das nicht zwei Mäns ner, die nur sehr wenig miteinander gemeinsam haben? Ist das nicht purer Zufall, daß sich an den Mann aus Braunau die Legende anhängte, daß er wuchs und wuchs, weit über sein vorgestecktes Maß hinaus? Was von den Gedanken, die er schreibt, was von den Reden, die er hält, was von den Dingen, die man ihm nachsagt, von ihm erhofft, befürchtet, behaupten kann, ist sein Eigentum, was daran ist eine Kollettivarbeit der Hintermänner, Helfer, Freunde, des Apparats, des Publikums, der Zeitgenossen und Gegner?! Weiß man auch nur, ob er die Rolle gut spielt, täuscht uns nicht auch darüber die Kritik, die Presse, unser eigenes, längst getrübtes Urteil?
Wenn man Hitler für Hitler hält, bleibt bedeu tend an ihm die seherische Gabe, die ihn voraussehen ließ, was die gelehrten Soziologen nicht kommen sahen, den ganzen Kladderadaisch von 1930 bis ad Nalendas Graecas... Dann bleibt bedeutend an ihm die Kunst der Propaganda, die Seelenmassage. Aber ist auch nur das von ihm, ist es ihm nicht zufällig angedichtet, zugeflogen, angehängt?! Ein Abgrund des Zweifels öffnet sich immer wieder, wenn man das Bild des Mannes an seiner Rolle, sein Wirken an seiner Figur mißt.
Einer seiner Lobredner hat ihn das größte Phänomen des 28 e Ita II 3" genannt. Er ist es, wenn auch in anderem Sinne als jener es meinte. Und vielleicht hängt das Schicksal wenigstens des Erdballs davon ab, ob man das Phänomen wird enträtseln können. Aber dann wird man sich schon fragen müssen, was in dieser Zeit vom lebendigen Menschen noch übrig blieb und was Fetisch, was Produkte eines verherten Mechanismus ist, der Perfönlichkeiten, Ereignisse, Ideen produziert, Glück und Unglück, Tod und Geburt, ein riesiger Gözze, der sich in Adolf Hitler nur am sinnfälligsten und furchtbarften offenbart. Emil Franzel
Gefangene
Jeden Morgen singt uns ein Vogel Kiwit, fiwit,
er umkreist uns schimmernd und steigt und flieht.
Bang hör ich meinen Namen rufen,
so weit, so weit,
Vogel singt das düstere Lied
dieser Zeit.
Wir hacen die Erde und graben
hinab, hinab.
Vielleicht kreiset der Vogel bald über ein Grab.
Flügellahm hinter dem Stacheldraht bie Seele wund,
blick ich dem dunklen Vogel nach mit stummem Mund.
Wir legen uns nieder aufs Stroh,
der Erinnerung Baum
dehnt sein Geäst über uns Gefangene aus.
Wir sind bei der Liebsten im Traum.
Mancher flüstert leise im Schlaf,
es verzittert im Raum.
Wir gehen in den Garten,
da erwache ich jäh,
ich brach dir eine Rose im Traum.
Den wachen Sinnen entgleitet
der Verlockung Saum.
Die Seele war ein Falter
um dein Lockenhaupt
im Traum...
Des Sommers Fülle ist dahin,
entblättert steht der Wald.
Die Tannen zittern im Rauhreif, es ist falt.
Die tüdischen Nebelschwaden
ziehn herüber vom Moor.
Das Hungergekreisch der Naben gellt ans Ohr.
Ihr schwarzen Boten des Unglücks mögt unsre Gäste sein!
Wenn wir verbisfen schweigen,
dürft ihr schrei'n...
Walter Hornung