Rr. 301 Samstag, 28. Tczcmber 1935 Seite 5 Lebenslänglich I Auf die fttage der ganzen Leit, warum sich ein Boll wie das deutsche die gegenwärtigen schmachvollen Zustände gefallen läßt, hat das Oberlandgericht in Hamm (Westfalen ) eine eindeutige Antwort gegeben. ES hat in einem Mon- streprozeß gegen freiheitlich gesinnte Arbeiter den Hauptangeklagten zu lebenslänglichem Zuchthaus, vier andere zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Eine große Anzahl Minderbelasteter erhielt Freiheitsstrafen zudiktiert, die zwischen neun Monaten und acht Jahren schwanken. Die Anklage lautete auf Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens. Diese Vorbereitung- hat in der heimlichen Verteilung von Drucksachen(!) bestanden, die in jedem zivilisierten Lande anstandslos verbreitet werden und in dem Anstreben von Verbindungen. die in jedem Kulturstaat erlaubt sind. In einem Prozeß gegen Sozialdemokraten in Hamburg , die des gleichen Verbrechens angeklagt waren, drohte der öffentliche Ankläger für künftige Fälle mit der Enthauptung! Das Urteil von Hamm erscheint dagegen geeignet, die alte Diskussion wieder aufleben zu lassen, ob die rasche Tötung unter allen Umständen die inhumanste aller Strafen ist. ES liegt in der^Absichi der Richter von Hamm , mindestens fünf ihrer. Opfer nach langen Qu a l e n im Kerker sterben zu lassen, denn daß Gefangen« bei den ErnährungSverhältnissen, wie sie jetzt in deutschen Zuchthäusern herrschen, eine fünfzehnjährige Haft nicht überstehen können, ist so gut wie selbstverständlich. Bon einem „Justizmord" kann man im Falle des Gerichtsurteils von Hamm nicht sprechen, dieses Wort ist viel zu m i l d. Ein gewöhnlicher Justizmord beruht auf einem Ju st i z i r r» tum und setzt den guten Glauben der Richters voraus. Hier kqnn von gutem Glauben und überhaupt von Justiz im Sinne eines Rechtsstaates nicht die Rede sein. Hier handelt eS sich um einen kaltüberlegten grau sa men Mordversuch an politischenGeg« n e r n. Hochverrat ist im Sinne deS deutschen Strafgesetzes ein Unternehmen, durch das die Verfassung de» deutschen Reiches oder eines seiner Länder gewaltsam geändert werden soll. Eine Verfassung aber, die durch Gewalt geändert werden kann, gibt eS im heutigen Deutschland nicht; auch die dem Dritten Reich wohlgesinnten Theoretiker deS Staatsrechts können nur von einem de facto-Zustand sprechen, oder von einer im Werden begriffenen Verfassung, nicht aber von einer schon feststehenden und geformten. Der Verfas- sungSzustand Deutschlands im Winter 1918-19 war viel gefestigter als der gegenwärtige, es gab schon eine provisorische Verfassung al» Vorläufer der späteren von Weimar . Trotzdem wurde Lede- bour von der Anklage deS Hochverrats freigesprochen mit der Begründung, daß eine durch den Hochverratsparagraphen geschützte Verfaffung zur Zeit seines Unternehmens nicht bestanden habe. Dabei war diese» Unternehmen nicht etwa eine bloße Verteilung von Druckschriften, sondern ein bewaffneter Aufstand.■ Die Verfassung von Weimar ist vor noch nicht ganz drei Jahren von dem neuernannten Reichskanzler Adolf Hitler beschworen worden. Gr hat sie seitdem, und gleich von dem ersten Tage an nach der Leistung deS Eide» gebrochen, aber n i e förmlich aufgehoben. E» gibt Staatsrechtler, die mit einigem Zynismus behaupten, die Verfassung von Weimar bestehe eigentlich noch, nur freilich mit den„Abänderungen", die sie durch den„Willen de» Füh- rerS" erfahren habe. Man erkenne an diesen Tatsachen die Schamlosigkeit von Richter«, die auf desselben Hitler Geheiß Arbeiter zum Zuchthau»- tod verurteilen, weil sie sich einer Vorbereitung zum Hochverrat schuldig gemacht haben sollen. DaS Schreckensurteil von Hamm ist aber auch ein politischer Symbol. In seiner Härte spiegelt sich der Grad der Furcht, „Zweistaatenkonferenz" in Nanking Tokio. Am Freitag überreichte der chinesische Geschäftsträger im Auftrag der Nanking - Regierung dem stellvertretenden Außenminister Shigemitsu eine Einladung zu einer„Zweistaatenkonferenz" in Nanking, um in gemeinsamen Besprechungen alle zwischen China und Japan schwebenden Fragen friedlich zu lösen. Shigemutsu nahm die Einladung an, wies aber auf die wachsende antijapanische Bewegung in China hin, welche das Vertrauen zerstöre. Japan setze voraus, daß die konkreten japanischen Vorschläge für die Konferenz ernsthaft behandel! würden. Hierzu gehöre die Grundfrage der Zusammenarbeit beider Länder und die Son- depfrage Nordchinas. voleumente der italienischen„Kultur Addis Abeba. (Tsch. P. B.) Das internationale Rote Kreuz hat die Untersuchung über das Bombardement des ame rikanischen Hospitals in Dessie abgeschloffen und einen Bericht darüber telegraphisch nach Genf gesandt, in dem es u. a. heisst: Das amerikanische Hospital liegt dicht neben dem italienischen Konsulat, in dem der Kaiser wohnte. Alle 8 Meter warm rote Kreuze und Fahnen angebracht. Sämtliche Klrinambn- lanzen, die bombardiert wurde«, trugen meterhohe Rote-Ktenz-Fahnen. Tas Hospital selbst erhielt 5 Brandbomben, von denen 2 explodierten, und zwar in dm Operationssälen. Ein Zelt wurde ebenfalls durch eine Brandbombe zerstört, desgleichen ein JnstrumcntMsaal. Rund 1000 Bomben sind bei dem Bombardement abgrworfen worden. Die endgültige Berlnstziffer lautet: 50 Tote und 220 Verletzte. Um eine Hltlergesandtschaft Aufregung in Stockholm Der deutsche Gesandte in S f o ck h o l m, ein Prinz zu Wied , ist ganz überraschend nach Ber » ! lin abgereist. Ueber die Gründe weiß die Arbeiter- presse zu berichten: Wie in allen deutschen Kolonien im Ausland ist auch in Schweden für die Nazi-Winterhilfe gesammelt worden. Es kam unter dem Druck der Gesandtschaft ein schöner Betrag zusammen. Aber es stellte sich heraus, daß diese Summe nicht nach Deutschland geschickt lvorden ist, sonderst in Stockholm der deut schen Nazi Propaganda zur Verfügung gestellt wurde. Innerhalb der Kolonie bestand längst ein scharfer Gegensatz zwischen der anständigen Mehrheit und den Nazis. Diese Geldangelegenheit führte dazu, daß die N a z i s aus dem deutschen Hilfsverein, der Organisation der Reichsdeutschen» ausgeschlossen wurden. Darauf wandten sich die Nazis nach Berlin und mit der die gegenwärtige« Machthaber der Entwicklung im industriellen Westen.gegenüberstehen. Es handelt sich um eine« Versuch, die stumme Rebellion im Ruhrgebiet mit dem Schrecken niederzuschlagen. ks istdaSLebenSgesetz dec Despotie, d«ß sie morden muß, wenn sie nicht sterben will. Die verurteilten Freiheitskämpfer von Hamm werden in den Kerkern verfaulen, wem« die Despotie nicht früher stirbt al» sie. erhielten bald auch 12.000 schwedische Kronen (50.000 KL), um einen eigenen Klub aufzumachen. Zur Berichterstattung über diese Vorgänge wurde der Gesandte nach Berlin berufen. Ob man etwa die Stockholmer Antinazis ihrer Reichsbürgerschast verlustig erklären wird, steht noch dahin. Zu diesen inneren Vorgängen kam vergangenen Freitag noch eine aufsehenerregende Antrnazidemonstration. Eine Anzahl Seeleute marschierten zur Gesandtschaft, drängten den sich entgegenstellenden Portier beiseite und gingen hinein. Dort übergaben sie dem erschreckten Personal unter.geeignetem Zuspruch einen Protest gegen dieHinrich- t u n g R u d o l f K l a u s'- in Berlin , die Einkerkerung und Bedrohung Thälmanns und die Behandlung der Unmaffe politischer Gefangener im Dritten Reich . Dann zogen, sie ab, um eine Kopie dieses Protestes direkt an den Führer äb- zusenden. Verwendung von Dum-Dum-Geschossen von Abessinien kategorisch dementiert Genf . Der abessinische Außenminister H e r- r o u y hat an das Vülkerbundssekretariat ein Telegramm gerichtet, in welchem es heißt:„Die abessinische Regierung dementiert kategorisch die in der italienischen Preffe verbreiteten Lügen, als ob die abessinischen Truppen Dum-Dum- Geschosse verwenden. Die abessinische Regierung vermutet, daß diese erdächten Behauptungen zu dem Zwecke verbreitet wurden, um künftige, neue Verletzungen des Kriegsrechtes und der Kriegsgewohnheiten von Seite Italiens zu rechtfertigen. Abessinien erzeugt überhaupt keine Munition und die gesamte Munition muß Äer das Gebiet einer benachbarten Macht eingeführt werden, wo es einer strengen Kontrolle unterzogen wird. Außerdem muß Abessinien eine Ausfuhrbewilligung des Ursprungslandes besitzen: Es ist schwer anzunehmen, däß das Ursprungsland oder' die Transitländer den Transport einer derartigen, verbotenen Munition gestatten würden. Gegen die genannte itqlienir sche Behauptung protestieren wir daher in aller Form." britisches Sanitätsflugzeug abgestürzt Addis Abeba . Ein britisches Rotes-Kreuz- Flugzeug, das sich auf der Rückkehr von Char- t u m befand, stieß 15 Kilometer von Addis Abeba gegen einen Baum und stürzte ab. Der Pilot wurde im Gesicht und am Axm ernstlich versetzt. Seine Frau, die mit ihm flog, erlitt nur leichtere Verletzungen. Beide lvurddn in Addis Abeba ms Svital gebracht. Erziehung für das Dritte Reich Wie sogar die Schulverwaltung unserer Republik den„Erziehungsgrundsätzen" der nazistischen Blubvleute Rechnung trägt, beweist ei» vom Ministerium für Schulwesen und Bvlkskul- tur genehmigtes Hilfsbuch für Bürgerschulen und den 6. und 8. Jahrgang der Volksschulen. Den Schülern wird der Ankauf dieses Buches' zum Preise von KL 2.40 und dessen Benützung von den Lehrern empfohlen. Das Buch führt den Titel: „Mein Merkbuch..Ein Hilfsbuch für Bürgerlunde und staatsbürgerliche Erziehung sowie für Sachdisziplinen."„I. Teil. Meine. Familie und ich." Herausgegeben von Theodor Tauber. Staatliche Verlagsanstalt Prag . 1935. Die Kapitel des Buches lauten: Einführung. 1. Meine Mutter. 2. Mein Vater. 3. Die Eltern. 4. Meine Ärpß- eltern' mütterlicherseits. 5. Meine Großeltern väterlicherseits. 6. Meine Urgroßeltern müttex- licherseits. 7. Meine Urgroßeltern väterlicherseits. 8. Meine Onkel und Tanten. 9. Meine Vettern. 10. Meine Basen. 11. Sonstige Verwandte. 12. Aus der Familie und Verwandtschaft. 13. Versuch eines Stammbaumes, 14. Unser Staat eine große Familie. 15. Von mir selbst. Daß dieser nazistische Fimmel— genannt Familienforschung — in der Schule betrieben werden soll, geht aus der Einleitung hervor. Dort heißt es:„Mit Unterstützung euerer Lehrer und Lehrerinnen, insbesondere aber euerer lieben Angehörigen werdet ihr richtig und vollständig in dieses Büchlein eintragen." Was eingetragen werden soll, darüber geben die Untergliederungen der einzelnen Kapitel Ausschluß. Kapitel 1: Meine Mutter. Name: Geburtstag: Geburtsort: Glaubensbekenntnis: Ihr früherer Name: Bedeutung des Vornamens(Worterklärung): Was mir meine liebe Muller aus ihrer Kindheit und aus ihrem späteren Leben erzählte. Kapitel 2. Der Vater. Enthält ähnliche Fragen. Kapitel 3. Die Ellern. Zell und Ort der Vermählung; Trauzeugen: Erklärung des Familiennamens: Der Hausname(Deutung): Bedeutende Ereigniffe im Leben der Eltern: Lichtbilder. Diese und ähnliche Daten sind dann von allen übrigen Verwandten bis zum Urgroßvater zurück zu sammeln. Daun koinmt noch der Versuch eines Stammbaumes. Wer die Mentalität eines Großteils unserer deut schen Lehrerschaft kennt, wird sich unschwer vorstellen können, wie dieser Unterrichtsstoff behandelt werden wird,— daß, ohne daß die Lehrer etwas anderes zu tun brauchen» als diesem Buch gemäß vorzugehen, die„Wellanschauung" des Dritten Reiches in die Kinderherzen verpfanzt werden wird. Wie werden bei einem Unterricht über die Familienforschung die Kinder, welche keinen Stqprmbaum nachweisen können, also die unehelichen Kinder, wegkommen? Welche Bemerkungen werden über Kinder a u's national gemischten Ehen, über Kinder jüdischer Eltern gemacht werden? Ist das vom freiheitlichen Standpunkt zu rechtfertigen, diese Kinder schon in der Schule mit einem Makel zu belasten? Gehört solcher Unterricht, gehört nationalistische„Sippen"-Forschung in die Schule einer demokratischen Republik? Zentraldanlcmoratorlum bis Ende März verlängert Prag . Mit Erlaß des Finanzministeriums vom 11. Dezember 1935 wird das Moratonum der Zentralbank der deutschen Sparkassen bis 31. März 1936 verlängert. Wclhnachtscrntc des Todes - Alljährlich haben die nachweihnachtlichen Zeitungen viel vom Tode zu vermelden; auch heuer sind cs wieder schreckliche Bilder vom mörderischen Verkehr, die im Vordergründe stehen; und daneben die Berichte über die Namenlosen, denen das Leben keine Festesfreude mehr zu lassen schien und die darum just in den Stunden, da für andere freundliche Lichter sich entzündeten, den Freitod wählten Daneben aber hat der Chronist dieser Weihnachtstage noch die Träger dreier bedeutender Namen als tot zu melden:AlbanBerg , den Musiker, Kurt Tucholsky , den Satiriker, und Paul Bour- get, den Romancier. Alban Berd Am Weihnachtsabend verstarb in seiner Wie ner Heimat fünfzigjährig Alban Berg , einer der meistgenannten und meistumstrittenen Musiker-es jüngeren Wien . Berg, schon als Kind besondere musikalisch« und besondere kompositorische Talente aufweisend, hatte sich dennoch erst der Beamtenlaufbahn zugewandt, wurde dann aber einer der begeistertsten und bedeutendsten Schüler des berühmteren Arnold Schönberg , dessen Werke er kommentierte. Schönberg- Schul« bedeutete die Auflösung der Tonalität; Berg ist diesen Weg konsequent und radikal weitergegangen. Berg» Musik hat sich bis zum heutigen Tage noch nicht sehr durchzusetzen vermocht. Ta» gilt für seine rein'instrumentalen Arbeiten ebenso wie für sein Opernschaffen und seine Liedkompositionen. Immerhin hat seine Vertonung des Büchnerschen„W o z z e ck"-Drama» ganz großes Aufsehen hervorgerufen(auch bei der einzigen Aufführung am Prager Nationaltheatcr vor mehr-ren Jahren). Man darf wohl sagen, daß weniger die llnbeirrbarkeit, Neuartigkeit und Selbständigkeit ton Alban Berg » Schaffen kdaS anderseits doch ohne Schönberg und auch ohne Richard Strauß nicht denkbar gewesen wäre) leidenschaftlichen Widerstand gegen ihn entfesselte, vielmehr als die l i n k e, gei- st i g e Richtung, der Berg zweifellos angehörte und die ja auch in der Wahl seiner Stoffe zum Ausdruck kam: neben dem durchaus revolutionären „Wozzeck " ist da auch ein Berg'scher Vertonungsversuch von Wedekinds„Sulu" zu erwähnen. Arhn- liches gilt von seinen Liedern. Von den Orchesterwerken Bergs ist besonders seine„Lyrische Suite" für Streichquartett und ein Konzert für Violine. Klavier und Kammerorchester zu nennen. Nicht vergessen sei, daß Alban Berg mich als L eh- rer und Theoretiker ungewöhnliche Bedeutung erlangte; er war übrigens eine Zeitlang auch Redakteur der Wiener Musikzeitschrift„Anbruch". * - Hart Tudioishu seinerzeit Redakteur der„Weltbühne" in Berlin , einer der bekanntesten und begabtesten radikalen Journalisten und Schriftsteller des Deutschland von 1918 bis 1933, ist, einer Meldung des„Pariser Tageblatt " zufolge, in der Emigration in Schweden ' gestorben. Tucholsky , der seit längerer Zeit unheilbar erkrankt war, lebte seit dem Zusammenbruch der deuffchen Demokratie sehr zurückgezogen und ist nicht mehr an die Oeffentlichkeit getreten.» Gerade das taktvolle Verhalten, das er als Repräsentant einer nicht nur geschlagenen, sondern in tieferem Sinnt überwundenen Richtung, der intellektualisti- schen, linkSradikalen, ultrapazifistischen Gruppe zwischen KP und SP, nach dem Janne x 1933 an den Tag legte, indem er das Feld für Jüngere freigab, hat seine Krittler mit manchem versöhnt, was sie ihm vordem nicht ohne Grund vorwarfen. Tucholffv war al» politischer Charakter teine eindeutige Erscheinung. Er hatte wäb-end de» Krieges eine Etoppenzeituttg redigiert, für die Kr'egs« anleihen Stimmung gemacht, man warf ihm vor, er habe noch im Jänner 1919 Liebknecht und Luxem burg als schon ermordete Käinpfer verhöhnt, und er hat sich gegen diese Varwürfe nicht oder nur schlecht verteidigen können. Mit der radikalen Kompromiß- losigkeit, die er von Anderen, vor allem von Sozialdemokraten verlangte, vertrug sich diese Vergangenheit nur schlecht. Daß die politische Haltung der„Weltbühne" und besonders die Tucholstys falsch war, werden heute viele zugcben, die gerade dieser Zeitschrift gläubig anhingen; es ist allerdings heute auch nicht mehr schwer, die Irrtümer, die damals Wahrheiten zu sein schienen, rückblickend zu erkennen. Man sagte Tucholsky aber auch nach, daß er in seinen journalistischen und polemischen Methoden nicht immer ganz fair gewesen sei. Er war ohne Zweifel ein brillanter Journalist,«« federgewandter Schriftsteller, dessen Glossen, Persiflagen und sattrischen Verse von Tausenden nicht nur gern gelesen, sondern begeistert verschlungen wurden,'der Schule gemacht hat und nicht nur für die linksradikale Presse, sondern zweifelsohne auch für viele Nazis ein Lehrmeister des Stils und der satirischen Methode wurde. Man kann sich eine Erscheinung wie Goebbels kaum ohne.da» jüdische Vorbild Tu- 1 cholskys vorstellen(so wenig wie sie ohne die Vorbilder Max Reinhardt und Karl Radek vorzustellen j und zu erklären ist). Der Mann mit den„Fünf . PS" den Pseudonymen Ignatz Wrobel, Kaspar : Hauser , Theobald Tiger , Peter Panter und Kurt ; Tucholsky, war ein Jahrzehnt lang eine populäre Gestaü unter— ja hier beginnt seine Tragik: unter den paar tausend Intellektuellen, die allesamt nicht einsahen, daß sie an der Nation vorbeilebten, daß sie keine Ahnung hatten von dem, was in ihren Mitmenschen, was um sie, unter ihnen und dicht neben ihnen vorging. An dieser Isolierung, an dem Mißverständnis, diese Isolierung nicht zu sehen, sondern sich selbst millionenfach vergrößert al» das Boll zu betrachten, sind sie zuarundegcgangen. Mit Tu cholsky versöhnt, wie schon gesagt, nicht nur lein großes und immer anregendes Talent, sondern mich, daß er aus einer, wie immer bedingten, so jedenfalls doch begrüßenswerten, Erkenntnis eigener Trägst heraus zu schweigen verstand. Seine Auffähe liegen in verschiedenen Sammelbänden vor(Mit fünf PS, Das Lächeln der Mona Lisa u. a.). Er hat neben scharfen Satiren auch lleine humorvolle Idyllen geschrieben, die sich neben jenen ausnehmen wie ein Pastellbildchen oder eine Miniatur neben einem Höllenbreughel. Tucholsky bleibt eine tragische Gestalt und wird so fgrtleben: tragisch— das heißt gescheitert nicht ohne eigene Mitschuld an dem Verhängnis. *- Pani Dourget Am ersten Weihnachtsfeiertag starb in P a r i s Paul Bourget , einer der bedeutendsten und me'st- gelesenen französischen Romanschriftsteller der letzten Jahrzehnte. Bourget , der ein Alter von 82 Jahren erreichte, war Fortsetzer der Reihe berühmter Romanciers Frankreichs , mit ntehr oder weniger Recht Flaubert an die Seite gestellt, ja sogar mit dem großen HonorS Balzac verglichen. Wohl hat er mit diesem sowohl das Pshchologisierende als auch den Griff in das zeftgenössische Gesellschaftsleben gemeinsam; aber Paul Bourget überwand in sich doch zu wenig den Bürger, ja Kleinbürger, und sein Schriftstellergeist kam darum weder mit dem Weltbürgertum Balzacs, geschweige denn mit dem revo- luttonären, mitreißenden, revoluttonierenden Dichtergenie ZolaS verglichen werden. Nichtsdestoweniger finden sich unter den vielen Romanen, die aus BourgetS Feder stammen, Bücher unzweifelhaften Werts, feine Seelenschilderungen, ernste Versuche ethischer Analysen. Besonders zu nennen wären seine Romane„Etappe",„Der Dämon des Süden-", „Der Sinn des TodeS" und als sein meistg-leseneS Buch„Der Schüler" Die französische Nation bat Bourget durch seine Ernennung zum Mitgl-ed der Französi-chen Akademie geehrt. Die Konservativen Frankreichs ebren in ibm auch heute noch den „Künder deS französischen Traditionalismus, der Rückkehr zum Katholizismus, des Idealismus und der gci'cherten Familienordnung".
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15 (28.12.1935) 301
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