Geile 2

Donnerstag, 30. Jänner 1936

Nr. 25

Rom dementiert wirtschaftliche Schwierigkeiten Rom . Mit aller Entschiedenheit erklärt man in politischen Kreisen Roms, daß die Auslands» nachrichten über eine katastrophale Lage der ita­ lienischen Wirtschaft als Folge der Sanftions- anwendung völlig übertrieben seien. Die italie» Nische Regierung habe keinerlei Besorgnisse we­gen irgendwelcher wirtschaftlicher'Schwierigkei­ten.

Abkehr von der b i s h er ig en Rege- lung des Arbeitseinsatzes, die zwar zunächst nicht auf der ganzen Linie wirksam werden wird, aber doch bald in seiner größeren Freizügigkeit der Arbeitskräfte und in einer freieren D e w eg lichkeit der Unterneh­merschaft zum Ausdruck kommen muß." »Freiere Beweglichkeit der Unternehmer­schaft"! Das heißt nichts anderes als stärkerer Druck auf die Arbeiter, Deutschland muß ein Paradies der Kapitalisten werden, noch mehr als bisher. Die RüstungSindustriellen stopfen sich zwar die Taschen, aber das ist ihnen alles zu wenig. Sie wollen noch mehr: Niedrigere Löhne und größere Profite, mit Gott für Hitler und Kriegsgewinne, das ist die Parole! Werden Schacht und die Seinen diese Ziele, Deutschlands Wirtschaft durch erhöhte Ausbeu­tung des deutschen Proletariats zu sanieren, durchsetzen? In den Kreisen der Partei sieht man, daß ans einer zu deutlich erkennbaren kapitalisti­schen Wirtschaftspolitik schwere Gefahren für die Nationalsozialisten erwachsen können. Daher stellt man Schachts Forderungen die Goebbelssche De­magogie entgegen und der Propagandaminister hat seit Anfang Dezember eine große Presseaktion entfaltet, welche die gesunkene Stimmung beleben soll.Der Sozialismus marschiert!" so schreit es aus demSA-Mann" vom 7. Dezencher 1938, und dieN. S. Z. Rheinfront" stimmt ihren Silvesterartikel auf das Motto:Unsere Forde­rung an das neue Jahr: Parole Sozialismus!" Wie verlautet, soll diese Parole nächstens noch konkretifiert werden, es wird von Goebbels eine Generaloffensive gegen die Banken", eineSo­zialisierung der Banken" hinausposaunt werden, was aber Schacht bald abstoppen wird, weil Deutschland eine auswärtige Anleihe wie einen Bissen Brot braucht. Zwischen der Wirtschaftspolitik Schachts und Goebbels Demagogie schwankt derFührer" hin und her. Folgt er Schacht, so wird er in steigen­dem Maße die Stimmung der breiten Massen gegen sich haben, folgt er Goebbels Rat, hat er dieWirtschaft", d. h. Großunternehmer und 'Banken gegen sich. Trotz des allgewaltigen Dikta­tors geht der Kampf der Klaffen in Deutschland weiter, nur daß das Proletariat geknebelt ist und sich nicht wehren kann. Aber auf die Dauer kann sich keine Diktatur gegen den Maffenwillen er­halten. Mag sein, daß heute noch ein großer Teil des deutschen Volkes hinter Hitler steht die Zeit naht, in der der Wille der Massen sich Bahn brechen muß. Auch daS kaiserliche Deutschland glaubte, man könne im 20. Jahrhundert regieren wie in der Zeit jener preußischen Könige, die mit dem Stock umhergingen und ihre Untertanen höchstpersönlich prügelten. So wenig wie der hohenzollersche Prügelstock wird auch die hitlersche Nilpferdpeitsche Bestand haben und der Lauf der Geschichte wird noch ganz andere Entdeckungen bervorbringen wie die Physiologie des Herrn Göring.

Was Ist mit der Sanierung der Selbstverwaltung? In der Borstandssitzung des Verbandes der deutschen SelbswerwaltungSkörper am 29. Jänner 1936 erstattete der Finanzreferent des Verbände- Dr. Frank über die gegenwärtige schwi'rige finanzielle Lage der Gemeinde»^Und Bezirke uno über die Maßnahmen Bericht, die im Zusammen­hänge mit der Regelung der Finanzwirtschaft der Selbstverwaltungsverbände in der letzten Zeit im Gesetzeswege und im Wege von Ermächtigungs­verordnungen getroffen wurden und die noch in der allernächsten Zeit zu erwarten fein sollen. Aus diesem Berichte war u. a. zu entnehmen, daß oft im Gesetze 69/35 vom Staate für die Schulden­regelung der Gemeinden und Bezirke bestimmten Mittel von 181 Millionen KL nunmehr nach den Vorschriften de- im Dezember de» Vorjahres ver­abschiedeten Finanzgesetzes zum StaatSvoran- schlage 1936 auf ein ganz geringes Ausmaß her­absinken werden und daß die bereits im Gesetz 69/35 vorgesehene Verringerung der für die Ge­währung von Landesbeiträgen an die Gemeinden und Bezirke bestimmten Mittel um 38 Prozent noch weitergehen wird, wodurch gerade den fman- ziell schwachen Gemeinden' und Bezirkt» eine wesentliche Bareinnahme entzogen wird. Dies: Neuregelung hat die zur Durchführung der kom­munalen Schuldenregelung notwendigen Vorarbei­ten so verzögert, daß eigentlich bis heute von den zuständigen Behörden noch nichts zur Sa­nierung der Schuldenverhältni,se der Gemeinden und Bezirke veran­laßt wurde, obwohl die gesetzlichen Bestimmun­gen für die Schuldenregelung schon seit 1. Jänner 1936 in Wirksamkeit getreten sind. Da nach den dem Verbände zugegangenen Mitteilungen eine weitere teilweise Novellierung einiger Vorschriften des Gesetzes 69/35 vorbereitet wird, hat die Ver­bandskanzlei den zuständigen Ministerien mehrere, die Schuldenregelung der Finanzwirtschast der Ge­meinden und Bezirke betreffende Vorschläge vor­gelegt. Auch zu dem Regierungsantrage über die Abänderung des Steuergesetzes 78/27 hat der Verband allen deutschen politischen Parteien Er- gänzungs- und Abänderungsvorschläge überreicht, die darauf abzielen, daß auch für die Gemeinde­erwerbsunternehmungen der Grundsatz der Steuergleichheit mit den übrigen Privatwirtschaft« lichen Erwerbsunternehmungen voll zur Geltung gebrächt wird.' Der Verbandsvorstand nahm den Bericht zur Kenntnis und beauftragte seinen Ge­schäftsführenden Ausschuß, bei den kommenden Verhandlungen über die die Finanzwirtschaft der Selbstverwaltungskörper betreffenden Maßnahmen sofort alle notwendigen Schritte einzuleiten, damit den auf die Ermöglichung einer ordentlichen Wirt­schaftsführung der Selbstverwaltungskörper abzie­lenden Forderungen in weitgehendstem Ausmaße und mit Rücksicht auf die Notlage der Selbstver­waltungskörper so rasch als nur möglich Rechnung getragen wird.

Senat Prag . Mittwoch genehmigte der Senat in einstündiger Sitzung die Vorlage über den mili­tärische» Vorspann» einen Vertrag mst Oester­reich über die Zollfteiheit von Modepublrkationen und die Vorlage über die Dividenden- steuer. Als Gegner dieser Steuer trat ledig­lich der frühere Nationaldemokrat Havlin (Rat. Ber.) auf, der in bewegte» Worten das Risiko schilderte, das mit dem Erwerb von Divi­

dendenpapieren, verbunden sei, und seiner Unzu­friedenheit Ausdruck gab, daß die Vorlage nicht auch dieungeheueren Gewinne der Genossen­schaften" treffe. Dr. Bas(Geto.-Part.) warnte das Publikum vor dem Spiel an der Börse und richtete dann Angrifft gegen die Einheitspreis­geschäfte, die an Unbeliebtheit bei den Gewerbe- parteilern sogar den Genossenschaften allmählich den Rang avlaufen. Nächste Sitzung Dienstag, den 4. Feber, um 16 Uhr.

Die Verlängerung der Mieterschutzgesetze bis Ende März, die bekanntlich durch Regierungs­verordnung erfolgte, wurde vom sozialpolitischen Ausschuß zur Kenntnis genommen. Gleichzeitig wurde der Fürsorgeminister ersucht, in einer der nächsten Sitzung des Ausschusses einen Bericht über die ibsichtigte Lösung des ganzen Woh­nungsproblems zu erstatten. Der Parteitag der tschechischen Agrarier findet Donnerstag, den 30. und Freitag, den 31. Jänner, im Gemeindehause in Prag statt. Das Programm sieht wenige Plenarsitzungen des Par­teitages vor, die Hauptarbeit wird in den elf Kommissionen de» Parteitages geleistet werden. 'Heute wird der Parteitag eröffnet und der Vor­ sitzende Beran wird den Parteibericht erstatten, am Freitag werden die Kommissionen berichten. DerVenkov" kommt in einem Artikel des Generalsekretärs der Partei, Jng. Zilka, auf die Nachrichten zu sprechen, daß die Partei ihren Eharakter insofern ändern wolle, als die rein landwirtschaftliche Grundlage verlassen und es zur Umwandlung in'eine allständische Partei kommen wird. In dem Artikel wird dargelegt, daß alle diese Nachrichten unrichtig sind. Beschränkung der Saatfläche für FrühjahrS- weizen. Das Landwirtschaftsministerium macht erneut die landwirtschaftliche Oeffentlichkeit dar­auf aufmerksam, daß die Anbaufläche für Weizen nicht in dem durch die Regftrungsverordnung 173/35 geforderten Ausmaß zurückgegangen ist und infolgedessen die Gefahr droht, daß die vor­handenen Weizenüberschüsse weiter bedrohlich an­wachsen. Jiifolgedeflen macht die Getreidegesell­schaft neuerdings auf die zitierte Verordnung aufmerksam, durch welche die Gesamtanbaufläche für Getreide auf das Ausmaß von Juni 1935, die Anbaufläche für Weizen aber auf 92 Prozent der Anbauflache des Jahres 1935 eingeschränkt wird. Landwirte, die diese Bestimmungen nicht befolgen, haben außer den festgesetzten Strafsank- tionen zu gewärtigen, daß ihnen der Ueber- nahmSpreis für daS Getreide bis um 20 Prozent gekürzt wird. Es ist unbedingt notwendig, daß in: Frühjahr an Stelle von Getreide und nament­lich von Weizen in größerem Maßstab Futter­mittel angebaut werden. Wo es möglich ist, fällen'"mach' H ü l s e n fr L H f« nn®'F l a ch S angebaut werden, deren Anbau rentabel ist. Für Südmähren , die Slowakei und Karpathorußland wird namentlich der Anbau brn Mais sehr empfählen. Stempelfreihcit für Stellengesuche Arbeitsloser? Der sozialpolitische Ausschuß des Abgeordneten­haus«- nahm Mittwoch nach längerer Debatte einen Antrag der tschechischen Genossen an, in dem die Re­gierung aufgefordert wird, auf administrativem Wege oder durch Novellierung des Gesetzes Gesuche (und die dazugehörige» Gesuchsbeilagen) von Ar­beitslosen und von mittellosen Schulabsolventen um öffentliche Stellen von der Stempelgebühr zu be- fteien. Die Bedeckung soll der Dotierung der Fonds für di« Arbeitslosenunterstützung entnommen wer­den. Der tschechische Genosse Tay er le ver­langte bei dieser Gelegenheit, daß auch der Ouit-

Wie sie die Einheit verstehen In Verhandlungen mit dem sozialistischen Jugendverband in Norwegen haben die kommunistischen Jugendlichen sichbereit" er- Kärt, in den erstgenannten Verband einzutreten, beharrten aber zugleich darauf, Mitglieder der KP zu bleiben! Außerdem verlangten sie, daß die sozialistischen Jugendlichen sich von der Arbei­terpartei trennen sollen! Unter diesen Umständen werden die Verhandlungen von der skandinavi­schen Parteipreisse als gesprengt bezeich­net. Die Zentralleitung der sozialistischen Arbei­terjugend Norwegens wird demnächst ihre Ent­scheidung fällen, die nicht zweifelhaft sein kann.

tungsstempel für die Löhne der Arbeiter in den staatlichen Betrieben, der ein Prozent der ohnedies sehr kärglichen Lohnsumme beträgt, in Wegfall komme. Dieser Antrag wurde vom Aus» schuß in die Form einer Resolution gelleidet, die dem Finanzministerium vorgelegt werden wird. Zollerleichterungen für Musikinstrumente. Den beiden Häusern der Nationalversammlung wurde zur verfassungsmäßigen Beratung der Zusatzvertrag zum tschechoslowakisch-deutschen Wirtschaftsabkommen vom 29. Juni 1920 über gegenseitige Zollerleichterungen auf Musikinstrumente vorgelegt. Die tsche- choslowaftsche und die deutsche Musikinstrumenten­industrie hat sich seinerzeit auf gegenseitige Zoll­erleichterungen geeinigt, und zwar den reichsdeut­schen Zoll auf Saxophone und die tschechoflowakiichen Zölle auf BlaSharmonikas, einfachere Ziehharmoni­kas und umsponnene Saiten. Dem Jndustrieabkom- men wurde durch den Zusatzvertrag vom 80. Dezem­ber 1935 zum Wirtschaftsabkommen vom 29. Ium 1920 entsprochen. Dieses Zusatzabkommen wurde am 15. Jänner 1936 in vorläufige Wirksamkeit ge­setzt.

JnÄfiwcJ Warschau.(Havas.) 20.000 Arbeiter bei Spi­ritus- und Tabakmonopols sind in den Streik getre­ten, um gegen die Herabsetzung der Löhne und die Beschränkung ihrer Rechte aus dem Kolleftivvertrag zu protestieren. Durch den Streik wurde die Pro» duftion auf 25 bis 50 Prozent herabgesetzt. Stockholm . Die Direttion des schwedischen Roten Kreuzes sandte nach Addis Abeba an Doktor Hylander den telegraphischen Auftrag, die Aus­rüstung seiner Ambulanz zu ergänzen und entweder mit einer mobilen Ambulanz oder mit einer Ambu« lanz.mit ständigem Sitz zu.arbeite». Paris . Der ehemalige Jnnenmnister im Feber- Kabinett Daladier , Deputierter F r o t, wurde Mittwoch nachmittags auf dem Champs Elhftes von einem der äußersten Rechtspartei angehörenden Arbeiter überfallen und geohrfeigt. Der Täter wurde verhaftet. Vorher hatte sich Deputierter Frot, der von Beruf Advokat ist, in den Couloirs des Juftizpalais eingefunden. Dort aber riefen die Ad­vokaten gegen ihn solch« Ausschreitungen hervor, daß er den Justizpalast eiligst verlassen mußte. Athen . Ministerpräsident D e m e r i> j i s hat dem König das amlliche Wahlergebnis mit» geteilt und ihm gleichzeitig die Demission der Re­gierung unterbreitet» um ihm die Bildung einer Koalitionsregierung zu erleichtern. Wahrscheinlich wird die Kammer vor dem fest­gesetzten Termin einberufen werden.

NOVEU.K VON OSKAR BAUM

Wie?" fragte Direktor Hanuschke nochmals. Seine Weiberhaft schrille Blechstimme llang im Telephon immer so, als sei er ungehalten. Dies­mal aber hatte er allen Grund, nicht gleich zu verstehen. Es war der neue Augenarzt, Dr. Lötz. Er faßte seine Meldung vorsichtig, damit kein Vor­wurf herausllinge.Lore Friedrich," sagte er, ganz recht!" Sieben Jahre ist das Mädchen bereits in der Anstalt," hielt ihm der Direktor mit über­legener Verwunderung entgegen. Ein ganz neues Verfahren," log der Arzt, für das diese ohne Pupillen geborenen Augen einen Schulfall darstellen." Und das melden Sie mir heute? Wann haben Sie denn da- Diädchen untersucht?" Für so etwas übernimmt man nicht gern die Verantwortung allein. Ich versicherte mich zu­erst der Zustimmung Professor Perls, ehe ich Sie, Herr Direktor, mit der Angelegenheit befaßte." Tie affektierte Nachlässigkeit seine- Salon-Wiene­risch, seiner getrübten Vokale und nachgeschleiften Endsilben man sah die elegante Erscheinung des etwas verlebten, nicht mehr ganz jungen Arz­tes vor sich. Des Direktors Zutrauen zu dem Manne war äußerst gering, aber seine gesellschaftlichen Ver­bindungen und Empfehlungen hatten es unmög­lich gemacht, ihn al- Vertreter de- erkranften grei­sen Anstaltsarztes abzulehnen. Schön", sagte der Direktor,ich werde alles Erforderliche veranlassen." Er sah schon die Unannehmlichketten voraus, die ihm auch hier wie­

der erwachsen würden. Allgemeines Staunen, daß das Mädchen seit Jahr und Tag nicht untersucht worden war.Keiner wird daran denken, daß ja bei ihrem Eintritt das amtliche Zeugnis ihrer un­heilbaren Blindheit vorgelegen hat, und daß sie niemals eine Lidrandentzündung oder sonst eine Kleinigkett hatte, weshalb man sft hätte in die Ordination schicken sollen." Direftor Hanuschke hatte zu allem übri­gen durch eine kinderreiche Familie gesegnet viel zu viel auf der Sorge. Er war verzweifeü über jede neue Schwierigkeit, neue Arbeit, die auftauchte, um so mehr, als er, pflichttreu und ge­wissenhaft von Natur, alles gern gut gemacht hätte und immer mehr sah, daß das unmöglich war. Heinrich Berkl, der junge Lehrer, den der Direktor rufen ließ, um ihm die Erledigung des Falles zu übertragen, geriet nicht in die bei sol­chem Anlaß zu erwartende Begeisterung. Er zögerte in ehrerbietiger Zurückhaltung:Wenn aber die Operatton mißlingt," gab er zu erwägen, und sie ist schwierig die Enttäuschung könnte dem sehr empfindsamen Gemüt des Mädchens ge­fährlich werden!" Er hatte offenbar noch ganz andere Bedenken; die gatten wohl vor allem der Person des Arztes. Neunzig Prozent Wahrscheinlichftit, daß dad volle Sehvermögen zu erzielen ist," sagte der Direftor.Niemand geringerer als Professor Perl ist dieser Meinung." Für das Vergnügen an Experimenten lind schon Tiere zu gut," brach Berft los,u n S über­gibt man die Kinder zu anderem Zweck." Es'ah ein wenig komisch auS, wenn er sich so erhitzte. Er trug einen schadhaften engen Anzug. Er war das Kind armer Häusler aus dem Erzgebirge . Es würde mir noch fehlen, mich mit den Aerzten herumzuschlagen," sagte der Direftor. Vielleicht heilt sie Dr. Lötz? Wollen Sie es auf« sichnehmen, ihn daran zu hindern?" Der Direk- tor machte eine resignierte Handbewegung:»Tun

Sie, was ich Ihnen auftrug." Das hieß: Die Eltern, das Mädchen selbst, das Spital verstan« digen und dafür zu sorgen, daß möglichst wenig vvon der Sache unter die Zöglinge dringe. Er brach die Unterhaltung ab. Das Telephon surrte; auf dem Schreibtisch warteten Briefe. Der Lärm au- dem Schulzimmer drang bis herein. Die Befperpause war zu Ende, Heinrich Berkl stieg zögernd die Treppe zum Arbeitssaal der Mädchen empor.Dieser Dr. Lötz hat es leicht, der Stärkere zu sein. Alles ist auf seiner Seite. Soll man noch im letzten Augen­blick Lorchens Widerstand stärken und so die Leicht- ftrttgkeit vereiteln? Wie aber, wenn der Schnitt m das leere, weltentrückte Graudunkel dieser Augen doch gelingen könnte?" Ironisches Gold der Febersonne füllte das Stiegenhaus, unnütz, lügnerisch, ließ die blanken Stufen aufglänzen. Wie doch dies HauS in­mitten des Gartens nach allen Seiten frei durch die vielen hohen Fenster überall bis in die letzten Winkel von Licht durchströmt war! Es schien, als ob es die Kinder mit ihren Leibern tränken und darum so fröhlich in den Räumen und Gängen umhertollten, ob in Unfug, ob in der Arbeit. Nichts scheint es auszumachen, daß jeden sein Stück Dunkel durch die Welt des Lichts be­gleitet, ungreifbar, unentrinnbar. Ins Leben hinaus, ins unbekannte große lockende Leben der anderen geht ihre Sehnsucht, für das sie sich hier nur ungeduldig rüsten, als hofften sie ganz auf dem Grunde ihres Herzens doch, irgendwo aus dem Gefängnis auszubrechen, an einer heimlich entdeckten Naht daS Dunkel zu sprengen. Hat Lorchen etwas von dieser in unbewuß« rem Trotz genährten, hochmütigen Erwartung? Sicherlich! Tief im Innersten. Man merü s nur nicht, well sie so still ist, so insichgefthrt. Sie spricht leise. Wie ein zarter Seidenfaden ist die Stimme. Wenn sie sich noch so sehr bemüht sie kann sie nicht erheben."

Lore Friedrich hatte es nicht leicht. Es war nicht nur die Stimme, die ihrer Art etwas Eigenes gab, und weshalb die Kinder sie verspotteten. Be­vor sie auf eine Frage antwortete, machte sft im­mer eine kleine Pause, aber dann sprach sie über­stürzt und nicht ganz deutlich. Es kam wohl da­her, weil sie als Kind erst spät zu sprechen begon­nen hatte. Im Winkel einer Kellerwohnung hockte das Kind vergessen und verloren und spielte dem Schmutz, der sich dort angesammelt hatte. Mit Papierfetzcn, mit Kohlenbrocken. Die Eltern mußten zur Arbrir gehen und schloffen sft ein. Erst als ihre Geschwister, dft alle jünger waren, so weit heranwuchsen, sich um sie zu kümmern, wurde es anders. Mhre Schweigsamkeit rnd Schüchternheit mochte auf jene Zeit zurückzufüh­ren sein, aber ihr Äeußeres stand in merkwürdi­gem Gegensatz zu solchem Bericht der Gemeinde­schwester. Lore wußte nichts von dermbeschrew- lichen Schönheit ihres sanften Wesens, ihrer ,ier- lichen, dabei gar nicht schwächlichen Gestalt, ihres verträumten Gesichts, in dem die immer beinahe geschloffenen Augen dem Beschauer das Herz zu­sammenzogen. Wenn sie auf ihrem Platz zwischen den anderen Schülerinnen in der Klasse saß, schien sie reglos, ihre Umgebung vergessend, ganz an lei­denschaftliche Träumereien verloren, eine edle phantasievolle Büste von Künstterhand. Fuhr sie dann auf, wenn man sft rief, öffneft den Mund und sprach ein einfaches alltägliches Wort, fühlte man ssch mit ihr beschämt; es war, als hätte man sie zu irgendetwas gezwungen, das ihr nicht ent- sprach. Berft fand Lore nicht im Arbeitssaal. Nie­mand wollte wissen, wo sie war. Er traf sie schließlich im Musikzimmer. Sie sprang bei sei­nem Gruß von der Klavierbank auf. Ein erschrok- keneS Rot fuhr in die Blässe ihrer Wangen. Sie hatte nicht das Recht, Klavier zu spielen, .(Fortsetzung folgt.),