Nr. 36 Mittwoch, 12. Fiber 1936 Seite 5 Japan und die Sowjetunion Japanische Annäherungsversuche? Aus Tokio wird dem»New Dork Herald" gedrahtet, daß dort zwei wichtige Konfe­renzen über die Beziehungen zu Rußland stattgefunden haben. An den Konferenzen nahmen die Vertreter des Außenministeriums, des Kriegs- und des Marineministeriums sowie die sich gegen­wärtig in Tokio aufhaltenden japanischen Bot­schafter und Gesandten teil. Die japanische Regie­rung soll nun, auf Grund dieser Beratungen, be- schlossen haben, eine Beseitigung der heutigen ge­spannten Lage zwischen Moskau und Tokio anzu­streben. Der Außenminister H i r o t ä habe den Vorschlag gemacht, einen russisch -japanischen Ausschuß zur endgültigen Feststellung der Grenze zwischen Mandschukuo und der Sowjetunwn ein­zusetzen. Weniger verständig klingt der weitere Vorschlag, der angeblich gleichfalls an Moskau gerichtet werden soll, nämlich die Herabsetzung des Bestandes der russischen Truppen im Fern­ost auf das Niveau der japanischen Kontingente in den Grenzgebieten. Ein solcher- Vorschlag würde die tatsächliche Situation im Fernost vyll- kommen übersehen, da die Japaner in einigen Tagen, höchstens wenigen Wochen nach Kriegs­ausbruch eine gewaltige Arme« auf das Festland werfen können, während die Russen eben aus dem Grunde eine große Truppenkonzentration im Fernost bereits mitten im Frieden vorgenommen haben, weil der Transport der Truppen aus Europa Monate dauern muß. Es ist deshalb leicht möglich, daß die angeblichen japanischen Kompro- mitzvorschläge in Wirklichkeit für die Sowjetunion gänzlich unannehmbar sind. Es ist aber auch nicht ausgeschlossen, daß die Japaner, angesichts der sich anbahnenden anglo-russischen Annäherung,, im Begriffe stehen, eine rasche Frontänderung vorzunehmen und eine wirkliche Annäherung an Rußland versuchen wollen. Durchstich des Isthmus von Kräh? Japanischer Versuch zur Umgehung von Singapore Die holländische Presse von Niederländisch- Jndien berichtet in aufsehenerregender Weise von der außerordentlichen Beschleunigung der vorbe­reitenden Arbeiten für den BaudesKanals U' v o n K r a h, besten Fertigstellung bereits im Jahre 1940 erwartet wird. Der Isthmus von Kräh befindet sich bekanntlich im Besitz des Kö­nigreiches Siam, das formell unabhängig, durch f bestimmte Verträge jedoch an Großbritan­ nien gebunden ist. Siner von diesen Verträgen verbietet Siam, irgendeiner fremden Macht den Bau des Krah-Kanals zu übertragen. Diese Be­stimmung scheint nun dadurch umgangen zu sein, daß der Bau deS Kanals formell in eigener Re­gie der siamesischen Regierung auSgeführt wird, in Wirklichkeit handelt«S sich aber um ein j a p a- nisches Unternehmen. In der Haupt­stadt von Siam, Bangkok , solley vor kurzem Fa­briken errichtet worden sein, in denen siamesische Arbeiter unter Führung japanischer Ingenieure die für den Kanalbau notwendigen Spezial­maschinen und Werkzeuge Herstellen. Der Kon­trakt für den Bau des Kanals von Kräh sei be­reits Ende Mai 1984 zwischen der siamesischen Regierung und japanischen Unternehmerfirmen abgeschlossen worden. Mit den vorbereitenden Arbeiten sind zurzeit mehrere hundert j a p a- nische Ingenieure und fast, 100.000 siamesische Kulis beschäftigt. Der Durchstich des Isthmus von Kräh, sollte er wirklich Tatsache werden, bedeutet eine kolos­sale Verkürzung des Seewegs vom Indischen nach dem Stillen Ozean. Vor allem ist aber di«, st r a- Dichter und Wirklichkeit Von Will Schaber In einem mehr äußerlich sensationellen, als dichterisch geglückten Drama»Der Wettlauf mit dem Schatten" hat Wilhelm von Scholz die Wech­selbeziehung von Dichtung und Leben zu gestalten versucht. Die Arbeit des Schriftstellers an seiner Dichtung und das Schicksal der Figuren, die ihm zum Vorbild dienen, verlaufen nebeneinander in einer aufregenden Parallele. Wer wird siegen? Wird der Dichter den Modellen feinen^ eigenen Willen aufzwingen? Wird das Leben dem Gesetz der Dichtung gehorchen? Die Romangestalten und ihr Schöpfer liefern sich ein spannendes Duell. An solche Zusammenhänge wird man durch einen sehrstnerkwürdigen Prozeß erinnert, der kürzlich die französischen Gerichte beschäftigt hat. In seinem Mittelpunkt steht ein wackerer Biblio­thekar. Herr Jean Lemoine, der vom Jahre 1903 ab als Archivar und Büchereileiter im französi­ schen Kriegsministerium tätig war. Lemoine zeigte sich als ein emsiger und talentvoller Arbeiter, der nicht nur in seinem engeren Berufsfeld zielsicher waltete, sondern darüber hinaus durch eine Reihe populärwissenschaftlicher Abhandlungen von sich reden machte. So trat er 1908 als Kritiker des gerade auf den Brettern erschienenen Dramas »Die Giftmordaffäre" von Sardoü auf, dem er ein« ganze Anzahl historischer Schnitzer nachwies. Bis zum Jahre 1913 nahm das Leben Jean Le- moines einen durchaus normalen Verlauf... Da veröffentlicht Anawle France in der Zeit­tegische Bedeutung dieses neuen Ka­nalbaues wichtig. Es handelt sich, wenn sich die Nachricht bewahrheiten sollte, um eine Lahm­legung von Singapore als des strate­gischen Tores zum Indischen Ozean und damit zu Britisch-Jndien; die japanischen Kriegsschiffe könnten im Kriegsfälle, unter Umgehung der ge­waltigen Seefestung Singapore , unmittelbar in den Indischen Ozean vorstoßen und die englischen Verbindungen arg gefährden. Ein Versuchsballon Mussolinis. In der ein­flußreichen Londoner WochenschriftO b s e r- v e r"(vom 9. ds.) ist«.hx langes Interview von Mussolini mit dem Unterhausmitglied Sir Arnold Wilson veröffentlicht. Sensationell klingt vor allem die Erklärung von Mussolini , er habe dem Ministerrat bereits eine Formel über die Billigung des Planes Hoare- Laval vorlegen wollen, als Rom die Nachricht von der Demission des englischen Außenministers erreichte. Dadurch, meinte Mussolini wörtlich, habt Ihr(die Engländer) den Krieg verlängert, und die ungeheure Verantwortung dafür liegt auf Euren Schultern. Ist es nicht bereits Zeit für die britische Nation, einzuseben, daß das heutigeEng» land das verurteile, was auf den schönsten Sei­ten seiner Geschichte ausgezeichnet steht? Empfin­det Ihr tatsächlich Scham darüber, daß Ihr diese ungeheuren Räume kolonisiert habt?! Erscheint Euch wirklich alles, was Ihr in dieser Richtung im Laufe der letzten drei Jahrhunderte voll­bracht habt, als ein verbrecherisches Abenteuer?! Dieses Interview des italienischen Diktawrs stellt zweifellos einen Versuchsballon dar mit dem Zweck. Kompromißmöglichkeiten m i t L o n.d o n ausfindig zu machen. Die hoch­trabende Sprach« der offiziellen Kundgebungen ist nicht imstande, die Tatsache zu verbergen, daß die faschistische Spitze, angesichts der militärischen Schwierigkeiten und der Entwicklung in Mittel­ europa , eine gewisse Unsicherheit empfindet. Der Stand unserer Filmindustrie Qualität das Hauptproblem (R. F.) Die tschechoslowakische Filmindustrie hat, wie aus dem Jahresbericht der FilncheratungS- stelle(Filmovh poradni sbor) ersichtlich ist, q u a n- titativ eine beachtliche Entwicklung genommen« Die Produkt! onsstatistik der letzten fünf Jahren sieht folgendermaßen aus: Svielfilme tschcch.od. anderssvrachl. anders- insaes. slow.Alm« gfecfwnen fprachl.Rlme 1930 7 5 1 1 1931 21 18 8 1932 85 24 8 1 1933 35 29 4 2 1934 87 29 7 1 1935 80 21 6 8 Es ergibt sich daraus, daß beispielswesse im letzten Jckhre unter'den insgesamt dreißig in den Prager Ateliers hergestellten Filmen sechs von den im Original tschechischen oder ssowakischen Produk­tionen zu Exportzwecken fremdsprachige Versionen er­halten haben. Weiter drei Filme wurden wahrschein­lich mit Rücksicht auf die bei uns besonders günstigen Produktionsbedingungen, offenbar von ausländischen Firmen für ein ausländisches Absatzgebiet hergestellt. Die Entwicklung des Gesamtbedarfs der einheimischen KinoS und damit der mengenmäßigen Handels bi lanz während der letzten drei Jahre hat sich wie folgt gestaltet: Einfuhr auS: 1933 1934 1935 USA 20 19 154(1) Deutschland 80 77 75 Oestererich 8 12 20 Frankreich 26 21 15 England 9 28 -'10 Hs- Ungarn 1 2 7. Rußland 4 1 6 Italien 4 2 Schweiz i 1 1 Polen 7 2 Dänemark 1 1 Schweden 1 Einfuhr 162 161 290 Eigenproduktion 83 86 27 Insgesamt 195 197 817 Bezüglich der Sprache, in der die eingeführ- ten Filme gesprochen wurden, ist noch nachzutragen, daß ein französischer und fünf ungarische Filme in deutscher, zwei amerikanische Filme in spanischer und ein italienischer Film in engsischer Sprache ge­halten war. DieSprachbilanz" ist also für das Jahr 1935 folgende: Englisch 163(152 USA , 10 England, l*Jta- lien), deutsch 92(75 Deutschland , 10 Oesterreich, 5 Ungarn , 1 Frankreich , 1 Schweiz ), französisch 14 (Frankreich ), russisch 6(Rußland ), ungarisch 5 (Ungarn , spanisch 2(USA ). Dazu kommen aus der einheimischen Produktion: tschechisch oder slo- wakisch 21(Tschechoslowakei ). Auf den ersten Blick liegt also eine übermäßig« sprachlicheU e b e r f r e m d u n g" des tschechoslo­wakischen Filmmarktes vor; ähnliche Erscheinungen sind aber in jedem Lande festzustellen, wo die Sprache des Hauptteiles der Bevölkerung nicht zu den Welt­sprachen gehört. Mengenmäßig ist die Bilanz nicht schlechter als bei allen Mittel- und Kleinstaaten. Es muß bemerkt werden, daß selbst Deutschland weniger als die Hälfte seines FilmbedarfeS au» der eigenen Produktion deckt. Lediglich die Bereinigten Staaten haben es auf diesem Gebiete zu einer neun­zigprozentigen Autarkie gebracht. Die Zahlungsbilanz ist 1935 mit 16 Millionen KC(1934: 9 Millionen) passiv. An Lizenzgebühren fiir den Export einheimischer Filme sind im Verlauf des vergangenen Jahres vier Mil­lionen KL hereingekommen. Man kann also rechnen, daß etwa ein Fünftel(20 Millionen KC) im Ausland gedeckt worden sind. Dieses Ergebnis ist keineswegs ungünstig, wenn man bedenkt, daß nur bei sechs der 1935 hergestellten tschechischen oder slo- wakischcn Filme eine anderssprachige Version ge­dreht worden ist. Qualitätsfilme wieHej rup" undReka"(Junge Liebe") konnten übri­gens sogar in England in der ursprünglichen Version einen großen Erfolg erzielen. AuS alledem ergibt sich, daß das Problem der Weiterentwicklung der tschechoslowakischen Filmpro­duktion in erster Linie in der Frage liegt, wie die Qualität des Durchschnittssilms gehoben werden kann. Der tschechoflowakische Film genießt in Aus­lande dank einzelner dort bekannt gewordener Spii-- zenproduktionen«inen viel besseren Rvf als in der Heimat. Di« technische Leistungsfähigkeit unserer Ateliers hält den Vergleich mit der der Berliner und Londoner Produktionsanlagen aus. Die Produk­tionskosten find bei uns um die Hälfte niedri­ger als in Berlin . Ferner stehen unserer Film­industrie künstlerische Kräfte zur Verfügung, die zwar nicht durch eine Millionen verschlingende Rellame in allen Weltteilen alsStars" bekannt geworden sind, deren Kollektivleistung aber Weltformat erreicht. Die technischen und per­sonellen Voraussetzungen für einen weiteren Aufstieg unserer! Filmproduktion sind also gegeben. Was fehlt, ist eine planmäßige Ausnützung der vor­handenen Möglichkeiten, dje durch geschickte staat­liche Eingriffe wesentlich gefördert werden kann. Die Filmberatungsstelle hat sich gewiß einige Verdienste erworben, indem sie bei der AuSwabl der Filmsujets ihren Einfluß in der Richtung gel­tend macht, daß allzu große Geschmacklosigkeiten möglichst vermieden werden sollen. Immerhin muß man auf Grund trauriger Erfahrungen feststellen, daß die Tätigkeit der Filmberatungsstelle noch kei- Im Haushalt des Dompteurs Wie oft soll ich dir noch sagen, daß du den Löwenschweif nicht zum Lampenputzen benut­zen darfst?! neu ausreichenden Schutz gegen Kitschfilme bietet.* In bezug auf die finanzielle Unterstützung' guter Filme liegt das Schwergewicht auf den Zu­teilungen aus dem RegistrationssondS, der aus Jm- portgebühren gespeist wird. Im Jahre 1935 erreich­ten diese, die Höhe von 5,980.000 KL. Di« Unter­stützungen auS dem Registrationsfonds verteilten sich 1935 wie folgt: 19 Subventionen je 140.000 KL-- 2.660.000 KL; 3 Subventionen je 60.000 KL- 180.000 KL; 8 Subventionen für fremdsprachige Versionen je 40.000 KL-- 320.000 KL; 2 reduzierte Subven­tionen je 80.000 KL 160.000. KL, 17 Subven­tionen für K u l t u r f i l m e je 5000 KL 85.000 KL; 6 Ankäufe von Kulturfilmen 90.000. KL; 3 Subventionen für das F. i l m st u d i o: 20.000 KL 60.000; 1 Ehre n p r e i s für Filmproduzenten 60.000 KL; 8 E h r e n p r e i s e für Filmkünstler je 6000 KL--^.15.000 KL; 1 Sub- vcntion für Wochenschaufilme 83.000. KL; 1 Preisausschreiben für ein F i l m d r a m a 45.000 KL usw. Der Barbestand belief sich am 1. Jänner 1936 auf 1.418.000 KL. Wie man sieht, hat der Registrationsfonds nicht unbeträchtliche Möglichkeiten, auf die Produktions- richsilAg-unfe^r Mlmindustrie mitbeAmmend ein«., zuwirken.> Die. Suiwne der Subventionen, die den ProdÜktionsfirmen direkt zugutegekommen find, beläuft sich auf 8,400.000 KL, also auf fast 20 Pro­zent der Produktionskosten, ebensoviel. Wie die Einnahmen aus den Auslandslizenzen betragen, deren Höhe sich ebenfalls weitgehend nach der Qua­lität richtet. Als weiteres Mittel zur Hebung der Qualität könnte di« Ermäßigung, gegebenenfalls der vollst-»« dige Wegfall, der Lustbarkeitssteuer bei der Vorführung von Filmen in Betracht gezogen werden, welche etwa von der FilmbeoatungSstelle, alskünstlerif ch wertvoll>er als volks­bildend erklärt worden sind. Dieses System hat sich im allerdings nicht nationalsozialistischen Deutschland sehr gut bewährte Im Verein mit einer auf der Höhe ihrer Aufgaben stehend«» Film- k r i t i k würden die im Vorstehenden angeführten Maßnahmen sehr wesentlich dazu beitragen, um den ffchechosiowakischen Film zu einem wirklichen Instrument der Volksbildung und zu einem Mittel zur Förderung der internationalen Ansehen- un­sere- Landes zu machen. schrist»Gil BlaS" seinen neuen Roman»Der Aufruhr der Engel". Und in diesem Roman, den Lemoine wie die ganze literarisch interessierte Welt mit Spannung verfolgt, sieht Lemoine mit wachsendem Entsetzen sich selbst abkonterfeit: haargenau bis in alle Einzelheiten hat der Dich­ter den ministeriellen Bibliothekar in der Figur Sariettes nachgezeichnet, nicht das kleinste Merk­mal ist vergessen, Zug um Zug entspricht die Ro­manfigur dem lebenden Vorbild. Sariette ist ge­nau so ast wie Lemoine; er ist katholischer Kon­fession wie Lemoine; er speist im selben Restau­rant wie Lemoine; er war ursprünglich Hausleh­rer und beeidet später das Amt eines Biblio­thekars, genau wie Lemoine. Sariettes und Le­moines Krankheiten selbst sind in Art und Datum identisch. Und ebenso wie in Lemoines Bibliothek verschwinden in derjenigen Sariettes Bücher auf eine mysteriöse Meise. Anatole France hat diesen Umstand zum Anlaß einer ironischen Pointe ge­nommen: er schildert, wie die Engel, die in der Bibliothek die Werke Renans und anderer libera­ler Schriftsteller gelesen haben, den orthodoxen Glauben verlieren und sich in Menschen verwan­deln. Lemoine sieht sich in despektierlicher Weise bloßgestellt. Der Schatten Sariettes verfolgt ihn Tag und Nacht. Der MinisteriaMeamte sagt in ziemlich kräftigen Worten seine Meinung über den Dichter, er tobt vor Entrüstung. Und. diesen Umstand benützt seine Gattin, um ihn ins Irren­baus bringen zu lassen. Das war im Mai 1918. Elf Jahr« lang bleibt Lemoine interniert; elf Jahre lang erllären die Aerzte, es sei unmöglich, ihn zu entlassen, da er an Verfolgungswahn leide. »Der Aufruhr der Engel ", sagen die Fachleute, habe Lemoine derart auS dem geistigen Gleich­gewicht gerissen, daß er bei seiner Freilassung »die öffentliche Ordnung gefährden" würde. In der Zwischenzeit wurde der dramatische Faden noch weiter gesponnen: Anatole France hat in der Buchfassung des Romans das Schicksal Lemoines vervollständigt. Während in dem Vorabdruck der Zeitschrift der literarische Doppelgänger Sariette noch eine durchaus harmlose Gestalt war, wird er in der Buchausgabe des Romans zum Irren, der zur selben Zeit wie Lemoine in die Irrenanstalt ein­geliefert wird. Erst 192^ ist Lemoine durch eine Berwal- tungsentscheidung aus dem Irrenhaus entlassen worden. Er setzte sofort alles daran, um seinen Ruf zu rehabilitieren. Zeugen attesfierten ihm, daß er immer im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte gewesen sei. Zunächst erwirkt Lemoine die Scheidung von seiner Frau^ deren Jntrigue ihn ins Unglück gestürzt hatte. Dann setzte er die Zurückberufung in seine Stellung im Kriegsmini­sterium durch. Bald erschien auch eine Schrist, in der Lemoine seinen Fall von grundsätzlichen Ge­sichtspunkten aus aufrollte. Und endlich brachte Lemoine beim Gericht eine Schadenersatzklage gegen die Erben des Dichters Anatole France und dessen Verleger Calinan-Levy ein. Dieser Klage wurde stattgegeben; das Gericht anerkannte di« Identität von Lemoine und Sariette und be­stimmte 20.000 stanz. Franken als Entschädi« gungsfiimme. So ist das Problem für Herrn Lemoine, den Bibllothekar im französischen Kriegsministerium, befriedigend gelöst. Seine Odyssee hat ein Happy­end gefunden. Aber das Problem, inwieweit es den Dichtern gestattet sei, ihren Figuren die Züge von lebenden Modellen zu leihen, bleibt immer rwch bestehen. Denn zwischen grobem Schlüssel­roman, die einen eindeuttgen Sachverhalt eindeu­tig schildern und die klare Absicht erkennen lassen, durch die Bloßstellung gewisser Personen Staub aufzuwirbeln, und zwischen dichterischen Werken» in denen der äußere Tatbestand nur Mittel zur künstlerischen Formung ist, liegt eine ganze Welt. Man hat auch dem deutschen Dichter Thomas Mann öfters zum Borwurf gemacht, er habe diese und jene Figur zu stark den lebenden Modellen gemäß gezeichnet; aber Thomas Mann. hat ,dar- aüf treffend erwidert; auch Schiller , Wagner und vor allem Shakespeare hätten ihre Stoffe lieber gefunden als erfunden. Das Stoffliche, sagte Thomas Mann , beziehe sich»allein auf das Pit- toreske, die Maske, die Geste, die Aeußerlichkeit", und erst die Füllung des schemattschen Rahmens mache das Dichterische aus. Durch das»völlige Einswerden des Dichters mit seinem Modell" aber werde»aller Kränkung die Spitze abgebrochen".. Aus diesen Gründen wird man das Urteil des stanzösischen Gerichts sicherlich nicht alS salo­monisch ansprechen dürfen. Wir gönnen Herrn Lemoine sein Glück von Herzen sind aber an­dererseits der Meinung, daß den Dichter Anatole France an Lemoines elfjährigem Unglück keine Schuld trifft und daß man gerade dem echten Künstler daS Recht, in gewissen Grenzen das gegenwärtige Leben und seine Gestalten zu por­trätieren, nicht strittig machen darf.