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Mittwoch, 11. März 1938
Nr. SO
MUS ein Hohelied singen. Kasper redete des weiteren über Achtstundentag, Sonntagsruhe, früheren Ladenschluß, Vierzig-Stundenwoche, ohne mit einem Wort zu verraten, was die sagenhafte Volksgemeinschaft dazu beigetragen hat, diese Errungenschaften durchzusetzen oder ihre Verbesserung zu fördern. Bedingt setzt sich Kasper sogar für die Vierzig-Stundenwoche ein und betont zugleich, daß sie ohne Lohnausgleich nicht in Frage komme. Wir sind freudig überrascht. Bon dem Sprecher einer Partei, die den größten Teil deL sudetendeutschen Unternehmertums in ihren Reihen hat, ist es allerhand. Herr Kasper hätte jedoch gleichzeitig eine Liste von Henlein-Fabri- ka nicn vorlesen müssen, die sich für die Vierzig- Siundenwoche ohne Lohnabzug aussprechen. Die Henlein -Arbeiter mögen die zustimmenden Beschlüsse d e r Vo 11 sgenossen Unternehmer urgier Ü n. Ohne dieses friedliche Entgegenkommen an die sozialen Forderungen der Arbeiter bleibt doch das arbeiterfreundliche Gerede auf solchen Tagungen eitel Schaumschlägerei. Zur Erheiterung unserer Leserschaft sei noch vermerkt, daß Kasper auch verlangt hat, das Genter System und die Ernäh- rnngsaltion müßten von allen politischen Ein- flüffcn befreit werden. Mit dem Ruf nach„Entpolitisierung" meint die SdP nämlich— siehe Voll»bilfel—, daß alle Fürsorgeaktionen ausschließlich unter ihren parteipolitischen Einfluß lomnten sollen. Zweiter Redner auf der Tagung war Herr Sandner. Hatte er den Mut, wenigstens einige kritische Worte an die Adresse des sozialreaktionären Unternehmertums zu sagen? Gab er darüber Aufschluß, auf welchem Weg« und mit welchen Mitteln die Volksgemeinschaft das soziale Recht des deutschen Arbeitsmenschen durchsetzen will? Mit nichtcnl Ein einziges anklagendes Wort gegen den Kapitalismus oder gegen die volksgenössischen Industriezerstörer vom Schlage Doderers würde dem Sandner sofort die bequeme Führerstellung kosten. Dafür wird er doch nicht bezahlt. Herr Sandner weih genau, was er seinen Hintermännern und Auftraggebern schuldig ist: den K ampfgegendiesozialdemo- kratische Arbeiterbewegung. Und so schwefelte er in gewohnter Art von der „historischen Schuld" der marxistischen Arbeiterparteien an dem sudetendeutschen Elend. Kein Wort wagt Herr Sandner gegen die unglückliche Wirtschaftspolitik der nordböhmischen Unternehmer, kein Wort gegen die Lohnabbauer, kein Wort gegen die planlose Rationalisierung, kein Wort gegen die systematische Jndustrieverschleppung durch deutsche Kapitalisten. Dagegen hatte dieser Renegat/ der selber allzu gern eine sozialdemokratische Parteistellung angestrebt hätte, die Stirne, zu sagen: „Verschärft. Wpde die unglückselig«.Wirkung. der deutschen marxistischen Politik durch innere Entartungund Verfall, denen im besonderen die deutsche Sozialdemokratie im Lauft der Jähre immer mehr verfiel. Ging doch die Führung der Partei nach dem Tode Seligers, Cermaks und Hillebrands in die Hände von Männern, die dem Sudetendeutschtum zum großen Teil volksmäßig nicht mehr verbunden find und längst schon die Fähigkeit verloren haben, sudetendeutsch zu fühlen, zu denken und zu handeln. War es in den ersten Jahren der blinde Glaube an das marxistische Dogma, der es ihnen unmöglich machte, eine wirkliche sudetendeutsche Arbeiterpolitik zu verwirklichen, so war eS später der unmenschliche Haß . gegen alle politischen Gegner im eigenen Volke.
Im besonderen die deutsche Sozialdemokratie ist als Regierungspartei, die alle Angrifft gegen den materiellen Besitzstand deS Sude- tendeutschiumS während der letzten Jahre mitzu- verautworten hat, geradezu zum Totengräber für den sudetendeuschen werktätigen Menschen gewor- l” d e n." Nicht mehr und nicht weniger weiß dieser Sandner über die große geschichtliche Leistung der Sozialdemokratie zu sagen, über das sozial-kulturelle Aufbauwepk der freien Gewerkschaften, über die heroischen Kümpfe gegen Betriebsstilllegungen, die oft genug das Werk sudetendeutscher Unternehmer und reichsdeutscher Kapitalisten waren I Nicht die Doderers sind die Totengräber der sudetendeutschen arbeitenden Menschen, sondern die Sozialdemokraten, di« seit Jahren um jede Arbeitsstätte und um jedes Stück sozialer Fürsorge kämpfen. Ausgerechnet vom Herrn Sandner werden wir lernen, sudetendeutsch zu fühlen und das Vermächtnis eines Seliger, Ter- mak oder Hillebrand zu achten. Wahrlich, nichts Aergeres könnte den heutigen Führern unserer Bewegung zustoßen, als von einem Sandner gelobt zu werden! Tausend Delegierte waren also in Tetschen versammelt. Was sie Lachten, was sie sprachen
und von ihrer Partei forderten, davon erzählt der Bericht kein Wort. Der Arbeiter hat doch in der SLP zu kuschen und zu zahlen. Man vergleiche damit den lebendigen Verlauf unserer Konferenzen und Tagungen. Wie da in offener, parteigenössischer Aussprache zwischen den Vertrauensmännern und der Führung alle Probleme geklärt, alle Aufgaben neu abgesteckt werden. Jede unserer Bezirkskonferenzen steht daher auf einem höheren geistigen und sittlicheu Niveau als diese„gesamtstaatliche Arbeitertagung" der SdP. Schon dieser Vergleich allein erfüllt jeden Sozialdemokraten mit froher Zuversicht über den schließlichen AuSgang des Duells zwischen ehrlicher Arbeiterpolitik und den scheinsozialen Schwindelmanövern der Volksgemeinschaft. Nicht vergebens sind zehn tausende von heutigen Anhängern Henleins durch die Schule der m a r x i st i s ch e n A r b e i t e r b e- wegung gegangen. Sie werden sich nichtdauern^d mundtot machen lassen. Sie werden sich schon noch zu Worte melden und ihren Verführern die Wahrheit über den kapitalistischen Betrug mit der Volksgemeinschaft ins Gesicht schreie»— so laut und so deutlich, daß es den Herren Sandner und Kasper die Red« verschlagen wird!
Locarno -Debatte im Senat Prag . Die Ereignisse der letzten Tage auf außenpolitischem Gebiet fanden am Dienstag im Senat, der sich mit zwei handelspolitischen Vorlagen beschäftigte» ihren Widerhall. Eingeleitei wurde diese Aussprache durch den Kommunisten Wenderlich, der die Hitlerrede scharf kritisierte und die SdP unter dem lebhaften, Protest der anwesenden SdP-Senatoren als Handlanger und Nachbeter Hitlers bezeichnete. Der tschechische Genosse Jng. Winter hielt dann eine formvollendete und kluge Rede, in der er den tragischen Widerspruch zwischen den großen kulturellen Leistungen des deutschen Volkes und dem unersättlichen Streben nach der Weltherrschaft aufzeigft, das ihm alle Sympathien verscherze. Redner zeigt auf» wie Deutschland unter dem neuen System wahnsinnig aufrüstete und dadurch die anderen Staaten ebenfalls zu Rüstungen zwang. Nun scheine das Dritte Reich zu glauben, daß die Friedensfront schon so geschwächt sei, daß es die letzten Fesseln der Verträge abstreifen könne. Wer gerade einen Vertrag derart gebrochen habe, der sei kein verläßlicher Partner für künftige Verträge, auch wenn er sie selbst anbietet. Genosse Winter unterstreicht, daß unser Staat mit dem deutschen Volke, das zum großen Teile sicher auch friedfertig sei, in Frieden leben wolle; dazu müsse aber auch der gute Wille auf der anderen Seite vorhanden sein. Die Tschechoslowakei erwartet vom Völkerbund, daß er seine Psticht erfülle, diesen Fall eklatanter Vertragsverletzung aufgreife und alles tue, um einen neuen Krieg in Europa zu verhindern. Jnnerpolitisch müssen wir aus der gegebenen Situation die Nutzanwendung ziehen, einig zu sein, jedwede kleinliche Nadelstichpolitit zu unterlassen und alles für die physische und moralische Stärkung der breiftsten Volksschichten zu unftrnehmen; dazu gehöre vor allem auch, daß man nicht jetzt darangehen dürfe, den Leuten durch Aufhebung des Mieterschutzes das Dach über dem Kopf wegzunehmen. Jng. Weller(SdP) vermied eS, sich aufs außenpolitische Glatteis zu begeben, sondern begnügte sich mit der Verlesung eines Protestes gegen die angebliche Drangsalierung der Sude- tendeuffchen Bolkshilfe. Als er wieder von der Rot der Arbeitslosen anfing, wurden ihm von unseren Genossen und den Kommunisten die Hungerlöhne vorgeworfen, die die Volksgenossen- Unternehmer zu zahlen pflegen. So wurde ihm zugerufen:»Erzählen Sie das der FirmaKiesewetter, an der Sft beteiligt sind, die eine Krone Stun- d e n l o h n zahlt!"„Fünf Kronen Landhilfc die Woche!" etc. Auch die Referentin Plaminkova fertigte im Schlußwort die Spötteleien des SdP« Redners über die fehlende Demokratie und Humanität sehr treffend ab und schloß sich dem Frie- densappell des sozialdemokratischen Redners an. Diese Aussprache ging im Rahmen der Debatte über das Handelsabkommen mit Ungarn vom 14. Juni 1935 und über das Abkommen nut Deutschland betreffend die Zollbegünstigungen für Perlmutterknöpfe vor sich, die beide angenommen wurden. Zum Schluß gab es noch ein heiteres Intermezzo, als der amtierende Vizepräsident Doktor Bas(Gew.-P.) einen Antrag der Nationalen Vereinigung, daß der Außenminister in der nächsten Plenarsitzung ein Expose erstatte, irrtümlich als angenommen erklärte, obwohl sich kaum ein paar Hände dafür erhoben hatten. Auf seinen Irrtum aufmerksam gemacht, ließ er sich ex vrä- sidio auch noch in Diskussionen mit Zwischen«
Hodias Wiener Konferenzen Das österreichische Kommunique
Wien.(Tsch. P.-B.) Ueber die bereits abgeschlossenen Verhandlungen des Vorsitzenden der tsche- choflowakischen Regierung Dr. Hodja in Wien wird folgendes verlautbart: Der zweitägige Aufenthalt des tschechoslowaki- scheu Ministerpräsidenten Dr. Hodja in Wien bot den Chefs der beiden Regierungen reichlich Gelegenheit, die Besprechungen fortzusetzen, die anläßlich der vor einigen Wochen erfolgten Zusammenkunft zwischen Bundeskanzler Dr. Schuschnigg und dem Ministerpräsidenten Dr. Hodja in Prag stattgefunden haben. Insbesondere wurde das Ergebnis der Handelsvertragsverhandlungen gemeinsam geprüft und festgestellt, daß diese Besprechungen nunmehr zur Abschlußreife gediehen find, nachdem einige offene Punkte zur Gänze bereinigt werden konnten. Bei diesen in freundnachbarlichem Geiste geführten Verhandlungen, die mit dem Ziel einer gegenseitigen Ausweitung des Verkehrs geführt wurden, ist im Sinne der Empfehlungen der Konferenz von Stresa der Präferenzgedanke angewendet worden. Der Niederschlag der bezüglichen Vereinbarungen wurde in einem Prowkoll niedergelegt, das beide Regierungschefs unterzeichnet haben. Im Rahmen deS Vertrag-Werke- wurden auch verschiedene andere Fragen; dir nicht unnitttrlbar den reinen Handelsverkehr betroffen, näher geregelt, darunter die Frage des Fremdenverkehr-. Weiter wurde zwischen den beiden RegftrungSchefS vereinbart, daß am 81. Mai 1986 ablaufende Vergleichs« und SchiedSge« richtSvertrag zwischen Oesterreich und der Tschechoslowakischen Republik zeitgerecht durch einen neuen Vergleich-- und Schiedsgerichtsvertrag ersetzt werden wird, der den in dieser Materie in der letzten Zeit erzielten technischen Fortschritten Rechnung tragen und in seiner Einleitung den freundschaftlichen Charakter der Beziehungen, die zwischen den beiden Staaten bestehen, zum Ausdruck bringen wird. Die beiden Regierungschefs haben ferner grundsätzlich vereinbart, Verhandlungen zum Abschluß eines Kulturabkommens, wie
solche Oesterreich und die Tschechoslowakei bereits mit mehreren Staaten abgeschlossen haben, ehestens zwischen den beiderseitigen zuständigen Stellen aufnehmen zu lassen. Im Verlaufe der Besprechungen wurcke selbstverständlich die allgemeine internationale Lage gründlich erörtert und in besonders eingehender Weise die in der letzten Zeit im Vordergründe der öffentlichen Diskussion stehende Frage der Organisierung des Donauraume S geprüft. Hiebei wurde einvernehmlich als wünschenswert bezeichnet, daß vor allem eine immer weiter fortschreitend« Annäherung der Staaten der Kleinen Entente und der Signararstaaten des Rom « Paktes auf wirtschaftlichem Gebiete angestrebt werde. Hiedurch würden nach Auffassung der beiden Regierungen auch bedeutsame Fortschritte in politischer Hinsicht erhofft werden können. * Der„Petit Parisien" bringt ein Interview mit Schuschnigg , in dem der Bundeskanzler sich mit größter Reserve über die Donau -Pläne HodZas ausspricht. Die Grundlage jeder mitteleuropäischen Kombination seien die römischen Pakte, der italienische Markt sei für Oesterreich wichtiger alS jeder andede und nur schritweise könne eine Annäherung der kleinen Staaten im Dpnauraum erzielt werden. Das klingt, wie übrigens das Kommunique auch, nicht gerade ermutigend für die Anhänger einer konstruktiven Politik im Donauraum. Es beweist, daß sich Oesterreich wieder ganz auf der mussolinischen Linie befindet. Dabei soll nicht verschwiegen werden, daß die Schuld an der ungünstigen Entwicklung nicht allein auf feiten Oesterreichs gesucht werden kann. Es ist bekannt, daß die Idee Hodzäs auch innerhalb der Kleinen Entente auf sehr heftigen Widerstand gestoßen fft und daß man in Belgrad diesmal L i e b e n S d i e n st e für Mussolini— also in weiterer Linie auch für Hitler — geleistet hat
MÄNNER, I UND WAFFEN I I Roman von Monfred Georg| Copyright by Dr, Manfred Georg, Präs „Ich liebe es nicht," sagte sie endlich eine- Tages,„daß man sich in meine privaten Dinge mischt. Daß Du nicht darauf kommst, daß Mar- dricr Dich angelogen hat, begreife ich nicht. Warum sollte er vor Dir nicht einen kleinen Bei- fchlafSdiebstahl fingieren? Eine Tänzerin, die einfach heraufkommt, wenn«in Mann eS ihr befiehlt, warum soll man der dieses ganz gewöhnliche Delikt nicht zutrauen? Aber Du glaubst, daß ich ihm die paar Briefe gestohlen habe?! Er wollte Dich doch sicher nur kränken, noch mehr kränken, als er es schon getan hat. Vielleicht ist er eifersüchtig." Eine Zeitlang glaubte Schumann aus Bequemlichkeit a» diese Aufklärung. Dann aber fiel ihm daS unverstellte Gesicht deS von der Kalte HaydkeS sexuell Geprellten, der obendrein noch bestohftn worden war, als absolut echt ein. Gleichzeitig ärgerte er sich, daß er Haydke mit diesen Fragen nicht in Ruhe ließ. Es ging ihn ja wirklich nichts an. Von diesen Zwischenfällen abgesehen, verflossen die Riviera-Tag« in einem Taumel, der ihn vollkommen auflöste. Als sie auf dem Bahnhof von Nizza standen, um über Mar seille zu HaydkeS Mutter zu fahren, sah er zufällig in den Spiegel eines Reklame-Automaten. Straff und gebräunt blickte er sich daraus entgegen, Und wenn nicht das schon ergrauft Haar gewesen wäre, hätte er geglaubt, er sei noch der junge Leutnant Werner Schumann, der mit ge« schmeidigen Knien und wehendem Jungenshaar in die Garnison Graz eingczogen war.
Die Glocke an der Tür des kleinen Ladens gab einen scharfen Klick, als Schumann und Haydte den Geschäftsraum der Frau Nazario betraten. Auf einem langen, ziemlich primitiven Tisch, von dessen Vorderseite eine Anzahl bunter Plakate herabhingen, die Bananen, Liköre, Sardinen und einen Sommer in Tunis propagierten, lagen Früchte und Büchsen, Stapel von Ansichtskarten, Badeanzüge, Angelgerät wirr durchein« ander gehäuft. Links erhoben sich aus dem Durcheinander wie trotzige Türme fünf riesige, bauchige, mit bunten Bonbons gefüllte hohe Gläser. Es war ein sehr provisorischer Laden. Man hätte ihn über Nacht zusammenpackey können samt den Regalen, die sich an seinen Wänden hinzogen, und in denen Dutzende der verschiedenartigsten Verkauf-gegenstände in Unordnung aufgestapelt waren. Etwas Ordnung zeigte nur die Abteilung: Liköre und Spirituosen. Ein Tablett mit vielen Gläsern, das auf einem Tischchen gleich iwben der Tür stand, verriet die Möglichkeit, hier sofort auch einen Aperitif nehmen zu können. Der Boden war mit Sand bestreut, und obwohl die schrägen Jalousien draußen her» untergelaflen waren, strömte das Sonnenlicht durch das Glas der Tür und des großen Fensters in Schwaden herein. Erstaunt sahen sich die beiden Besucher um. Der Raum schien verlassen. Aber nein, hinter dem Ladentisch stieg eine Rauchwolke empor. Gleich darauf tauchte der Kopf einer zierlichen, brünetten Frau auf, die, ohne eine dicke Zigarre aus dem Munde zu nehmen, nach dem Begehr fragte. Dann stemmte sie die Fäuste in die Hüften und stieß einen eüvas heiseren Laut des Staunens aus: „Meldest Du Dich auch einmal wieder! TaS ist ja nett, daß Du mich nicht vergißt!" Frau Amelie kam auS ihrem Versteck, in dem sie auf einem Liegestuhl nachmittäglich vor sich hingebrütet batte, hervor. Sie trug ein ganz 'dünnes, in der Hüfte von einem roten Gürtel
gkschnürtes Bastkleid, das den Hals, makellos und ohne Falten, ganz fteiließ. Auch die Aer- mel waren kurz und Schumann bewunderte die unversehrte Haut und straffe, ja fast jugendliche Eleganz dieses sicher schon dem fünften Jahrzehnt gehörenden Körpers. Sie war viel zierlicher als Haydee. Das Gesicht lief mit allen Linien zu dem großen, stark geschminkten Mund hin. dessen kräftige Zähne von einem leichten hellen Rauchgelb überzogen waren. Das krause Haar ging buschig nach hinten, um schließlich von einigen querliegenden Lockendämmen gebändigt zu werden. Der flinke Blick schätzte Schumann rasch ein und erriet sofort das nahe Verhältnis des Mannes zur Tochter. Frau Amelie begrüßte den ihr vorgestellten Rittmeister kurz und freundlich, hing dann ein Schild„Geschlossen" vor die Pforte und lud zum Sitzen ein. Bei den Erzählungen Haydees, die meistens von ihren Erlebnissen als Tänzerin handelten und es sehr kunswoll verstanden, die neugierigen und etwas indiskreten Zwischenfragen Frau Anftlfts nach der Zukunft und dem Begleiter immer wieder abzulenken, bewahrte Frau AmKie trotz ihres Interesses immer eine Distanz, die zeigte, daß die Tatsache, daß ihre Tochter da saß, fiir ihre Beteiligung nicht absolut maßgebend war. Trotzdem sie sehr viel trank, wurde sie nicht senttmental. Als Haydee geendet hatte, sagte sie kurz:- „Ja, aber was willst Du hier? Der Laden geht schlecht. DaS war doch ein großer Umweg auf der Reise. Ich möchte jetzt bloß wissen, was du für Hintergründe hast!" Sie war sehr schwer davon zu überzeugen, daß nur Anhänglichkeit der Tochter und Schumanns Laune die Ursache des Besuches waren. Als sft das aber begriffen hatte, wurde sft geradezu fröhlich. Sie streichelte Haydee, holte eine neue Flasche und begann nun ihrerseits loszulegen. Von dem Leben hier am Ort, den englischen Malern, die in der Saison herkamen, von
einem gewissen Antonie, Kapitän eines kleinen Küstendampfers, der zwischen Marseille und Port Bou auf Pendelfahrt war und manchmal ihretwegen hier auf eine Urlaubsnacht herüberkam, von ihren kleinen Schmuggelgeschäften» die ihr beinahe einmal die Entziehung der Schankkonzession gebracht hatten und von einem deutschen Professor, einem kahlen, kleinen Manne mit Goldbrille, der eine ganze Saison lang jeden Tag zu ihr gekommen w^r. „Du bist verliebt in ihn gewesen, Mutter?" „Merde," entgegnete Frau Amelie und spuckte den Kern einer Kirsche, die sie mit einem Stäbchen aus einem großen Kognak-Glas holte, in die Ecke.„Er hatte mal herausgekriegt» wer meine Vorfahren waren und daß ich noch Lieder wußte aus sehr alten Zeiten. Da ist er hergekommen und hat sich das iinmer alles ausgeschrieben. Mir kam das zu dumm vor. Eines Abends habe ich ihn besoffen geinacht und geküßt. Er hatte so eine zarft, Weiße Haut. Wer es ist ihm nickt gut bekommen. Zwei Tage ging er herum wie seekrank. Ein armer Narr." Sie beugft sich warnend zu Schumann hinüber: „Die Europäer können nichts vertragen. Sie haben ja auch ganz kleine Augen!* In der Tat hatten Rauch und Alkohol, die Hitze in dem geschloffenen Raum, der betäubende Geruch der Früchte und der rasche, rauhe Tonfall Frau Änftlies, der gleichförmig an sein Ohr schlug, ihn ein wenig müde gemacht. Haydäe verteidigte ihren Geliebten. Wer Amelie lehnte sich weit in ihrem rohrenen Stuhl zurück und rief: «Man frißt oder man wird gefreffen, mein Herr. Wenn Sie Haydee fressen, werde ich sehr böse sein, denn sie ist zu einer großen Karriere bestimmt. Das spüre ich. Und wenn sft Sie frißt, dann tun Sie mir leid, dann wird nickt viel von Ihnen übrig bftiben!" .(Fortsetzung folgt.)!
FRAUEN