dir. 60

Mittwoch, 11. März 1936

Seite 8

fluaZatut Militärische Maßnahmen an der Italienischen Küste (AP.) Italien trifft zur Zeit an seiner Küste fieberhafte Vorbereitungen.' An-er Küste sind 250.000 Mann, 400 Bomben- und andere Flugzeuge sowie zahlreiche U-Boote und mehrere hundert Motorboote konzentriert. Diese haben eine Stundengeschwindigkeit bis zu 80 Kilometer, eine Besatzung von vier Mann und sind mit zwei Torpedos versehen. Dazu kommen Torpedoboote und Minenleger. Viel Aufmerksamkeit schenkt man den Erfahrungen, die man im Weltkriege bei der Verteidigung der Dardanellen gemacht hat. Eine schwache Stelle» die man mit allem Eifer auszumerzen sucht, ist die jahrelange Ver­nachlässigung der Küstenbatterien. Auch in dieser Hinsicht ist überall längs der Küste eine rege Tätigkeit festzustellen, um die Küstenbatterien schnellstens auszubauen. Besonderen Wert legt man auf den Schutz der Hafeneinfahrten. Ueber- all finden nach wie vor Hebungen des Küsten­schutzes statt. Diese Vorbereitungen bleiben natürlich der Bevölkerung nicht verargen. Man kann sagen, daß in den Küstenstrichen, insbeson­dere in den Hafenstädten, ein viel größerer Pro­zentsatz der Bevölkerung gegen einen Krieg ist. Man spricht dort ganz offen vonMuß- Faschisten". Die Einstellung ist also eine gänzlich andere als in den inneritalienischen Gebieten, wie in der Lombardei . Dazu ist zu bemerken, daß man auch durch die jüngste Entwicklung die Kriegsgefahr keines­wegs als ausgeschaltet betrachtet. Zwar hat der Negus dem Friedensappell zugestimmt, aber gleichzeitig ist von abessinischer Seite deutlich er­klärt worden, daß Gebietsabtrennungen nicht in Frage koinmen, die Eroberung von Addis Abeba für die Italiener trotz der abessinischen Miß­erfolge nicht möglich sei und daß Abessinien immer noch als letzte Hilfe und Rettung Genf und das Petroleumembargo habe. In Abessinien ist man also keineswegs so pessimistisch, wie die italienische Propaganda es hinstellt. Daher steht auch die Sanktionsfrage nach wie vor nicht außer Diskussion. Fürst Sayonji, der Reslerungsmacher Wahrscheinlich ist es die Pressezensur, die augenblicklich die Vermittlung der Nachrichten aus Japan und damit auch die Beurteilung der dortigen Ereignisse für den Europäer so erschwert. Und doch ist für die Gestaltung der europä­ ischen Politik in den nächsten Wochen, ja vielleicht Tagen..«s.u icht, g l e.i.ch g. ü l.t i g, in wessen Händen das Regierüngssteuer in Tokio sich befinden wird. Wie sich die Lage in Japan auch von hier aus darstellen mag, eins ist sicher, daß nämlich bei der Gestaltung der japanischen Innen- wir Außenpolitik und besonders bei der Regierungsernennung der älteste von den heute lebenden japanischen Staatsleuten, Fürst Sayo­nji, ein gewichtiges Wort mitzusprechen hat. Sayonji ist eine der i n t e r e s s a n t e st e n Gestalten des modernen Japans , halb noch zu der vorrevolutionären Epoche gehörig, ande­rerseits einer der fortschrittlichsten Männer der Tokioter Spitze. Er hat noch als kaum Zwanzig­jähriger führend anderRevolutiondeS Jahres 1867/68, durch die das feudale Hausmeiertum der Schogune aus dem Hause Tokugawa gestürzt wurde, teilgenommen. Soyo- nji gehört zu jenenG e n r o", Staatsleuten des alten Kaisers Mutsuhito , des Großvaters des jetzigen, zu denen auch Männer wie Ito, Aama- gata und Okuma gehörten. Er selbst ist aus einer» alten'Samuraigeschlecht des Satsumkla- n e s hervorgekommen, hat zehn Jahre in Paris studiert, wo er Menschen wie Thöophile Gautier und Clemenceauzu Freunden gewann. Sayonji ist einer der wenigen japani­

schen Staatsmänner, die durch die f r a n z ö- fische Schule gegangen sind, und das bat sich in seiner großen politischen Geschmeidigkeit ausgewirkt. Er ist zweimal Ministerpräsident ge­wesen, 1906/8 und 1911/12, aber seine eigent­liche Tätigkeit spielte sich weniger in den Ministe­rien, als hinter den Kulissen des kai­serlichen H o f e s ab. Auch heute geschieht in Tokio nichts, ohne daß er um Rat gefragt wird, und an dem Tor seiner be- scheidenen Villa im Vorort von Tokio sieht man stets Autos der Minister und'Parteiführer.

Die Stärke der japanischen Armee.(AP.) Die letzten Vorgänge in Japan haben die Auf­merksamkeit auf die japanische Armee gelenkt, über die man im allgemeinen in Europa wenig weiß. Die japanische Armee ist aufgebaut auf der allgemeinen Wehrpflicht. Die aktive Dienstzeit umfaßt bei der Infanterie zwei, bei den übrigen Waffengattungen drei Jahre und beginnt mit dem 20. Lebensjahre. Wer körperlich nicht ganz beson­ders geeignet ist, findet in der Ersatzreserve oder im Landsturm Verwendung. Voraussetzung für den aktiven Dienst ist außerdem die Teilnahme an der militärischen Jugendausbildung. Ueber die genaue Stärke fehlen heute alle Unterlagen. 1933 betrug sie 20.000 Offiziere und 280.000 Mann, die in 17 Infanterie-Divisionen und 4 Kaval­lerie-Brigaden. gegliedert waren. Heute ist fie

erheblich größer. Der Hauptteil liegt im südlichen Teil von Japan und ist so stationiert, daß er in kürzester Frist nach Korea oder Mandschukuo transportiert werden kann. In Korea befinden sich zwei Divisionen, in Mandschukuo Und Nord­china 4 Infanterie-Divisionen, 2 Kavallerie-Bri­gaden, ein Kampfwagenregiment, 3 Flieger- Regimenter, ein Bahnschutzkommando für die Ost­chinesische Bahn. Auf Formosa und den Pesca- doreS-Jnseln sind Kräfte in Stärke einer Brigade. Die Kriegsstärke beträgt etwa 600.000 Mann. Dazu kommen 1,7 Millionen aus Reserve und Landsturm. Doch ist selbstverständlich, daß unver­gleichlich viel mehr Menschen aus dem riesigen Reservoir herausgeholt werden können. Die japa­nische Armee ist nach dem Krieg weitgehend mit schweren Maschinengewehren und Minenwerfern ausgerüstet und in hohem Maße motorisiert wor­den. Japan hat mindestens 1000 Kampfwagen (drei Regimenter) und 2000 Flugzeuge(11 Re­gimenter mit 22.000 Mann). Bei dem fieber­haften Tempo der Aufrüstung aber steigen sämt­liche angegebenen Zahlen in außerordentlicher Geschwindigkeit, und die japanische Armee kann sicher in Zahl und Ausrüstung als eine der stärk­sten der Welt bezeichnet werden. Anderseits fehlen ihr die Erfahrungen neuzeitlicher Kriegsführung, und finanzielle Gründe sowie die Notwendigkeit zeitweiliger Bevorzugung der Marine haben in mancher Hinsicht hemmend gewirkt.

MWill und WM Schiedsspruch Im polnischen Bergbaukonflikt Warschau . Die außerordentliche Arbitrage­kommission, welche von dem Präsidenten der Repu­blik mit der Regelung des Lohnkonfliktes im Dom- browaer und Krakauer Kohlenreviere betraut wurde, hat entschieden, daß die bisherigen Berg­arbeiterlöhne auf allen Kohlengruben des Dom- browaer und Krakauer Reviers unverändert blei­ben. Die Kohlenindustricllen forderten eine 10- bis 15prozentige Lohnherabsetzung. Lediglich auf zwei Gruben der Warschauer Kohlengesellschaft, auf derKasimir"- undJulius"-Grube, auf denen bekanntlich vor wenigen Tagen ein Hunger­streik der Arbeiterschaft üurchgeführt wurde, ließ die außerordentliche Arbitragekommission mit Rücksicht auf die schwierige finanzielle Lage dieser Kohlengruben die Möglichkeit einer unbedeuten­den Lohnkürzung unter der Bedingung zu, daß keine Arbeiterentlafsungen vorgenommen werden. Durch diesen Schiedsspruch der außerordentlichen Arbitragekommission wurde die Gefahr eines Streikausbruches im Dombrowaer und Krakauer Kohlenreviere beigelegt. DI« Reorganisierung der britischen Kohlenindustrie Der englische Bergbauminister hat angekün­digt, daß die Regierung einen Gesetzentwurf ein­bringen will, der der Reorganisierungskommis­sion für Bergbau wirksame Vollmachten geben soll, um Fusionen von Bergbauunternehmungen durchzusetzen. Dies würde eine bedeutsame Wen­dung in der britischen Kohlenpolitik darstellen, da die sehr ausführlichen Arbeiten dieser Kommis­sion während der letzten Jahre mangels ent­sprechender Vollmachten zumeist auf dem Papier geblieben sind, selbst dann, wenn die über­wiegende Mehtzheit der Unternehmungen sich da­für aussprach. Sogar der liberaleManchester Guardian" hebt hervor, daß man heute weder mit freiwilligem Zusammenschluß, noch auch mit zentralem Absatz allein auskomme und daß Zwangsmittel für die Kommission verfügbar sein müssen. DieP.E.P."(Abkürzung für Politcal and Economic Planning), eine Untersuchungsstelle für Fragen der Wirtschaftsplanung in London , veröffentlicht einen Bericht über die Kohlenindu­strie,. dep einen Ueherblick über, die vielfach er­örterten Reorganisationsprobleme dieses Wirts"' schaftszweiges bietet. Die Hauptvorschläge, die zum Teil mit den von der Regierung bereits an­genommenen übereinstimmen, sind: Zentrale Ab­satzorganisation für jeden Bezirk unter Ausschal­tung des Wettbewerbs zwischen den Bezirken; Reorganisierung der Verteilung auf dem Bin­nenmarkt zwecks besserer Bedienung des Verbrau­ches und Senkung der Handelsspanne; Schaffung eines Kohlenexportverbandes, der alle Verkäufe ins Ausland kontrollieren und ein internationa-. les Kohlenkartell vorbereiten soll; Nationalisie­rung und Vereinheitlichung der Ertragsanteile und ihre Verwaltung durch die Kohlenkommission zur technischen Entfaltung der Industrie; Kon­zentrierung der Beschäftigung zur entsprechenden Erhöhung der Lohnsätze; ein nationales Lohn­abkommen.

Ein Delegierter des bulgarischen Export­institutes für Prag . Der bulgarische Handels­minister Walew hat den gewesenen Sektionschef des Handelsministeriums Nikolaj Popoff zum ständigen Delegierten des Sofioter staatlichen Exportinstituts für Prag ernannt, der nach dem 20. März sein Amt antreten wird.

Kriminalität und Kriminal Interessantes aus der Krlmlnalstatlstlk

Die kürzlich veröffentlichte Krimmalstatistik für das Jahr 1934 beinhaltet eine Reihe interessanter Daten, doppelt interessant, wenn man dis Bergleichs­zahlen früherer Statistiken heranzieht. Von der Tätigkeit des Justizapparates legt die Zahl der in jenem Jahr verhandelten Prozesse Zeugnis ab. Bei den Bezirksgerichten waren 640.608 Fälle anhängig, bei den Kreisgerichten 104.846 Fälle. Auch das fünfte Krisenjahr 1934 zeigt kein abnormales Anstei­gen der Kriminalität, sondern die ständige mäßige Zunahme, die etwa dem normalen Bevölkerungszu­wachs entspricht. Bemerkenswert ist dagegen das stark« Sinken der jugendlichen Kriminalität, die durch Schaffung besonderer Jugendgerichte besser zu verfolgen ist als bisher. Gegeniwer 25.089 Jugendgerichtsprozessen im Jahre 1932 verzeichnet das Jahr 1984 nur 20.078 und die Zahl der neu angefallenen Prozesse sinkt von 21.587 auf 17.097. Di« Ursache dieser Erscheinung liegt darin, daß die zahlenmäßig schwachen Geburtsjahrgänge derKriegszeitin jene Kategorie der Vierzehn­bis Achtzehnjährigen aufrücken, die den Jugend­gerichten unterstehen. Der Tiefstand dieser Entwick­lung ist erst, im Jahre 1935 erreicht worden, dessen Ziffern noch.nicht vorliegen,- wonach freilich«in star­kes Emporschnellen dieser Ziffer zu gewärtigen ist. Die Statistik gibt auch Aufschluß über die be­deutungsvolle sozial« Funktion der Jugendgericht«, bei denen neben Ankläger und Verteidiger als weitere Instanz der Sozialbeamte hinzutritt. Von den 9061 abgeurteilten Jugendlichen sind 2615, die zwar schul­dig erkannt wurden, bei denen jedoch das Jugend­gericht von der Verhängung einer Strafe absah. 1095 Jugendliche wurden unter soziale Schutzaufsicht ge­stellt, 83 in Familien-Fürsorgeerziehung und 66 in Erziehungsanstalten überwiesen.' Eine Abnahme weisen im Jahre 1934 sonst nur noch die Presseprozesse auf, von denen nur 566 verhandelt wurden, also um 212 weniger als im vorhergehenden Jahre 1933. Ein weitere? interessantes Kapitel der Krimi­nalstatistik betrifft die, Organisierung des Strafvollzuges. In den acht Straf- und Besserungsanstalten unseres Staates sind im Durchschnitt ständig etwa 2500 Häftlinge verwahrt. Dazu kommen ständig etwa 2000 Untersuchungs- und Strashästlinge der KreiSgerichtsgefängniffe, abgesehen von den BezirkS­

gerichtSgefängniffen, bei denen wegen der ständigen Fluktuation und der kurzen Strafen ein Halbwegs verläßlicher Durchschnitt nicht zu errechnen ist. Die Ausgaben für die GerichtSgefängniffe be­laufen sich für das Jahr 1934 insgesamt auf 21,523.206, der Aufwand für die Straf- und Besserungsanstalten auf 15,972.708: In beiden Fällen wird der Großteil des finanziellen Bedarfs durch staatliche Zuwendungen gedeckt, die im ersten Fall 18,026.264 KC, im zweiten Fall 10,297.167 llö betragen. Bemerkenswert ist der radikale Abba« des Aufwandes für die Straf­anstalten seit 1931, der in den seither erschienenen Statistiken zum Aus­druck kommt. In jenem Jahr betrug der Gesamtauf­wand für sämtliche Strafanstalten noch 22,582.068 Millionen, also um 6.5 Millionen mehr als 1934. Gleichzeitig wurde der Staatszuschuß von 14.5 Millionen auf die erwähnten 10.25 Millionen redu­ziert. Aehnlich verhält es sich auch bei den Ge­richtsgefängnissen, bei denen der durch­schnittliche. Tagetzauftpand. eines Häftlings füt das Jahr 1931 mit Ai 9.85 bis 13.05 auSgewiesen Wurde(die" Höhe deS'BetrageS ist in den einzelnen Obergerichtssprengeln verschieden). Di« Statistik für das folgende Jahr 1932 weist überraschenderweise nur noch analoge Beträge von Ai 2.91 bis 3.71 aus, also etwa ein Drittel des Vorjahres. Die letzterschie- nene Statistik für 1934 läßt diese Post überhaupt ausfallen. Das Statistische Staatsamt sei bei dieser Ge­legenheit' auf eine schwer erklärliche Unstimmigkeit zwischen der Rekapitulation früherer JahreSfumuren und der seinerzeitigen Publikation aufmerksam ge» macht. In Nummer 158 des Jahrgangs XVI (1985) ist in der deutschen Ausgabe in Tab. 2 (Tätigkeit der Kreisgerichte") im Abschnitt B (Tätigkeit in Strafsachen gegen Jugendlich«") die rekapitulierteSumme für 1932" in Spalte 2 mit 4190 Straffällen auSgewiesen. Demgegenüber weist dieKriminalstatistik für das Jahr 1932", erschienen als Nummer 72 des Jahrgangs XV(1934) in der gleichen Spalte 9850 Slraffalle aus. Selbstverständlich weisen auch die weiteren Spalten 3(darunter neu angefallen") und 4(Erledigte Straffälle") analoge Unterschiede auf.- rb.

Der iunse Mann fdr alles Seit es den Juden in Deutschland verboten ist, Hausgehilfinnen zu halten, hat sich ein neuer Beruf entwickelt. Das Mädchen durch einen ge- schulten Diener zu ersetzen, ist ein kostspieliges, wenigen zugängliches Auskunftsmittel, so hilft man sich durch einenjungen Mann", der, meist aus einem anderen Berufe kommend, stellenlos, ohne Ahnung und oft auch ohne Eignung für die Erfordernisse des Haushalts, froh ist, Unter­schlupf' zu finden und die notwendigste Arbeit nut mehr gutem Willen als Geschick versieht. Kochen kann er selbstverständlich nicht.Mein junger Mqnn", hört man heute Hausfrauen sagen, wie sie früher vonmeinem Mädchen" sprachen. Denn das jüdische Mädchen ist rar und, ihres Selten­heitswertes bewußt, recht anspruchsvoll. Dann ist noch das Mädchen, die Aufwartefrau über 45 Jahre. Wenn man die Hausse in älterem Perso­nal sieht, ist man geneigt, in diesem Gesetz einen Trick von geradezujüdischer Schlauheit" zu sehen. Es geht konform mit jener Anordnung, nach welcher junge Männer ihren Arbeitsplatz Aelteren überlassen und selber ins Arbeitslager abwandern mußten. Was sollte man mit älteren Hausgehilfinnen beginnen? Die Hausfrauen engagierten sie nicht gern, für den Arbeitsdienst waren sie ungeeignet, zur Raffenaufzucht paßten

sie nicht mehr, als Arbeitslose fielen sie dem Staate zur Last. Run find sie untergebracht und haben sich nicht zu beklagen, selbstverständlich wer­den sie mit Sammethandschuhen angefatzt. So hat man zwei Fliegen mit einer Klappe geschla­gen, hat nicht nur Brot, sondern auch Zirkus­spiel geboten den Juden ist ein neuer Schlag versetzt und ein diffamierendes Mal mehr ausge­prägt. Die Volksgenossen können zufrieden sein. Sonderbarerweise sind sie es nicht, nicht einmal die auf diese Weise untergebrachten Mäd­chen. Es paßt ihnen nicht, so als ausrangiert ab­gestempelt zu sein. Mit 45 will man schließlich auch noch leben und womöglich lieben. Ein hüb­sches, viel jünger aussehendes Mädchen erklärte ihrem Freunde und Besuchern des Hauses, die über ihre Aufnahme daselbst staunten, mit einiger Verlegenheit:Man sieht es mir nicht an, doch ich bin Jüdin". Also noch lieber diese Schmach, als die der 45 Jahre! Hoffentlich ist der Freund zu­mindestMischling", sonst muß er ja durch diese Verleumdung ins Zuchthaus kommen. Die skurrile Pflanze des Dienstbotenverbo­tes treibt überhaupt die sonderbarsten Blüten, die tragik-komisch'sind, oft mit dem ausschließlichen Tone auf dem ersten Wort. Man muß dabei nicht einmal an so extreme Vorfälle denken, wie bei einem Mädchen, das, seit 18 Jahren in einer Fa­milie, sich dieser so verwachsen fühlte, daß sie am Tage vor dem erzwungenen Austritt aus dem Fenster sprang und tot liegen blieb. Es fehlten

ihr 14 Tage zur Erreichung des 35. Lebensjah­res, das berechtigt, einen zur Zeit der Verord­nung bereits innegehabten Posten zu behalten. Davon gibt es keine Dispens, uich wenn auch nur ein einziger Tag fehlt; Gesuche werden aus­nahmslos abschlägig beschicken, selbst wenn sie noch so berücksichtigenswert scheinen. Etwa im Falle einer blinden Frau und ihres gelähmten Mannes, die, Ihrer Hausgehilfin völlig ausgelie­fert» auf ihre Verläßlichkeit angewiesen sind. Man kann sich vorstellen, was es für die zwei hilflosen Menschen bedeutete, eine unerprobte Kraft ins Haus zu nehmen, die sie nicht anlernen konnten. Jedoch, dem sieben Jahre in der Stellung befind­lichen Mädchen fehlten einige Wochen zu ihrem 35. Geburtstag wie hätte sie da der Schän­dung durch den armen, lahmen Mann entgehen können? Oh, diese lüsternen Juden, die selbst mit 82 Jahren das Schänden noch nicht lassen kön­nen! Man könne ihm ein deutsches Mädchen nicht anvertrauen, antwortete man einem Manne, der mit dem Hinweis auf dieses Alter versuchte, seine Haushälterin zu behalten. Gewerbliches Personal ist frei. Aber einer Dame, die als Frau eines abgebauten und aus­gewanderten Beamten eine Fremdenpension er­richtet hat, wurde auf ihr Ansuchen um ein Mäd­chen geantwortet: wenn sie nur Wohngäste habe, dürfe sie ein Mädchen hallen, wenn sie ihnen jedoch auch irgendeine Mahlzeit verabreiche, dann nicht. Auf Befragen erklärte man, ein Tischgast

gehöre in den gemeinsamen Haushalt, ein Schlaf­gast bleibe fremd. Als ob öfter bei Tische geschän­det würde, als im Bettel Man bedenke, was es für solchen gewerb­lichen Haushalt, was es für berufstätige Frauen, ost mit kleinen Kindern, bedeutet, ohne Hilfe aus­zukommen! Mitunter ziehen mehrere Familien zusammen, um die Wirtschaft zu vereinfachen, oder man gibt die Wohnung auf und mietet ein möbliertes Zimmer. Dies tun ohnedies viel« mit Rücksicht auf die Unsicherheit ihrer Lage und dir tägliche Bereitschaft zur Ergreifung des Wander­stabs; man weiß doch nicht, was morgen kommt. Zum Schluffe ein mehr heiteres Vorkommnis: Eine Dame hat ein Mädchen seit 25 Jahren, das sie durch ihre erste Ehe begleitet, ihre Kinder großgezogen hat. Als alleinstehende Frau darf sie das Mädchen behalten. Nun hat sie sich nach län­gerer Witwenschaft entschlossen, ein zweitesmal zu heiraten. Sie behält die Wohnung, der Haushalt geht unverändert weiter, es kommt nur eben ein Mann herein. Das Mädchen, das in einigen Mo­naten das kanonische Alter von 45 erreicht, dürfte ja eigentllch bleiben, weil sie bis zum Stichtag nur 35 Jahre alt zu sein brauchte. Ein diesbe­zügliches Gesuch wird aber trptzdem abgelehnt, weil eS sich, wie man erllärt, um einen neuen Haushalt handelt, da der unter ihrem alten Na­men bestehend« aufgelöst wird. Hoffen wir, daß die Frau der treuen Dienerin zuliebe die Heirat um einige Monate verschiebt.