Sozialdemokrat

ZENTRALORGAN

DER DEUTSCHEN SOZIALDEMOKRATISCHEN ARBEITERPARTEI IN DER TSCHECHOSLOWAKISCHEN REPUBLIK

ERSCHEINT MIT AUSNAHME DES MONTAG TAGLICH FRUH. REDAKTION   UND VERWALTUNG PRAG   XII., FOCHOYA 62. TELEFON 53077. HERAUSGEBER: SIEGFRIED TAUB  . VERANTWORTLICHER REDAKTEUR: DR. EMIL STRAUSS, PRAG  .

16. Jahrgang

Sonntag, 15. März 1936

Einzelpreis 70 Heller

( einschließlich 5 Helier Porto)

Nr. 64

Deutschland vor den Rat gerufen Im Londoner   Nebel

jede mi

Vorladung für Montag/ Deutsche Gegenbedingungen?

London  . Die außenpolitische Tagung des Bölkerbundrates trat Samstag um 11 Uhr im St. James- Palais zusammen. An die übliche Vorbereitung zur Genehmigung der Tagès­ordnung schloß sich unter dem Vorsitz des austra lischen Oberkommissars in London  , Bruce, die öffentliche Sigung an, in der die Erklärungen Edens, Flandins und des belgischen Minister­präsidenten van Zeelands entgegengenommen wurden. An einem Ende des Tisches des Rates konnte man einen leeren Stuhl erblicken, der für Deutschland   reserviert ist.

Daß die Beratungen über die Zerreißung des Locarnopattes, die Entsendung der Reichs­ wehr   an die französisch- belgische Grenze, die fen wurde, auf Grund des Artikels 17 des Völ- Drohungen gegen das russisch- französische Bünd forbundvertrages die Einladung anfannöb nis und die damit verbundenen ,, Angebote" nach London   verlegt worden sind, hat die Rolle Eng­terbundvertrages die Einladung an Deutschland   zu wiederholen, an lands als Schiedsrichter in dem Konflikt auch nach den Sibungen des Völkerbundrates teilzunehmen. außen hin betont. Als Garant des Locarnopattes und als die europäische   Großmacht, die von Hits Die Deutschland   sofort übersandte Einladung lers Vorstog vorläufig am wenigsten bedroht ist, fautet: Unter Bezugnahme auf das Telegramm, hat England die Aufgabe, das entscheidende Wort das ich der deutschen   Regierung am 8. März über die Maßnahmen zu sprechen, die als Ant­treten und hat nicht einmal eine ordentliche Dis- sandte, lädt der Völkerbundsrat die deutsche Re- wort auf Hitlers   Provokation zu treffen sind. kussion über diese Frage in einer Sizung der gierung als Vertragspartner des Locarnovertras Daß es die englische   Regierung mit dieser Ante Locarno- Mächte angestrebt. Sie hat der Ungül- ges ein, an der Prüfung der Frage der Mittei- Daß es die englische   Regierung mit dieser Ant­tigkeitserklärung des Vertrages den Vorrang gelung von den Regierungen Frankreichs   und Bel  - der Situation, Daß sie es mit ihrer Antwort aber Bel- wort nicht leicht hat, ergibt sich aus dem Ernſt giens durch den Rat teilzunehmen. Der Rat wird auch, wie schon der bisherige Verlauf der Be­im St. James- Palast am 16. März zuſammen- ratungen erkennen läßt, nicht eilig hat, ist eine treten. Gez. Avenol."

Der Ratspräsident Bruce erklärte die Ver-| deutsche Regierung diesem Vorschlag nicht beige­fammlung für eröffnet, teilte den Gegenstand der Tagesordnung mit und sodann ergriff Außenminister Eden

das Wort. In seiner Rede sagte Eden u. a.:

Wir sind der Ansicht, daß eine offensichtliche und nicht leugbare Verletzung der Bestimmungen des Versailler Vertrages über die entmilitari­fierte Zone sowie auch der Bestimmungen des Locarno Vertrages begangen worden ist. Wenn der Rat dieser Schlußfolgerung zustimmt, wird er zu der Situation Stellung nehmen und die Schwierigkeiten, die so entstanden sind, zu lösen versuchen müssen. Die Mächte, die gleichzeitig mit uns den Lovarno- Bertrag unterzeichnet haben, und die Kollegen im Völkerbund können sich auf die vollkommenste Mitarbeit der britischen Regie­rung bei allen Versuchen, den Frieden und die Verständigung unter den europäischen   Nationen auf festen und dauernden Grundlagen zu sichern, berlassen. Die Zukunft hängt von der Klugheit unserer Entscheidungen ab.

Nach Eden sprach der französische  Außenminister Flandin  

15

Flandin

Annahme mit Bedingungen?

Berlin  . Die Einladung des Völkerbund­rates wird von den zuständigen deutschen   Stellen eingehend geprüft. Eine amtliche Mitteilung in dieser Angelegenheit wird jedoch erst für Scnn tag erwartet. In politischen Kreisen glaubt man, daß die Einladung angenommen werden wird, allerdings nur unter gewissen Bedingungen.

Reuter berichtet darüber: Der Beschluß, Deutschland   einzuladen, hat eine etwas delikate Situation geschaffen. Es ist nicht ausgeschlossen, dazz Deutschland   zögern wird, diese Einladung anzunehmen, mit der Begründung, daß es durch die Annahme anerkennen würde, daß der Ver: trag, den es in Wirklichkeit gekündigt hat, auch weiterhin in Gültigkeit ist. Es ist möglich, daß Deutschland   einwilligen wird, bloß einen Beob­

achter zu entfenden.

Folge der verschiedenen Auffassungen, die in der englischen öffentlichen Meinung und innerhalb des englischen Kabinetts miteinander ringen. Die satirische französische   Voraussage, daß die Bera­tungen im ,, Rondoner Nebel" stattfinden werden, dürfte sich bestätigen, auch wenn dieser Nebel schon heute nicht mehr so dicht ist wie am ersten Tage, aber es muß immer wieder darauf hinge­wiesen werden, daß gerade die französische   Politi! nicht unschuldig an der Entstehung dieses Nebels ist. Hätte der Völkerbund bei Mussolinis Angriff auf Abessinien seine Funktion nach Englands wunsch erfüllt, dann wäre die Entscheidung für die englische   Regierung und die englische Deffent­lichkeit weniger schwer. Aber da der Völkerbund infolge der Verzögerungs- und Ablenkungstaltik der französischen   Regierung gegen den Angreifer Mussolini   auf halbem Wege stehen blieb, ergab fich für England die Frage, ob man jetzt gegen def ausführte: Die deutschen   Truppen im Rhein­Yand wurden anfänglich nicht als symbolische den Vertragsverleber Hitler   mit voller Wucht Abteilungen bezeichnet, sondern es wurde von geben, von welchem Hitler mehreremal erklärte, In Frankreich   wird die Einladung Deutsch   vorgehen sollte, weil die französische   Regierung es it arfen Abteilungen gesprochen, die die Zahl daß er ihn als freiwillig vereinbart ansehe. lands zwar nicht mit Begeisterung, aber auch nicht wünschte. Es tonnte niemanden, der die englische von 30.000 regulären Soldaten überschritten. Gestatten Sie mir zu wiederholen, daß die frans mit Proteft aufgenommen. Die französische   po- Presse der letzten Monate verfolgt hat, sonderlich Die französische   Regierung habe bei der gegen zösische Regierung nicht protestieren wird, falls litische Deffentlichkeit von der Rechten bis zur überraschen, daß sie den Hilferuf Frankreichs   fühl wärtigen Lage eher ihrer Pflicht als dem Vollzug der Haager Gerichtshof entscheidet, daß der Ver­aufgenommen und festgestellt hat, daß Frankreich  , des Rechtes entsprochen. Wenn es sich bloß um trag vom 2. Mai 1935 mit dem Locarno- Ver­welches eben noch einem angegriffenen Völker­die Rechtsfrage handelte, würde der Text des trage unvereinbar ist. Es handelt sich jedoch nicht bundsmitglied seinen Schuß verweigern wollte, Locarno  - Vertrages der französischen   Regierung bloß um die Ablehnung dieses Vertrages, son­vorläufig selbst noch nicht angegriffen ist. Es war die Berechtigung gewähren, mit größter Beschleudern auch um die Verlegung der Artikel 43 des das Geschickteste, was Sarraut und Flandin nigung harte und entschiedene Maßnahmen zu Friedensvertrages von Versailles  , von der Artikel unter diesen Umständen tun konnten, daß sie den Sitzung der Locarno  - Signatare ergreifen. Da jedoch Frankreich   auf eigene Faust 44 statuiert, daß es sich um eine feindliche Tat belgischen Ministerpräsidenten zum Worts London  . Die Beratung der Locarnomächte führer der bedrohten Mächte machten; denn gegen in die europäische Lage nicht ein Element der handelt. Unruhe hineintragen wollte, hat es sich freiwillig Es handelt sich darum, zu wissen, ob das begann Samstag um 17 Uhr und endete fünf Belgien   fann von englischer Seite nicht der Vor­zurüdgehalten. Um seinen Schritt zu rechtfer- fait accompli und die einseitige Aufhebung freis Minuten vor 18 Uhr. Nach dieser Beratung wurf erhoben werden, die Grundsäße des Völker­tigen, beruft sich Deutschland   auf die Ratifizie- willig und feierlich abgeschlossener Vereinbarun- wurde folgendes Kommuniqué ausgegeben: Der bundes so umgangen zu haben wie die französische  rung des französisch- sowjetrussischen Vertrages. gen in Europa   als politisches System geduldet Delegierten- Ausschuß der Signatarstaaten des Regierung unter Laval  , und auch der alte eng­Dieser Vertrag war Gegenstand eines Notenaus- werden soll, ob man Verträge beliebig wann im- Locarnovertrages hielt heute nachmittags im lische Vorwurf, daß Frankreich   durch seine Nach­tausches zwischen der französischen   und deutschen   mer wird ändern können und ob irgendeine Re- Foreign Office eine Sigung ab. Nach einem friegspolitik gegen Deutschland   selbst an der Hit­Regierung sowie zwischen den Regierungen der gierung in Ausübung ihrer Macht heute das wird neuerlichen Meinungsaustausch wurde beschlos- lertatastrophe mitschuldig sei, trifft auf Belgien  Garantenstaaten des Locarno  - Vertrages. In die aufheben können, was sie gestern unterzeichnet sen, die nächste Beratung sofort abzuhalten, so nicht zu. So unwahrscheinlich es ist, daß Eng­fen Noten wurden die Rechtseinwände der deut- hat. Ich bitte den Rat, führte Flandin   am bald der Völkerbundrat über die ihm von der land sich zu den von Frankreich   geforderten Sank­schen Regierung voll widerlegt. Troß meiner Schlusse aus, zur Kenntnis zu nehmen, daß französischen und der belgischen Regierung vor- tionen bereit erklären wird, so sicher ist es, daß eigenen Erklärung, daß wir den Schiedsspruch des Deutschland   den Artikel 43 des Versailler Fries gelegten Fragen eine Entscheidung getroffen es der Verurteilung der Rheinlandräumung als Haager Gerichtshofes annehmen werden, ist die densvertrages verletzt hat, und ersuche den Gene- haben wird. flagranter Vertragsverlegung und Bedrohung ralsekretär, davon die Signaturmächte des Lo­des Friedens zustimmen und daß es keinen Zwei­fel darüber lassen wird, im Falle eines deutschen  carnobertrages gemäß Artikel 4 des Locarnovers Angriffs auf Frankreich   oder Belgien   zur Hilfe trages in Kenntnis zu setzen. gegen den Angreifer bereit zu sein.

Hitler   lehnt Zurückziehung von Truppen ab

München  . Auf einer Kundgebung wie­derholte Samstag abends Hitler   die bekannten Argumente, die ihn zur Besetzung der entmili­tarisierten Rheinlandzone bewogen haben. In der Besprechung der gegenwärtigen Lage, sagte er u. a., daß die Geste, die von ihm verlangt wird, das deutsche   Volk selbst am 29. März da­durch tun werde, daß es seine Politik billige.

Nach Flandin   sprach der belgische Minister­präsident

Van Zeeland Er erflärte, er wolle sich nur auf einige Seiten dieses schrecklichen Problems, soweit es sein Vater­land angehe, beschränken. Die Entmilitarisie rung des Rheinlandes, erklärte er, ist eine der Säulen unserer Sicherheit, denn wir haben mit Deutschland   die größte gemeinsame und am meis ten erponierte Grenze. Darüber hinaus ist der Locarnovertrag die alleinige Grundlage unseres internationalen Statutes. Belgien   hat niemals einen Anlaß gegeben, daß der Locarnobertrag berletzt werde. Niemand kann den Umstand Der diplomatische Korrespondent des Daily widerlegen, daß die Situation, die sich entwicke Telegraph" schreibt: Der Stand der militäri- bat, ein ernster Schlag für die ganze schen oder halvmilitärischen deren Formatio- elt und möglicherweise auch für die kommende nen, die sich nunmehr im Rheinland   befinden, Generation ist. Sicherlich werden Sie sich nicht beläuft sich auf 248.000 Mann. Davon sind wundern, wenn ich Ihnen sage, daß unser Land 30.000 Mann regelrechtes Militär, Militärpoli- mit dem Gefühl tiefer Bitterfeit gezwungen ist, sei 30.000 Mann; diese wird in die Armee ein­an den Völkerbund zu appellieren. gegliedert werden, der Arbeitsdienst, der eine

00

militärische Ausbildung genießt, zählt 30.000, Deutschland   vorgeladen

die halbmilitärischen Sturmabteilungen 150.000 Mann und die Formationen der österreichischen  Legion 8000 bis 10.000 Mann. Diesen Ziffern, Rat auf Montag 15. Uhr 30. Nach der öffent so sagt das Blatt, sind noch die motorisierten lichen Sibung fand eine vertrauliche Sit Einheiten zuzuzählen. gung des Rates fiatt, bei der im Prinzip beschlos

Linten ist sich dessen sicher, daß in rechtlicher und moralischer Hinsicht der Standpunkt Frankreichs  ein gerechter und starter ist und daß es in der Festigkeit dieses Standpunktes nichts ändere, ob Deutschland   an dem Ratstische sitzt oder nicht.

Nach der Rede van Zeelands vertagte sich der

Van Zeeland

Who

Wer die Stimmung, die sich der englischen Oeffentlichkeit bei Ausbruch des italienisch- abeffi­nischen Konfliktes bemächtigte, in Erinnerung hat, wird wissen, daß es auch diesmal England vor allem um d'en Bestand des Wölfer= bundes geht, der für die englische Außen­politik und für das politische Denken des eng­lischen Volkes weit schwerer wiegt als der Locarno- Balt. Mit einem Garantiepakt zwischen England, Frankreich   und Belgien   ist das Völker­bundproblem nicht gelöst, wie gerade wir in der Tschechoslowakei   erkennen müssen( denn es ist mehr als wahrscheinlich, daß sich ein Angriff des Dritten Reiches   nicht, auf den französischen  Festungsgürtel, sondern auf weniger befestigte Grenzen in Mittel und Osteuropa richten würde.) Die Lösung des Völferbundproblems er fordert aber auch eine Liquidierung des italie­nisch abessinischen Krieges und eine Einigung über die Grundlagen, auf denen der Völkerbund nach dem Austritt Japans   und Deutschlands   und seiner Torpedierung durch Mussolini   stabilisiert werden soll. In dieser Kardinalfrage der eng lischen Außenpolitik gehen die Meinungen in England auseinander. Die relativ Klarste These ( die auch von der Labour- Party überiviegend ges billigt wird) vertritt Anthony Eden  . Sie