Nr. 108 Freitag, 8. Mai 1936 Seife 5 Die Religion der Menschenliebe Zum fünfundslebzigsten Geburtstag Rabindranath Tagores am 7. Mai In den beiden großen Gestalten, die daS heutige| Mysterienspiel vom Sterben eines armen Kindes und Indien vor der Welt repräsentieren, Mahatma G ha n d i und RabindranathTagore, stehen einander zwei grundverschiedene philosophischpolitische Gedankenreiche gegenüber. Dem veredelten, von allen imperialistischen Tendenzen freien Ratio» nalismus Ghandis, der die Erhaltung der nationalen Eigenart als Voraussetzung der nationalen Freiheit und den Abbruch aller Beziehungen zum Abendland fordert, stellt Tagore das Ideal eines Ueber- nationalen Weltgeistes entgegen, der aus den Quellen aller Völker schöpft und sie zu einer kosmopolitischen Gemeinschaft zusammenschweißt. Gandhi und Tagore sind denselben Lebensweg gegangen: sie stammen beide auS begüterten indischen Familien, sie haben beide in London di« Rechtswissenschaften von der Ueberwindung der harten Wirklichkeit durch die erlösende Menschenliebe; es ist am ehesten mit „Hanneles Himmelfahrt " zu vergleichen, es schlägt denselben Märchenton des Kindertraums an, in dem Gerhart Hauptmann sprach, als er noch ein Dichter der Menschlichkeit war. DaS erzählende Werk Tagores umfaßt den No« vellenbgnd„Nacht der Erfüllung", das breite, gesellschaftsschildernde Epos„Der Schiffbruch", den in der Form, durch die dreifache Beleuchtung der Ereignifse aus dem Blickwinkel dreier Figuren reizvollen pazifistischen Roman„D a s H e i m n n d die Welt" und eine Abrechnung mit MahatmaGhandi: „Gora". In„Heim'-und die Welt" wird«in Chauvinist als Betrüger entlarvt; in„Gora" entpuppt sich der Vorkämpfer eines indischen Nationalfanatismus als— Ire. Die nationalistische Theorie von den nicht abstreifbaren und nicht erwerbbaren, angeboren,„blutbedingten" Nationaleigenschaften ist ein plumper Schwindel; der Geist des Abendlandes ist nicht unbedingt, schlecht, die Tradition Indiens nicht unbedingt gut, und«in anfrichtiger, edler Mensch, der einem anderen Volk angehört,- sollte unserem Herzen näher stehen als ein Gauner, der Volksund Religionsgenosse ist. Seine Ansichten über di« nationale Frage hat Tagore in den Essays des Bundes„Nationa- l i s m u s" ausgesprochen. Die Nation ist für ihn nur eine„Organisation von Politik und Handel", die nicht so weit gehen darf, daß sie den Einzelmenschen mechanisiert und seines Persönlichkeit beraubt. Denn sobald es ihr gelungen ist, die Menschen zu einer willenlosen Masse zusammenzuschweißen, die nur dem Gesetz des nationalen Wirtschaftsapparates gehorcht, können Habgier und Eroberungslust der wenigen, die den Apparat lenken, die größte Kata strophe über die Menschheit heraufbeschwören. Volk und Nation sind verschiedene; Begriffs Polk ist etwas Bestehendes, natürlich Gewachsenes; Nation aber eine Zweckyerbindung, dierden Keim großer Gefahren in sich trägt. In„Sadhana" und dem abgeklärten, gütigen Buch seiner„L«bensweishei t">gab Tagore seinen politischen Anschauungen die philosophische ljntermauerung. Aste, Strömungen des Weltgeistes haben die Steinchen zusammengetragen,, aus denen Tagore das Gebäude seiner-Weltanschauung aufgebaut hat. Das System, zu.dem er die philosophischen Einflüsse aus aller Wert ordnete, will nicht mehr sein als Ergebnis persönlicher Erkenntnis. Der Dichter des Internationalismus, der die Grenzen zwischen den Völkern niederreißen will, ist zugleich ein I n d i v i d u ä l i st zinsten Wassers, für den jeder Einzelmensch eine eigene, wertvolle Welt bedeutet. Da Tagore von allen Dichtern des heutigen In dien am meisten europäischen Geist in sich ausgenommen hat, konnte er auch am stärksten auf Europa zurückwirken. Vor einigen Jahren ist er geradezu ein Mode-Autor gewesen. Aber die patriarchalische,’ erhabene Gestalt dieses indischen Weisen hat durch die überlauten Ehrungen, die ihr geschäftige und geschäftstüchtige europäische und amerikanische Literaten und Reporter zuteil werden ließen, nichts an ihrer Größe und Ehrwürdigkeit verloren. Heute, da er daS fünfundfiebzigste Lebensjahr erreichte, ist es still geworden um Rabindranath Tagore , denn die Welt scheint nicht den Weg zu gehen, den der indische Dichter ihr weist: den Weg zur Versöhnung der Völker und zum ewigen Frieden. Doch in Santiniketan, in der Abgeschiedenheit der indischen Berge, gilt ein anderes Maß der Zeit, und der Dichter erlebt mit der ungeheuren wirkenden Kraft seines Wunsches bereits als Gegenwart, was uns nur bang erträumte Zukunft sein mag: die übernationale Republik des Geistes, ein Reich, in dem die Menschenliebe das einzige Gesetz und die einzige Religion sein wird. FritzRosenfeld. studiert und sich nach der Rückkehr in die Heimat mit heißem Herzen"in den Kampf um die Befreiung Indiens gestürzt. Aber sie sind verschiedene Temperamente, und so wies den einen, Gandhi , der nüchterne, praktische Geist«ineS aktiven Realismus zur Tagespolitik, den andern aber, Tagore, führte die Beschäftigung mit den ewigen Fragen der Menschheit über den Alltag hinaus zu einer philosophischen Poesie, zu einem dichterischen Denkerwerk, das nicht nur der Gegenwart und nicht nur Indien , das der Menschheit gilt, Dedendranath Tagore, der Vater des Dichters, war der Begründer der Brahma Samadsch, einer religiöser^ Sekte, die zwischen dem Hinduismus und den Grundlehren des Christentums eine Brücke zu schlagen versucht und ihr ethischer Ziel in der Verbrüderung aller Menschen sieht, ganz gleich, welcher Ration oder Religion sie angehören. Au? dieser.Gei- fteSwelt des Vaters ist Tagores internationaler. Pazifismus und seine tiefe, eigentlich keiner Religion verhaftete Religiosität geboren worden. Auf langen Reisen durch Europa , Amerika , Japan , hat Tagore mit der Kultur und Zivilisation aller Völker engere Bekanntschaft geschloffen. Die RechtSwiffenschaften gab er bald auf, um sich der Dichtkunst widmen zu können, für die ihn vor allem die genaue Kenntnis der englischen Literatur begeisterte. Wenige Jahre nach der Heimkehr erscheint sein erster Gedichtband, „Abendlieder", dem bald darauf als Gegenstück die „Morgenlieder" folgen. AlS Lyriker hat Tagore begonnen, und «in Lyriker ist er in seinem ganzen Werk, auch dort, wo seine Dichtungen äußerlich die Form der Erzählung oder des DramaS annehmen. Um seine Gedichte Bildtelegramm von der Flucht des Negus Dieses Bildtelegramm aus Dschibuti zeigt das Boot, auf dem Haile Selassie mit seiner Familie den französischen Hafen verließ, um sich an Bord des englischen Kreuzers„Enterprise" zu begeben. voll ersaffen zu können, muß der europäische Leser sich in die Welt versetzen, aus der und für die sie geschaffen werden: Sie sind nicht geschriebenes Gedicht, sondern gesungenesLied. In der Musterschule, die Tagore in Santiniketan,. der alten Einsiedelei seiner Vaters, gegründet hat, fingen seine Schüler auf mondbestrahlten Bergwiesen die Verse ihres Meisters. In einem Rahmen, der selbst ein Gedicht ist, entfalten diese Lieder den vollen Zauber ihrer unirdischen Schönheit. Wir kennen Tagores Gedichte nicht in ihrer ursprünglichen Form, sondern nur in einer freien Uebersetzung, die auf eine in Prosa aufgelöste englische Faffung zurückgeht. Der kunstvolle Strophenbau und der reiche Reim des indischen Textes laffen sich in fremden Sprachen kaum wiedergeben; die Uebersetzung kapn uns nur den Inhalt vermitteln, und nur durch eine refrainartige Wiederholung einzelner Sätze den liedhaften Rabindranath Tagore zu einem berühmten Dichter gemacht und ihm im Jahre 1913 den Nobelpreis eingetragen haben. Si« werden gekrönt von dem Buch„Gitanjali ", in dem Tagore sein religionsphilosophisches Bekenntnis ablegt: Gott ist nur der Name für das Gefühl des Verbundenseins mit allem Lebendigen, für das Erlebnis der Einheit allen Seins. Tagores Theaterstücke verzichten auf jede äußere Bühnenspannung, auf jeden grellen dramatischen Effekt. Sie find Legenden, wie der„König der dunklen Kammer" oder Umdichtungen alter Sagen, wie „Chitra". Im„Opfer" hat Tagore «in pazifistisches Manifest dramatisch zu gestalten versucht. Sein schönstes Stück, das einzige, da« sich auf europäischen Theatern halten konnte, ist das„P o st a m t", dal Bankensturm gegen Volksfrontsieg Genau wie vor zehn Jahren Der groß» Sieg der Volksfront bei den Kammerwahlen in Frankreich , der die Sozialistische Partei mit 144 Abgeordneten zur stärksten Fraktion im Parlament gemacht hat, hat sofort die kapitalistischen Feinde des Volkes zu einem groß angelegten Angriff mobilisiert. Noch während sich die Volksmassen über den errungenen Sieg freuen und bevor sich die neugewählte Kammer konstituieren kann, hat unter der Führung der Großbanken der Sturm auf den Franken eingesetzt. der Goldstock der Bank von Frankreich unter 60 Milliarden Franken gefallen sei und daß die Berlustziffer innerhalb der letzten drei Tage 1500 Millionen Franken beträgt. An der Pariser Börse herrschte in den ersten Tagen nach dem Wahlsieg ein umfangreiches AngebotnamentlichinBankaktien und die Kurse erreichten einen Re- ko r d t i e f st a n d, Dagegen war ein Hamstern in auswärtigen Valutapapieren festzustellen, deren Kurse sich erhöhten. Dazu hat die Kapital- i flucht aus Frankreich in starkem Umfang eingesetzt. Kein Wunder, daß an den internaticmalen Devisenmärkten der Kurswert des Frank sinkt. In London hat der englische Ausgleichsfonds eingegriffen, um den Rückgang des Franken gegenüber dem Pfund Sterling aufzuhalten. Der Zweck dieses groß angelegten Ansturmes ist nicht schwer zu erraten: es soll unter der Bevölkerung, an der die Klein- rentner und Sparer einen starken Anteil haben, eine Panikstimmung erzeugt«erden. Ihre Rückwirkungen auf die Währung und die Wirtschaft hoffen die„nationalen" Kreise durch die Fortsetzung ihrer Manöver so zu steigern, daß aus den sich vermrhrendtn Währungs- und sinanziellen Schwierigkeiten des Landes nur die Bildung einer„nationalen Regierung", das heißt also einer Rechtsregierung, als einzig möglicher Ausweg erscheint. Damit wäre dann der auf dem demokratischen Boden errungene politische Sieg des Volkes unwirksam gemacht. Die Kapitalisten und ihr politischer Anhang könnten sich dann angesichts der gelungenen Sabotage die Hände reiben. Es ist nicht das erste Mal, daß man in Frankreich unter Führung der Banken versucht, eine demokratische Entscheidung im kapitalistischen Jntereffe zu korrigieren. Es sind genau zehn Jahre her, daß die Großbanken auf ähnliche Weise wie heute die seinerzeit nach dem Linkssieg im Mai 1924 eingesetzten Linksregierungen, die von den Sozialisten unterstützt wurden, torpedierten und im Sommer 1926 endlich erreichten, daß der Mann der im Wahlkampf geschlagenen Rechten, es war damals Poinrare, eine nationale Regierung bildete und die Lasten der Frankenstabiliste- rung der arbeitenden Bevölkerung auferlegte. Damit war das soziale Programm der Linken gefallen. Das ist das Ziel derfranzösi- schen Kapitalisten auch heute. Das Wahlprogramm der Volksfront enthielt keinerlei revolutionäre Forderungen. Es stellt nur eine Reihe von notwendigen wirtschaftlichen, sozialen, und politischen Reformen in den Vordergrund, von denen einige allerdings mit der heftigsten Feindschaft gerade vom Bankkapital bekämpft werden, weil ihre Durchführung sich da werden. Aus New Dork wird gemeldet, daß Balladen der„Fruchtlese", die Parabeln und Oden des Bandes„Zum anderen Ufer", die Hymnen der „Gabe des Liebenden" sind die Versammlungen, die Bereits am Tage nach den Stichwahlen hat die Bank von Frankreich durch.Goldkäufe und Rhythmus des Gedichtes andeuten. Wortmusik, Bilderrhythmus, zarteste Stimmungsmalerei und ein tiefes pantheistisches Naturgefühl sind die Wesenheiten der Lyrik Tagores. Sein schönstes Gedichtbuch ist der„G ä r t n e r". . wohl eines der zauberhafte-1 Goldverschiebungen ins Ausland 500 Millionen sten Gedichtbücher der Weltliteratur überhaupt.| g. ranIen@ oIb verloren und es ist damit zu rech- Seine Kindergedichte„Der zunehmende Mong", die nen, bflfe bie Goldabzüge noch weiter andauern »kl Ikvk« SCHUHAAACHf KLEISTER.EBHA'LTUCH I CONCAV GUMMIABSÄTZE... kann genisee^eUer imlKntaiat nur sdma festetellen. deshalb sieht a m allem auf du (jarantiezeiihen.fiersin',eudem die ganze TVell Vertrauen haL in erster Linie um eine.Aenderung des Statuts dey Basil von Frankreich , durch di«der Einfluß des Staates gestärkt werden soll, und um die Verstaatlichung der Versicherungsgesellschaften, die alle vertrustet sind und sich im Besitz der Banken befinden. Die noch im Amte befindliche Regierung hat die Möglichkeit, Maßnahknen zu ergreifen, mit denen sie der Kapitalflucht, den Panikmachern und dem Entstehen einer Währungsabwertungspsychose entgegenwirken kann. Die Diskonterhöhung um 1 Prozent wird allerdings kaum genügen. Es wird zu schärferen Mitteln, und zwar ohne Zögern, gegriffen werden müssen. Vor allem aber werden die französischen Wählcrmassen in wachsamer Bereitschaft stehen müssen, damit ihnen der Sieg nicht vernichtet werden kann, bevor er seine Früchte trägt. MjM III WM Die Banken In der Tschechoslowakei Das Statistische Staatsamt veröffentlichte vor kurzem die Daten über das Bankwesen in der Tschechoslowakei bis und mit 1934. Was sich aus den mitgeteilten Zahlen ergibt, sst erstens ein ausgeprägter Konzentrationsprozeß, dann aber auch ein näheres Bild darüber, wie sich die Weltwirtschaftskrise auf die Banken ausgewirkt hat. Die einzelnen Zahlen sind folgende: 2 A £ .' SS e» WnKSä.-x f|s§ 1925 190 2349.8 1348.4 18.9 1929\ 141 2322.5 2078.1 31.2 1930 128 2321.3 2226.1 35.5 1931 123 1915.7 1719.5 29.6 1932 120 1651.4 1661.3 27.6 1933 108 1612.7 1671.2 30.4 1934 105 1634.2 1717.2 33.7 Man sieht daraus, daß der Konzentrationsprozeß während der Krise unvermindert weiterging. Der Unt.erschied gegenüber der Konjunkturperiode liegt allerdings darin, daß er sich von 1930 in Form von Fusionen, nachher aber in Form von Zusammenbrüchen bei den kleineren Geldinstituten durchsetzte. Seit 1934-steigt wieder das Aktienkapital und gleichzeitig die Durchschnittsgröße der Anstalten, was ein Zeichen dafür ist, daß die Krise auf diesem Gebiete fast überwunden ist. Es ist allerdings nicht ersichtlich, was die 11.200 Angestell- t e n, die Ende 1934 in den Geldinstituten beschäftigt waren,- durch diese günstigere Entwicklung gewonnen hatten. Es sei noch nachgetragen, daß die fremden Gelder, die 1934 den Geldinstituten anvertraut waren, die Höhe von fast 30 Milliarden XL erreichten, also einen stattlichen Teil unseres Volksvermögens ausmachten. Verlust von Auslandsmärkten Es ist gelegentlich darauf aufmerksam gemacht worden, daß der schwere Rückschlag, den in den Krisenjahren die industrielle Ausfuhr aus der Tschechoslowakei erlitten hat, auch darauf zurückzuführen ist, daß andere Länder ihre Industrien ausbauen und zur Eigenproduktion jener Waren übergehen, mit denen sie früher die Tschechoslo wakei belieferte. Das trifft insbesondere für Textilerzeugnisse. aber auch für Ausfuhrartikel anderer Industriezweige, zu. Jetzt ist die gleiche Beobachtung an der Entwicklung der Ausfuhr der Pottasche-Industrie zu machen. Im Zusammenhang mit der Besserung des Glasexports hat sich auch der Jnlandsabsatz der Pottaschefabriken gebesserte Aber diese Verbesserung wird durch schwere Rückschläge im Export fast aufgehoben. Die tschechoslowakische Pottasche-Industrie hatte bis vor kurzem in den Vereinigten Staaten von Nord amerika ein wichtiges Absatzgebiet. Durch die Errichtung eigener Pottasche-Fabriken geht ihr dieser wichtige Exportmarkt fast vollständig verloren. Auch nach anderen Absatzgebieten stößt die Ausfuhr auf wachsende Schwierigkeiten. Da mit der Errichtung neue.r Pottasche-Industrien in anderen Staaten das Ausfuhrangebot überhaupt steigt, dürfte es der heimischen Industrie schwer werden, an Stelle der eingebüßtey Exportmärkte neue zu erschließen
Ausgabe
16 (8.5.1936) 108
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