«eite 2 Mittwoch, 10. Juni 1936 Nr. ISS Sanierung der Bruderladen dem Parlament vorseiest deutendem Format, einer der wenigen ernsten Rivalen von Chiang. AVer durch den Tod von Hu haben in Kanton offenbar militärische und draufgängerische Elemente die Oberhand gewonnen, die gegen die Regierung von Nanking und ihre Poli« tik deS Lavierens und„Finassierens" gegenüber Japan mit radikalen Mitteln vorgehen wollen. Der nüchterne Zauderer Chiang wird von den Kantonesen als Verräter an der natirnalen Sache bezeichnet, während vom Standpunkte Nankings die revolutionären Patrioten von Kanton schädliche Phantasten sind. In T o k i o haben aber inzwischen— das kann man heute bereits deutlich sehen— die Kwantungarmee und ihre Führer und Ideologen die Kommandohöhen besetzt. Das Kabinett Hirota stellt sich mehr und mehr als ein Kompromiß zwischen der Bürokratie deS"Gaimusho(Auswärtiges Amt ) und der Kwantungarmee dar, mit einem offenbaren Ueberwiegen der letzteren. Interessant in diesem Sinne sind die nach dem Putsch vom 26. Feber vorgenymmenen Per- sonalveränderungen, vor allem auf den höchsten Militärpoften. Auf den höchsten militärischen Posten Ja pans , die Stellvertretung des Generalstabschef, ist Generalleutnant N i s h i o, der frühere Stabschef der Kwantungarmee und der Hauptinspirator der gesamten nordchinesischen Politik Japans , berufen worden. Der Generalstabschef selbst, Prinz Kan-in, ist eine bloß dekorative Persönlichkeit. Generalleutnant ll m e t s u, der frühere Kommandierende der japanischen Garnison in Tiensin, ist als der Mitunterzeichner de» berüchtigten Ho-llmetsu-Abkommens von 1935 bekannt, das die nördlichen Provinzen Chinas unter ein tatsächliches Protektorat von Japan stellte. Umetsu ist jetzt, über den Kopf von vielen begabteren Offizieren hinweg, zum Vize-Kriegsminister aufgestiegen. Generalmajor I t a g a k i, der zu dem sogenannten militärischen Gehirntrust Nishio— Umetsu gehört, ist zum Stabschef der Kwantungarmee befördert worden. Der neu ernannte japanische Botschafter in China , Shigeru K a w a« gut, ist als Schützling der Kwantungarmee bekannt. Man könnte dies- Reihe fortsetzen. Bezeichnend ist, daß«in so erfahrener Diplomat wie Shigemitsu vom Posten des Vizeministers des Auswärtigen zurücktreten mußte, weil er von der Kwantungarmee als„chinesenfreundlich" denunziert wurde. Der Kurs der neuen japanischen Politik istklaBabgezeichnet. Gegenüber der S o w j et u n i o n, die als starker Gegner erkannt ist, vorläufig Lavieren und Hinhalten. Ebensolche hinhaltende Außenpolitik gegeniiber London und Washington. Dagegen stetigesDurchdringenvonNord« ch i n a und der Inneren Mongolei, Ausbau der Htategischerr. und wirtschaftlichen' Positionen dort. Hand in Hand damit geht die Politik der Zersetzung Chinas , des Aufhetzens des Nordens gegen den Süden und umgekehrt. Man sucht unter dem Borwand der Bekämpfung der„roten Gefahr", die eigentlich nicht existiert, eine Entente mit Nanking herbeizuführen, aber man will in Tokio mit dieser Entente Nanking nicht stärken, sondern schwächen, indem man die Regierung Chiyng- kaishek gls die Verräterin der nationalen Interessen Chinas hinstellt. Bon der Außenpolitik der Draufgänger Araki-Mazaki, die heute gänzlich kaltgestellt find, unterscheidet sich die Taktik Hirota—Arita-,—Nishio durch«ine größere Konsequenz, durch geschmeidigere Formen und die Kunst des Lavierens. Diese Politik erscheint aber dadurch noch viel gefährlicher. Prag . In der Dienstag-Sitzung des Abgeordnetenhauses wurde von der Regierung der in seinen Grundzügen bereits bekannte S a n i e« rungSplanfür die Bruderladenversicherung vorgelegt, und zwar in der Form einer Novelle zum Bruderladengesetz vom Jahre 1922. Nach langwierigen Verhandlungen, die bis in das Jahr 1926 zurückreichen, ist es der Fachkommission unter dem Vorsitz Prof. Dr. Schoenbaums gelungen, einen SanierungS- plan aufzustellen, der dje Gebarung der Zentral- bruderlade ins Gleichgewicht bringt, die bisherigen Provisionen der Bergarbeiter und ihrer Familien in ungekürzter Höhe sichert und der auch an die versicherung-mathematische Deckung für die künftigen Provisionen denkt, deren Auszahlung in Anlehnung an die Zentralsozialversicherung gesichert erscheint. Das erhebliche jährliche Desizit der Bruderladenversicherung wird durch Beiträge deS Staates, der Unternehmer, der Bergarbeiter sowie durch eine eigene Sanierungsabgabe von Kohle gedeckt und damit der Versicherung wiederum eine feste Grundlage gegeben. Der Entwurf ist auf Ziffern aufgebaut, wie sie sich in den Zeiten der größten Krise ergaben, so• daß die begründete Hoffnung besteht, daß der Sanierungsplan auch Wirklich eingehalten werden kann, eben weil er auf soliden versicherungSmathemattschen und wirt, schaftlichen Voraussetzungen aufgebaut ist. Die Sanierung wird etappenweise erfolgen. Die erste Etappe erstreckt sich auf zehn Jahre. Die Bruderladenversicherung bewahrt dabei ihre Selbständigkeit und ihre beiden traditionellen Begünstigungen, d. i. die Jnvalidenprobiston bei Berufsunfähigkeit und die sogenannte absolute Witwenprovision. Aus der Novellierungsbrlanz geht hervor, daß die erforderliche Kapitalsdeckung für die Ansprüche der Versicherten 8088 Millionen beträgt; hievon fehlen 208s Millionen, welche durch die oben erwähnten In den Verhandlungen des sozialpolittschen Ausschusses kam es am Dienstag zu einem eklatanten Bruch der Koalttionsdisziplin durch den tschechischen Agrarier Dubicky, der jedoch noch am selten Tage nach internen Koalitionsverhandlungen, in die auch der Ministerpräsident Dr. Hodja tatkräftig«ingriff, durch eine sehr de- «nd wehmütige Erklärung des Herrn Dubicky wieder gutgeinacht wurde. Bekanntlich vertreten die sozialistischen Parteien seit langem die Forderung nach Erlassung eines Gesetzes über die obligatorische Arbeitsvermittlung, die angesichts des immer stärker werdenden Untetnehmcrter- xürs für die Arbeiterschaft eine unbedingte Notwendigfeit ist. Namentlich unsere deutschen Arbeiter wissen, wie oft die Drohung mit dem Verlust des Arbeitsplatzes von den Unternehmern dazu mibraucht wird?um die Arbeiter in die Reihen der SdP zu pressen. Begreiflicherweise geht der SdP das geplante Arbeitsvermittlungsgesetz arg wider den Strich und so versuchte die S^P im sozialpolittschen Ausschuß, durch vorzeittge Aufrollung dieser noch nicht ganz bereinigten Frage die bestehenden Differenzen innerhalb der Sanierungsbeiträge allmählich abgetragen werden sollen. 1034 Millionen hievon sollen im ersten Jahrzehnt gedeckt werden, der Rest von 1020 Millionen später auf eine noch näher zu bestimmende Weis«. Würden die erwähnten Sanierungsbeittäge unverändert weiter eingehoben, so würde die Sanierung nach insgesamt 28 Jahren beendet sein. Die Deckung der Leistungen wird auf folgende Weise erfolgen: 1. durch die Prämien, die 66 K8 pro Monat betragen und von Arbeitgebern sowie Arbeitnehmern je zur Hälfte getragen werden; 2. durch einen vorübergehenden Zuschlag von 21 Kronen monatlich, den die Unternehmer zu wagen haben und der die Prämien auf die bisherige Höhe Von KL 87 ergänzt; 3. durch einen Sanierungsbeitrag der Unternehmer in der Höhe von 2.8 Prozent der tatsächlich auAbezahlten Löhne; 4. durch einen Sanierungsbeiwag der Arbeitnehmer in der Höh« von einem Prozent des mittleren Lohne -; 5. durch die Sanierungsabgabe auf Kohle im Betrage von 18 Hellern pro Zentner Braunkohle, von 28 Hellern pro Zentner Steinkohle und von. 80 Hellern pro Zentner Koks. 6. durch einen Staatsbeitrag in der jährlichen Höhe von 90 Millionen, wovon zunächst der neu eingeführte Staatsbeitrag zu den Provisionen zu decken ist. Außerdem übernimmt der Stqat die von ihm garantierten Schulden der Zenwalbru- derlade und erläßt ihr die bisher gewährten Vorschüsse. Der Entwurf soll bereits mit 1. Juli dieses Jahres in Kraft weten. Nach der Plenarsitzung des Hauses wies der sozialpolittsche Ausschuß die Vorlage einem Subkomitee zu, dem von unserer Fraktion Genosse Taub angehört. Zum Berichterstatter wurde der tschechische Genosse B r o j i k gewählt. Koalition möglichst zu vergrößern und die Ge* setzwerdung der Vorlage wenn nicht zu verhindern, so doch erneut hinauszuschieben. So stellte denn Herr K st o r r e von der SdP den Anwag, der Fürsorgeminister Jng. NeLaS solle vom Ausschuß aufgefordert werden, demnächst im Ausschuß zu erscheinen und einen Bericht über die geplante Regelung der Arbeitsvermittlung zu erstatten. Offenkundig war-vieser Antrag von der Sorge um die deutschen Unternehmer diktiert, denen doch nach den Jntenttonen der SdP auch stveiterhin die Möglichkeit eines verschärften Gesinnungsterrors gegenüber ihren Arbeitern erhalten bleiben muß. Bei Anträgen auf Erscheinen von Ministern in einem Ausschuß oder im Plenum entscheidet natürlich der Wille der Koalitionsparteien, die bisher in solchen Fällen immer einheitlich vorgegangen sind. Anders heute: Herr Dubicky, einer der sweitbarsten unter den tschechischen Agrariern, schloß sich dem Antrag der SdP auf j Zitierung des Ministers vor den Ausschuß an und natürlich wär auch gleich die tschechische Ge« wettbepartei mit von der Partie, so daß sich plötzlich in einer Kampfabstimmnng eine zusammengewürfelte Mehrheit, bestehend aus tschechischen Agrariern und Gewerbepartei- lern, der Nationalen Bereinigung und der SdP für den Antrag Knarre ergab, der gegen die Stimmen der sozialistischen Parteien und der Tschechischllerikalen denn auch angenommen wurde. Damit war fakttsch wenigstens im Ausschuß eine neue reaktionäre Bürgcrblockmehrheit geschaffen, von der nicht nur die Henleins, sondern eben auch gxwisse Kreise um den Herrn Dubicky lebhaft träumen. Diesen gewissen Agrariern ist eine obligatorische Arbeitsvermittlung ebenso ein Dorn im Auge wie den Henleinleuten, weil auch sie jetzt grüne Gewerkschaftsorganisationen aufziehen, in die sie hie tschechischen Arbeiter nach dem Muster der Henleinfabrikanten hineinpreffen möchten. So fanden sich Herr Dubicky, der Schutzherr der tschechischen Minderheiten, und die SdP auf einer gemeinsamen Linie. Welche Perspektiven mögen sich da den Henleinleuten für die gemeinsame Zusammenarbeit in naher Zukunft eröffnet haben... Leider dauerte die ganze Herrlichkeit nicht lange. Die niedergestimmtrn Koalitionsparteien machten diesen eklatanten Bruch der Koalitionsdisziplin sofort in der Koalition anhängig, und dank dem energischen Eingreifen d«S Ministerpräsidenten Dr. H o d i a wurde denn auch der Konflikt im Lerlauf weniger Stunden liquidiert. Rach dem Plenum wurde eine zweite Sitzung des Ausschusses einberufen, in welcher Herr Dubicky die Erklärung abgeben mußte, er habe gar nicht richtig hingrhorcht, wie der Antragsteller Knorre seine« Anwag mit parteipolitischen Motiven begründew. Da sein Verhalten als illoyal ausgelegt werde, obschon er doch „b o n a f i d t“ gehandelt habe, habe er keine Ursache, auf diesem Anwag zu behaoren, und ersuche, daß der Ausschuß seinen vormittägigen Beschluß reassumiere. Im gewähnlichen Leben pflegt man einen solche» Rückzug als offene Blamage zu bezeichnen. Hoffentlich hört Herr Dubicky eia nächstesmal besser zu, falls es ihn wieder gelüsten sollte, mit der SdP gegen die anderen Koalitionsparteien z« stimmen! Der eigenttiche Leidwagende ist dabei aber die SdP, der nun schon zum soundsovieltenmal seit der Präsidentenwahl die Felle wiederum im letzte« Augenblick vor der Rase davongeschwommen sind... Gegen die Bekämpfung der Konsumgenossenschaften. Die am 7. Juni in Prag stattgefundene Konferenz der Fachsektion der Genossenschafts-Ange stellten im Allgemeinen Angestellten-Verband Reichenberg nahm v. a. Stellung zum Gesctzantrag des Abz. Michalek (tschech. Gewerbepartei), daß die Regierung die Errichtung neuer Konsumgenossenschaften in Gemeinden unter 2000 Einwohnern verbieten und die Auflösung der dort bestehenden anordnen möge. Die Konferenz protestterte gegen diese Angriffe auf die Selbsthilfe-Organisationen der Verbraucher. Die Genossenschaften geben Tausenden von Angestellten und Arbeitern Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten. Durch die verlangten Maßnahmen würden diese Arbeitnehmer um ihren Arbeitsplatz gebracht werden. Die Zahl der arbeitslosen Han- drlSangestellten würde infolgedessen dadurch eine bedeutende Vermehrung erfahren. Die parlamentarische Interessenvertretung der freigewerkschaftlich organisierten Handels- und Genossenschaftsangestellten wird aufgefordert, die Gesetzwerdung dieses Änwages zu verhindern.'• Einheitsfront Dubicky-SdP im Keim erstickt Rückzug Dublckys von der Koalition erzwungen 8 Wir suchen ein Land Roman einer Emigration Von Robert Grötzsch Die Stunden verarmen. Der Mond schwamm an einem wolkenlosen Himmel und die Nacht protzte mit Silber. Ignaz wies durch die Scheiben. Ein dunkler, gezackter Buckel wölbte sich weit draußen unter den Sternen. Dahinter lag Deutschland . Der Weg lief um den Buckel herum, durch dichten Nadelwald. Ignaz tippte dem Mann am Steuer auf die Schulter, der Wagen hielt. Der Hagere stieg mit dem Beutel hinaus und sagte zu Herkner:„Blech nur sitzen, du rennst gegen die Bäume"— und verschwand in den Tannen. Nach einigen Minuten tauchte er aus den Zweigen wieder auf. In einem Erdloch tief im Walde lag der Beutel, Erde und Reisig drüber. Herkner wußte: noch in dieser Nacht würde die Munition abgeholt, noch in dieser Nacht ging sie auf Schmugglerpfaden über die Grenze— ein paar Packen kleiner Zettel. Nichts forderten sie als Freiheit und Menschlichkeit. Dieser Zettel wegen war ein Heer bezahlter Spitzel und Häscher auf den Beinen. Für diese Zettel wagten tausende ihr Leben. Dieser Zettel wegen schliefen ein paar Diktatoren schlecht. Der Wagen surrte weiter, längs der Grenze hin, die kaum einen Kilometer seitlich durch den Wald schnitt.„In einer Stunde find wir dort", sagte der Mann am Steuer. Herkners Augen leuchteten durch die Dunkelheit. Würde sie schon angekommen sein? Würde Anna gut über die Grenze gefunden haben? Bon den Kindern würde er hören, von Freunden, von seinem alten Vater. Einen Tag und eine Nacht würden sie beijammen sein. War es der Motor oder jein Herz, das so hämmerte?— Jetzt noch eine Kurve, dann steuerte der Wagen in den langen Grenzflecken ein. Seine Straßen verschwisterten sich mit denen des deutschen Ortes. Die Grenze schnitt mitten durch Grundstücke. Anna war noch nicht da. Der Kamerad, bei dem Herkner schon dreimal Quartier gefunden» lächelte und meinte:„Am letztenmal kam sie ja auch erst Sonntags, nich?" „Jawohl, natürlich", nickte Herkner und zwang sich zu einem Lächeln. Wenzel und Ignaz blieben im Gasthofe. Der Sonntag kam mit verschwenderischer Pracht. Hier oben schimmerten die Obstbäume noch im zergehenden Weiß. Blauer wolkenloser Himmel brachte das Blütenmeer noch einmal zum Klingen. Ausflügler pilgerten von der deut schen Seite her ins Böhmische und stürzten in den Restaurants auf die Zeitungen. Herkner wanderte durch die Straßen, zwischen blühenden Gärten dahin. Er kannte jeden Zug, mit dem sie drüben einfahren konnte. Im Bahnhofsgarten saß Ignaz mit einem Einheimischen auf Vorposten. Herkner wollte lesen, aber die Zeilen liefen ihm davon. Er zog das Tuch aus der Tasche, das Tüchelchen von der slowakischen Händlerin: seidig, bunt geblumt, mit roten Fransen... Wieder ging er den schmalen Weg zwischen Gärten, der gerade über die Grenz- stratze hinweg führt. Dort pattoullierte ein SA- Mann. Bon dort kam Anna am letztenmal, eine samtne, dunkle Kappe auf dem Haar... Ab und zu schlenderten Frauen, sonntäglich geputzt, die Straße herauf. Ach und welch wiegende Musik in all den Frauen heute! Machte das der Mai, machte es das Warten und die Sehnsucht?... Da, die im hellen Kostüm, kam sie dort nicht?! Mit aufgehelltem Gesicht schrttt er ihr entgegen, aber ball gefror seine Miene... es war wieder eine andere. Dreimal passierte ihm das... Daheim hatte er einen Hund ge- kamtt, einen gutmütigen, brettjchnäuzigen Boxer; wie ost wartete der auf sein„Frauchen", spähte starr die Straße entlang, ging freudig wedelnd jedem Rock entgegen und zog sich verlegen und enttäuscht zurück, wenn's die Falsche war. Wie ost hatte Herkner darüber lachen müssen. Die Sonne glühte schon hoch in der Mitte des wollenlosen Himmels, der Nachmittag verklang — Anna blieb aus. Es drängte ihn, ihren Namen herauSzuschreien, dort, auf der Straße, zwischen deren Bäumen er sie am letztenmale in die Arme genommen hatte. War sie etwa verhaftet worden? WaS sie krank? vielleicht handelte es sich nur um eine Verspätung... Nach vier Uhr schlenderte Ignaz den Grenzweg entlang. Melancholisch baumeste der Stroh- hut auf dem hageren Schädel. Jetzt kam eine Weile kein Zug... Der Hagere hüstelte, mochte den anderen nicht recht anschaun. Man hatte dä- heim Weib und Kind, konnte jederzeit zu ihnen — derweil verreckten diese verjagten Kameraden vor Sehnsucht... Reich kam er sich vor, ungebührlich reich und glücklich. Sie setzten sich in die Ecke eines Biergartens. An den Nachbartischen hingen Männern die Gesichter über mächttge Biergläser.„Vielleicht wart' se wo, bis de Grenze reene is", tröstete Ignaz. „Weeßte, wer ooch her kimmt? Justus, der Schriftsteller... Er kennt dich, sagt'r"... Aber Herkner ist wie taub, nickt nur, die Worte deS anderen verwehen vor den Ohren. Justus kommt, neben Herkner ein großer Kerl, die Schultern etwas hochgezogen, ein spärlicher Kranz grauer Haare läuft um den Wirbel. Er wobnt ein Stündchen weiter landeinwärts; heute hat chn ein Freund von drüben besucht, nun ging der im Trubel heimkehrender Ausflügler schon wieder mit hinüber. JustuS schüttelt Heck» nerS Hand. Sie kennen sich von drüben, der Redakteur mußte in HerknerS Bezirk so manche-mal als Redner einspringen. Auch in der Emigration haben sich ihre Wege einige Male gekreuzt. Justus läßt seine jauchenden Augen durch die Brille funkeln und senkt seine Hakennase auf die Hand des aufgestemmten Armes. Er kennt die Situation. Jetzt nicht erst lange Beileidskundgebungen stammeln,.herkner, ich wünschte, ich könnte wie du auf eine Frau warten, die sich nach mir verzehrt"... Herkner wacht auf, reißt sich zusammen. „Richtig, Justus, richttg"... Er trinkt sein Bier mit einem Ruck aus. Kellnerin, noch eins... Und etwas von der Wonne des quälenden Sehnens, vom Glanz der leidenden Liebe überkomm!: ihn, hwt seinen Kopf. JustuS, der hatte ja nicht einmal das. Die Erste war ihm durchgebrannt, die Zweite, mit der er so glücklich lebte, starb ihm unter den Händen. Armer Kerl, der JustuS. Aber er, Herkner, er wird die Anna Wiedersehen, vielleicht kommt sie heute noch, vielleicht schreibt sie und kommt nächsten Sonntag. Krankheit oder sowas. Wie war's denn im Kriege! Einmal gab'S fünf Monate keinen Urlaub... und jeden Tag konnte man wt sein... Sie sprechen von drüben, von den tapferen Kameraden, die abends im Walde herüberwechseln und nachts mit illegaler Literatur wieder hinüber geben; sie sprechen von, denen in Gefängnissen und Konzentrationslagern; von JustuS' Quar- tier, dahinten im Walle.„Vielleicht sind meine Tage hier gezählt", sagte JustuS.„Man stellt mir nach. Verdächtige Individuen im Abenddunkel. Alles, seitdem ich den Spitzel an der Grenze mit gefaßt habe." Jawohl, Herkner und Ignaz hatten davon gehört.„Mensch, mach dich in de Spinne..."» riet Ignaz und schob den Strohhut ins Genick. Der Biergarten lag an einem Hange. Man blickte auf die Häuschen des Grenzfleckens hinab. Bis hinunter ins Deutsche sah es aus wie eine einzige Stadt mtt Kirchen, Fabrikschllten, leicht begrünten Hängen. Dieselben Menschen, die« selbe Sprache, diesellen Lieder, dieselben Spiele der Kinder. ^Fortsetzung folgt.)
Ausgabe
16 (10.6.1936) 135
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