Samstag, 20. Juni 1936 16. Jahrgang Nr. 144 Einzelpreis 70 Heller (einschließlich 5 Heller Porto) IENTRALORGAN DER DEUTSCHEM SOZIALDEMOKRATISCHEN ARBEITERPARTEI IN DER TSCHECHOSLOWAKISCHEN REPUBLIK ERSCHEINT MIT AUSNAHME DES MONTAG TÄGLICH FRÜH. Redaktion und Verwaltung präg xii., fochova 62. Telefon«77. HERAUSGEBER: SIEGFRIED TAUB. VERANTWORTLICHER REDAKTEUR, DR. EMIL STRAUSS, PRAG . Paris Überläßt Genf die Entscheidung Paris . Freitag vormittags ist unter dem Vorsitz des Präsidenten der Republik der Mini- strrrat neuerlich zusammengetreten und befaßte sich hauptsächlich mit der Außenpolitik. Das amtliche Kommunique über die Mi­nisterratssitzung besagt: Die französische Regie­rung, treu der kollektiven Tätigkeit, schließt sich allen Entscheidungen an, die vom Völkerbund an­genommen werden. Die Regierung, welche über den gegemvärtigen Stand der Sanktionsfragen informiert wurde, teilt mit, daß sie der Auf­hebung der Sanktionen bei­pflichte. Die Regierung hat die Mittel zur Verstärkung derkollektiven Sicherheit geprüft und beschlossen, daß sie tatkräftig in ihrer Geltendmachung forfah- ren wird. Dienstag wird die Regierung in der Kam­mer und im Senat eine Erklärung über die außenpolitische Situation abgeben und wird min­destens in der Kammer zur Verhandlung der In­terpellationen über die Außenpolitik schreiten.. internationaler Gewerkschaftskongreß Vom 8. bis 11. Juli 1838 findet in Lon­ don der siebente" Kongreß des Jnternqttonalen Ge- werkschaftsbundes statt. Die Eröffnungsansprache hält der Vorsitzende W. M. Citrine. Den Tätig­keitsbericht erstattet Walter Schevenels, über den Kampf gegen die Krise und die Wahrungsstabili- sierung spricht Corneille Mertens, über die Aktion gegen den Krieg, für die Abrüstung und gegen den Faschismus berichtet Leon Jouhanx, über die Gewerkschastsfreiheit, die Rolle und Rechte der Gewerkschaften in der Planwirtschaft Rudolf Tayerle . Vorher, am 7. Juli, findet die Internatio­nale A r b ei t e,r i. n n en- Konferenz statt, bei welcher Referentinnen find: die franzö- iische Vertreterin Jeanne Chevenard und die Tschechoslowakin V. Novotnä. Nach dem Kongreß, am 11. und 12. Juli, findet eine internationale Arbeiterbil- dungskonferenz statt, in der der Unter­sekretär des Bundes Georg Stolz berichten wird. Man wird auch ühxr die Einrichtung emes Film­austausches, über Rundfunk und Arbeiterbil­dungsschulen sprechen. Kabinett Pehrsson ernannt Stockholm . Die neue Regierung ist ge­bildet und vom König bestätigt worden. Kurz darauf trat die Regierung zu ihrer ersten Sitzung zusammen. Von den elf Mitgliedern der Regie­rung sind nur fünf Mitglieder des Reichstages und des Banrrnbnndes, die übrigen gehören Be­amten- und Fachkreisen an. Ministerpräsident P e h r s f o n hat sich auch das Agrarministerium vorbehalten. Die weiteren Mitglieder der Regie­rung sind: Außeres: Professor Westm an(Reichs- tagsmitglied), Justiz: Bürgermeister B e r g q i st, Verteidigung: Janne Nilffon(Reichstags- abgeordneter), Finanzen: Schatzmeister Vilmar Ljungdahl, Soziale Frage:«Gerhard Strindlund(Ab- geordneter), Verkehr: Gustav Haiding(Abgeordneter),! Kultus: Bischof Tor Audrae, Handel: Geschäftsführer Elof Eriksson , Minister ohne Portefeuille: Sture Center ­wall, Tage Gynnerstedt und Nils Quensel. Die neue Regierung ist die erste Regierung des Bauernbundes. Mit Ausnahme von Professor Westman bekleidete keines der Regierungsmitglie­der früher einen Ministerposten. Kaunas unter Kriessrecht Kaunas . Der Kaunaser Kriegskommandant hat Freitag rnorgens durch Anschlag bekannt ge­geben, daß über die Stadt Kaunas der. Aus­nahmezustand verhängt wird. Obwohl die für. den Proteststreik vorgesehe­nen 24 Stunden vorüber sind, würde die Arbeit doch nur in einzelnen Betrieben wieder ausge-. nömmen. Es verlautet, daß die Arbeit« r der mei­sten Privatbetriebe" den Streik bis Montag fort­setzen wollen. Pas Finanzprogramm ' Keine Devalvation des Kabinetts Blum Strengste Maßnahmen gegen Kapitalsflucht/ Reform der Nationalbank P a r i s. Finanzminister Binrent A u r i o l erstattete Freitag nachmittags in der Kammer ein ausführliches Expose über die Finanzlage Frankreichs und die Finanzpolitik der neuen Re­gierung. Die Regierungsmehrheit nahm das Expose des Finanzministcrs mit wiederholten Zustimmungskundgebungen und Beifall an. Die Rechte protestierte anfangs mäßig, später durch Zurufe, so daß es zu zahlreichen Auftritten zwischen der Regierungskoalition und der Opposition kam. Nach seiner Rede unterbreitete der Finanzminister der Kammer vier Ge­setzentwürfe, die er in feinem Expose erwähnt hatte. In seinem Expose erklärte der Minister u. a., das Hauptbestreben der Regierungen in der letzten Legislaturperiode sei gewesen, m. jeden Preis-das Budgetgleichgewicht herzustellen, da die Regierungen der Meinung tvaren, daß haupt­sächlich davon die Besserung des Wirtschaftslebens abhänge. Die Regierungen erzielten jedoch kei­neswegs die erhofften Ergebnisse. Tas erstrebte Budgetgleichgewichr wurde niemals erreicht. Dgs Budgetdefizit betrug im Jahre 1934 8.8 Mil­liarden, im Jahre 1935 10 Milliarden, im Jahre 1936 bis zum 1. Juni 6 bis 7 Milliarden. 'Die Emission an Staatskaffenanweisungen er­reichte im Jahre 1936 die Höhe von 22,780 Mil­liarden. Von den im Umlauf befindlichen 21,940 Milliarden Franken in Kassenanweisungen wurden von der Bank in Frankreich 14 Milliarden eskomp- tiert, das heißt, sagte der Finanzminister offen, daß die Bank von Frankreich dem Staat einen Vor­schuß in der Höhe von 14 Milliarden Franken ge­währt hat.., ,. Die ständige Schuld wurde zwar durch Konver­sionen um 44 Milliarden Franken gesenkt, doch wuchs im Jahre 1932 die Amortisationsschuld um 75 Milliarden, und die kurzfristige Verschuldung um 16 Milliarden an. Diese letzte Schuld ist besonders beunruhigend, da sie die Höhe von 32,5 Milliarden Franken erreicht hat. Der Finanzminister erklärte das Anwachsen der öffentlichen Schuld vor allem durch die kritische Wirtschaftslage, unterzog jedoch auch die Finanz- und Wirtschaftspolitik der voran­gegangenen Regierungen einer strengen Kritik. Den Deflationsbestrebungen der vorangegangenen Re­gierungen sei kein Erfolg beschieden ge­wesen. Der Finanzminister erwiderte sodann den An­hängern der"Jrankendevalvation, leh nt e ihre Argumente entschieden ab und erklärte, er beharre auf dem Standpunkte, welchen die Regierung in ihrer Regierungserklärung verkün­det habe und welcher auch dem Willen des Landes entspricht. Es bleibe daher nur eine einzige Politik übrig: Ein Appell an die Nation, daß sie sich selbst rette, und daß sie ihr Ver­mögen rette. Das sei eine Sache, die durchaus möglich ist. 1 Der Minister schätzt das Kapital, welches die französischen Staatsbürger seit dem ersten Jänner 1935 in das Ausland ausgeführt haben, auf 26 Milliarden Franken. Die Goldvorräte im Privat­ besitz übersteigen 6 Milliarden Goldfranken. Die Höhe der thesaurierten Banknoten beträgt etwa 30 Milliarden, so daß die Gesamtsumme des Kapi­tals, welches der ftanzösischen Volkswirtschaft und dem Unternehmertum fehlt, nunmehr etwa 60 Mil­liarden Franken erreicht. Der Minister erklärte,., die Regierung drnjenige« Amnestie gewähren wolle, die nicht­angemeldetes Kapital im Ausland besitzen, falls sie bis zum 15. Juli beeidete Anmeldungen riureichen. Sollten nach dieser Frist Fälle aufgedeckt werden, m denen dir Behörden hintergangen wurden, so würde dies sehr streng bestraft werden, und zwar unter Umständen mit der vollständigen Konfiskation des Kapitals und dem Verluste der bürgerlichen Rechte. Zur besseren Organisierung des Kredits wird" der-Finanzminister der Kammer einen Entwurf be-" treffend die Reform der Statuten der Bank von Frankreich vorlegen. I Es handelt sich darum, daß in die Leitung der Bank von Frankreich ein neuer Geist Einzug Halts, der den tatsächlichen wirtschaftlichen Interessen des Landes entspricht. In dem neuen Verwaltungs­rat werden alle aktiven Komponenten des Wirt­schaftslebens und der arbeitenden Bevölkerung ver­treten sein. Der Finanzminister kündigte schließlich an, daß die Regierung umfangreiche Steuerreformen einführen, mehr Gerechtigkeit, in das Steuersystem . chineintragen,.Unterschleife unterdrücken und die Steuern überall dort erleichtern wird, wo ein tat­sächlicher und lebhafter Wirtschaftsbetrieb besteht» 40-Stundenwoche auch vom Senat genehmigt Paris . Der Senat hat in seiner Nacht­sitzung den Gesetzentwurf betreffend die 40stün- dige Arbeitswoche mit 182 gegen 84 Stimmen angenommen. Im Laufe der Aussprache ergriff auch Ministerpräsident Blum das Wort, der auf eine Anfrage über die Streiksituation m Frank­ reich antwortete: Wir hoffen, daß wir dieses Gesetz in einer Atmosphäre der Ordnung und Eintracht durch- führen werden. Die sozialen Konflikte, mit wel­chen wir vor zwei Wochen zu tun batten und dir sehr ernst waren, haben sich bereits in ihrem Charakter geändert und ihre Schärfe verloren. Wir treten in eine Zeit der Beruhigung. Das Land beginnt wieder feine normale Phy­siognomie anzunehmen." Paris . Wenn auch der Streik in Frankreich sehr stark nachgelassen hat, beträgt die Zahl der Streikenden nach einer amtlichen Statistik immer noch eine Viertelmillion. Am Freitag haben die Maler und Anstreicher die Arbeit angetreten. Auch der Streik in den Petroleumraffinerien, den Filmateliers und anderwärts wurde liquidiert. "Bost den großen Kaufhäusern haben die etwa 6000 Angestellten des" WarenhausesLouvre" die Arbeit angetreten. In den übrigen Kaufhäusern wird die. Regierung, falls keine. direkte Einigung zwischen der Direktion und den Angestellten zu­stande kommt, ein Arbitrageabkommen durchfüh­ren. Arbeiterpartei im Angriff Mißtrauensvotum/ Großer Propagandafeldzug London . Die Arbeiterpartei hat im Un­terhaus folgenden Mißtrauensantrag gegen das Kabinett Baldwin eingebracht: .Die Regierung hat mit ihrem Mangel an Entschlossenheit und Offenheit im Hinblicke auf die auswärtige Politik das Ansehen Großbritan­ niens untergraben, den Völkerbund geschwächt, den Frieden gefährdet und dadurch das Vertrauen des Unterhauses erschüttert." Neber den Antrag wird am nächsten Diens­tag die Debatte eröffnet werden. Der Führer der Labourparly Major Attlee wird ihn be­gründen. Die Arbeiterpartei wird am Wochen­ende eine» große« Propagandafeld­zug in den Provinzen durchführen, um den Sank­tionsbeschluß der Regierung mit allen Mitteln zu bekämpfen. Die Parlamentsfraktion der Partei beschloß den Text eines Manifestes, worin das Vorgehen der Regierung bei der Aufhebung der Santtionen verurteilt und die öffentliche Mei­nung aufgefordrrt wird, ihre Friedensliebe und ihre Treue zum Prinzip der kollektiven Sicherheit und des Friedens kundzugrbrn, die unr durch den Völkerbund erhalten bleiben könne. Das Mani­fest ist betitelt:Großer Berr al". Die Regierungspolitik wird als verderblich bezeichnet, da sie die britische Verantwortung für die Auf­rechterhaltung des Friedens nut auf gewisse Ge­biete beschränken will. Auch der oppositionelle liberale Klub beschloß, dem Präsidium des Unterhauses einen Resoluttonsantrag vorzulrgen, worin er sich gegen den Regierungsbeschluß auf Aufhebung der Sank­tionen ausspricht. Englands Rückzug Der Beschluß der englischen Regierung, mit der Aufhebung der Sankttonen einverstanden zu sein, wenn der Völkerbund sie wünscht, ein Beschluß, der in Wirklichkeit der Anregung zur Aufhebung der Sanktionen gleichkommt, wird von der mussolinifreundlichen Presse in aller Welt als eine Erleichterung und Entspannung der in­ternationalen Situation gepriesen. Wer aber die politische Lage nicht unter dem Gesichtswinkel des italienischen Faschismus betrachtet, wird anderer Meinung sein. Der Rückzug Englands von der Sanktionspolitik bedeutet nämlich den beginnen­den Rückzug Englands vom Völkerbund, bedeu­tet den Sieg des von Chamberlain und Hoare ge­führten imperialistischen Flügels der englischen Regierung über den Außenminister Eden, der von seiner großen Konzeption, die Interessen des eng­lischen Weltreichs mit dem Interesse an der Stär­kund des Völkerbundes zu verbinden, Abschied ge­nommen hat. Eden hat nie einen Zweifel darüber ' gelassen, daß er den abessinischen Fall als die letzte große Prüfung des Völkerbundes angesehen hat und daß nach dem Scheitern des Völkerbun­des die Rückkehr Englands zur selbständigen Wahrnehmung seiner eigenen Interessen erfolgen werde. Daß Eden dem Vorstoß Neville Chamber­lains, der in seiner berühmtenPrivatrede" die Fortsetzung der Sankttonen alsHöhepunkt des Wahnsinns" bezeichnete, keinen Widerstand mehr entgegengesetzt hat, beweist, daß er, der noch am 20. April dieses Jahres in Genf die Fortsetzung und Verschärfung der Sanktionen gefordert hat, jetzt selbst nicht mehr an den Erfolg der einst von ihm empfohlenen und geführten Völkerbunds­aktion glaubt. Der Verlauf der Völkerbundskampagne gegen den italienischen Einfall in Abessinien war eine Kette-von Halbheiten und Uneinigkeiten. Daß an den Halbheiten die englische Regierung selbst miffchuldig war, kann die Opposition im englischen Parlament mit gühem Grund behaupten, zumal da die noch unvergessene Affäre des Hoare-Laval- Plans ja deutlich genug gezeigt hat, daß von An­fang an die Gruppe Hoare-Chamberlain die Völ­kerbundspolitik nur mit halbem Herzen mitge­macht hat und die erste Gelegenheit benützen wollte, um auf Kosten des angegriffenen Landes ein imperialistisches Geschäft zu machen. Damals freilich erhob" sich in den Reihen der englischen Konservativen selbst ein Sturm der Entrüstung, der Hoare zum Rücktritt zwang, während sich Anfang dieser Woche bei der Beratung der-kon­servativen Parlamentsfraktion über die Rede Chamberlains herausstellte, daß sich in den Rei­hen der Regierungspartei leine Stimme mehr gegen die Aufhebung der Sanktionen erhob. Die Hoffnung Edens, daß nach den franzö­ sischen Wahlen eine Linksregierung, die keine Sympathien für Italien hat, im Amt sein würde, ist zwar erfüllt. Dafür ist aber eine Schwenkung der Sowjetunion erfolgt, die seit einiger Zeit unter Hinweis auf die dringendere deutsche Ge­fahr ein Abgehen von der anti-italienischen Völ­kerbundspolitik fordert. Unter diesen Umständen hat Eden vor dem Angriff der Chamberlain- Äruppe kapitulieren müssen, zumal da ihn Bald­wins These, daß England für einen Krieg noch nicht genug gerüstet sei, die Möglichkeit nahm, noch einen neuen Vorstoß gegen Italien etwa die Sperrung des Suezkanals zu unternehmen. Daß Eden aus dieser Sachlage nicht die Konsequenzen gezogen und seinen Rücktritt ge­meldet hat, hat anscheinend vorwiegend innerpo­litische Gründe. Baldwin selbst hat Eden dazu bewogen, im Kabinett zu bleiben, weil Baldwin die Popularität des Außenministers kennt, weil der Austritt Edens aus der Regierung den linken Flügel der konservativen Partei alarmiert und wahrscheinlich zu einer Krise der Gesamtregie­rung geführt hätte und weil Baldwin, der große Zauderer und Fanatiker des Kompromisses, die Hilfe Edens benötigt, um den Chamberlain- Flügel zu mäßigen, der die- englisch -italienische Annäherung und die Stellungnahme gegen Deutschland für Baldwins Geschmack allzu unge­duldig" betreibt. Die englische Regierung, das ist der Sinn des Kompromisses zwischen Chamber- .lain und Eden, wird nichts anderes unterstützen als die Aufhebung der Sanktionen. Aber sie wird weiterhin die Anerkennung der italienischen An­nexion Abessiniens verweigern und eine Politik tteiben, die zur Schaffung eines unter englischer Führung stehenden Mittelmeerblocks führt, der