Nr. 146
Dienstag, 23. Juni 1936
Sette 8
WaS Adolf noch nicht hat. Ter Präsidentschaftswahlkampf in USA . wird mit den merkwürdigsten technischen Hilfsmitteln geführt. Der frühere Präsident Hoover unterstützt den Kandidaten der Republikarier Landon durch eine Redetournee. Hoover war eine Zeitlang sehr unpopulär, aber seit etwa einem Jahr erfreut er sich steigender Beliebtheit, und seine Kundgebungen, in denen er gegen Roosevelt wettert, sind überfüllt. In einer seiner letzten Rie- senversammlungen in Chicago hat man ein« neu« erfundene Maschine anfgestellt, die die Dauer und den Grad der Beifallskundgebungen für den Redner in Tiagrammform auf einem Blatt Papier registrierte. Nach der Kundgebung stellte man fest, daß der Begrüßungsbeifall, bevor Hoover zu sprechen begann, nicht weniger als 12l4 Minuten dauerte, der Schluhbeifall aber 18 Minuten. Die Beifallskundgebungen während seiner zweistündigen Rede nahmen eine Zeitspanne von 23 Minuten ein. Wie es heißt, beabsichtigen auch sämtliche anderen Redner des Wahlkampfes, während des Wahlkampfes diese Maschine zu gebrauchen und deren Aufzeichnungen zu veröffentlichen, um den Beweis zu erbringen, wie„populär" man sei. Ein sonderbarer Verein,(mh) Kürzlich hat in Amerika ein Verein sein LOjähriges Bestehen gefeiert, der sich S.P.C.S.P.G. nennt In ihrer vollen Läng« lund auf Deutsch ) bedeutet diese Abkürzung nicht weniger als„Gesellschaft zur Verhinderung, daß Schlafwagen-Kellner George genannt werden"! In den Vereinigten Staaten werden die Schlafwagen-Angestellten irgendeiner dunklen Tradition zufolge tatsächlich George gerufen, zur großen Pein derer die diesen Bornamen tragen. Als vor zwei Jahrzehnten Mr. George Dulanh aus Clinton einmal im Schlafwagen fuhr und durch das Rufen seines Vornamens ebenso heftig wie nutzlos aus dem Schlummer geschreckt wurde, sagte er zu seinem mitfahrenden Freund voll Verzweiflung, er werde einen Verein gründen, der mit der Unsitte aufräume, daß die Kellner mit seinem achtbaren Vornamen gerufen würden. Der Freund, ein Druckereibesitzer, leistete sich den Spaß, Mr. Dulanh kurz darauf ein Paket Mitgliedskarten des imaginären Vereins zu senden, Herr Dulanh nahm die Gelegenheit wahr, mit dem Erfolg, daß der Verein heute über 80.000 Mitglieder zählt— und daß die Schlafwagen-Angestellten in USA immer noch George gerufen werden!
WM odö WM Deutschlands Industrie unter Rohstoffmangel Wie sehr durch die verhängnisvolle Wirtschaftspolitik der Nationalsozialisten vor allem die LextjsMdustzi« in Deutschland geschädigt wird, das ist aus den Handelskammerberichten über die Lage in den einzelnen Branchen dieser Industrie zu ersehen. Wir zitieren nach der„Frankfurter Zeitung ": „Rach den Handelskammerberichten war di« Beschäftigung in der Textilindustrie im Mai, ähnlich wie in den Vormonaten, recht stetig unter Vorherrschen leichter Befserungstendenzen. Die Streichgarnindustrie bezeichnet sich als zufriedenstellend beschäftigt, wobei sich allerdings in der letzten Zeit die Schwierigkeiten der Materialbeschaffung erhöhten. Die teilweise als Ersatz herangezogenen Balkan -, Ziegen« und Zickelwollen könnten bei größeren Geschäften keine Verwendung finden. Auch in der Kammgarnindustrie wird die Beschäftigung als gleichbleibend, bzw. gut bezeichnet bei schwieriger Roh- stoffbeschaffung, worunter auch das Exportgeschäft litt. In der Zittauer Tuchweberei ar- beitendieBetriebeim allgemeinen wieder 88 Stund en und mehr. Teilweise bereitete die Beschaffung guten Rohmaterials Schwierigkeiten. Der weitere Anstieg der Rohwollpreise wirkt sich langsam in den Garnpreisen auS.— In der Baumwollindustrie scheint sich die Rohstoffversorgung allgemein auf normaler Höhe gehalten zu haben. Die Münchener Spinnerei arbeitete z. B. 41% Stunden.— In der Leinenindustrie haben sich gegenüber den Vormonaten keine wesentlichen Veränderungen ergeben. DieBersorgunginGar- nenwarnichtohneSchwierig« feiten. Der Auftragseingang in Bielefeld und Zittau ließ— z. Zt. aus Saisongründen— etwas nach. D i e Beimischung von Zellwolle(das ist Kunst wolle, d. Red.) ließ sich ziemlich reibungslos durchführen. Die niederrheinische Baumwollweberei klagt über Mangel an guten Garnen.— Auch die D t r i ck w a r e n i n d u st r i e in Würt temberg war weiterhin befriedigend beschäftigt. Die Hagener Bandindustrie stößt bei der, Einführung der Mischgewebe noch auf Schwierigkeiten. Di« S.ch w i e r i g k e i t e n im Ex- p o r t scheinen sich in allen Zweigen der Textilindustrie im letzten Monat etwas erhöht zu haben, z. T. scheint das mit dem Fortfall der Kompensationsgeschäfte zusammenzuhängen." Dieses authentische Bild von der Lage der deutschen Textilindustrie stimmt mit den optimistischen Schilderungen über die deutsche Wirtschaftslage, wie sie sonst üblich sind, gar nicht überein.
(B. G.) Unter diesem Titel berichtet der„Manchester Guardian": Drei politische Prozesse finden derzeit in Hamburg statt— einer gegen den früheren Führer der Hamburger Kommunisten A n d r e, einer gegen 270 Leute,«in dritter gegen 570. Andre wurde am 5. März 1833 verhaftet. Er wird der Mitschuld bei den Unruhen angeklagt, die in Altona am 17. Juli 1932 ausbrachen, also vor der Errichtung der Nazi-Diktatur. Daß er vor dem Richter größte Tapferkeit bewies, ergibt sich sogar aus den Prozeßberichtcn in der Razipresse. So sagt das„Hamburger Fremdenblatt" vom 4. Mai, daß er„einen Ton anschlug, der seiner Lage als Gefangener nicht entsprach". Die meisten der Angeklagten aus dem Prozeß der 270 wurden bei zwei Razzien verhaftet, die von besonderen Polizeiabteilungen, Braunhemden und Schwarzhemden, im November und Dezember 1934 in Elmshorn bei Hamburg durchgeführt wurden. Di« Gefangenen werden in 23 Gruppen vor Gericht gestellt. Eine Anzahl von Urteilen ist bereits gefällt worden— bis zu acht Jahren Kerker. Auch gegen die 570 wird in Gruppen verhandelt. Es sind meistens Arbeiter, die der Zugehörigkeit zur„illegalen" sozialdemokratischen oder kommunistischen Partei beschuldigt sind. Auch hier sind bereits zahlreich« Verurteilungen, bis zu acht Jahren schweren Kerkers, erfolgt. Der Terror ist besonders schwer in Hamburg , wo alle Gefängniffe überfüllt sind. Die offiziellen deutschen Erklärungen über deutsche politische Verbrechen sind irreführend. Am 8. Mai erklärte Dr. Frank, Minister ohne Portefeuille und Vorsitzender der Akademie für Deutsches Recht , daß nur mehr zwei Konzentrationslager in Deutschland bestünden und sich in ihnen nur 4000 Personen befänden. In Wahrheit gibt eS in Papenburg allein fünf Lager, die Dr. Frank vielleicht als
eines zählt. Folgende Lager bestehen gegenwärtig: Dachau , Lichtenburg, Fuhlsbüttel , Außenkommando Glasmoor(bei Hamburg ), Branden burg (daS Konzentrationslager in KiSlau im Rheinland ist eben aufgelöst worden, da eS sich im Gebiet befindet, daS befestigt wird). Ebensowenig trifft aber Dr. Franks Erklärung über die Zahl der Gefangenen zu. In Fuhlsbüttel (das sowohl Gefängnis als Konzentrationslager ist), befinden sich 5000 Gefangene. Die Gesamtzahl der Gefangenen in den deutschen Konzentrationslagern ist nicht bekannt, unoffizielle Schätzungen schwanken zwischen 20.000 und 50.000.
1400 200 800 100
800 500 1000 500 800 2000 5000 500 800
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Die Zahl der politischen und nicht-politi» schkN Gefangenen in den Gegenden von Hamburg ist beiläufig die folgende: Hamburger Gefängnis(Altbau) Spitalgebäude de- Altbaus., Neubau A Frauenhaus Hanöversand(für Jugendliche) HeinrichShof und Welterhof, Außenkommando Glasmoor. Lauevhof(bei Lübeck )., Wolfsbüttel(Zuchthaus).
a kpvm vuuuvi^uiyiiiuuv/••• Wolfsbüttel und Fechta (Gefängnis) Oslebshausen Fuhlsbüttel Neumünst Rendsburg
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Das Verhältnis zwischen der Zahl der politischen und der unpolitischen Gefangenen ist verschieden. Die ersteren stellen aber die große Mehrheit. In Fuhlsbüttel handelt es sich fast ausschließlich um politische Gefangene. Im ganzen Hamburger Distrikt beläuft sich die Zahl der politischen Gefangenen allein vermutlich auf rund 10.000.
England, Deutschland und die Kolonien. Wie der Berliner Mitarbeiter der,,News Chro- n i c l e" meldet, werde die Einberufung des Reichstages in den nächsten Tagen geplant. In der Sitzung des Reichstags werde Hitler in einer großen Rede die Zurückgabe von Kame run , des früheren deutschen Ostafrika und anderer Kolonien verlangen. In diesem Zusammenhänge gewinnen die Ausführungen des„Völk i- schen Beobachters" auS Anlaß der Jahresfrist deS Abschluffe» de« deutsch -englischen Marineabkommens ein große« Jntereffe. Der freiwillige Verzicht Deutschlands , meint Hitlers Osfi- ziosuS, auf den Wettbewerb mit England auf dem Günete"der Seerüstungen v e r st ä rt e mach mehr d(ie d e ut sch e P o s i ti o n in der Kolonialfrage. Deutschland habe bewiesen, daß die Kolonialfrage keine Machtfrage sei, sondern ausschließlich eine WirtschaftSfragc. Die internationale WährungSsituation mache die L ö, sung dieserFrage absolut dringend. Da» Schicksal der Sanktionen. Die italienische Presse nimmt die bevorstehende Aufhebung der Sanktionen al« eine Selbstverständlichkeit hin. Die„Tribun a" begrüßt den traditionellen gesunden Menschenverstand der Briten ", glaubt jedoch nicht an eine unmittelbar bevorstehende Entspannung. Zunächst müsse man den vollkommenen Zusammenbruch der Sanktiünsfront feststellen. Das Spiel mitDeutschland wird in Rom anscheinend fortgesetz. So meint der ofsizieöse„G i o r- n a l e d'J t a l i a", Italien habe seine Rechnung mit Abessinien abgeschloffen. Nun komme die Stunde, mit Europa die Abrechnung zu machen. Deutschland habe gegenüber Italien eine klare und freundliche Position eingenommen. Das deutsche Volk sei von dem Gefühle der historischen Gerechtigkeit und dem Verständnis für die geschichtlichen Realitäten durchdrungen, den beiden Grundprinzipien der Politik von Hitler . Sehr
bemerkenswert ist auch der Leitartikel der„G a- zetta del Popolo": Die Wiedergeburt der deutschen Macht habe Europa in seinen Grundfesten erschüttet. Alle französischen Allianzen haben auf einmal ihre Bedeutung verloren. Die Horizontale Pr a g—-B u k a r e st—M o s- k a u sei durch die Vertikale Mascha u— B u- da p e st—B elgrad durchschnitten. Die Wiedergeburt Deutschlands habe O e st e r r e i ch bewiesen, daß seine Unabhängigkeit bloß dann gesichert sein werde, wenn Oesterreich sich aus einer Hemmung der deutsch-italienischen'Entente in ein Bindeglied zwischen Rom und Berlin vevwandle. F alls D eutschland a u tz er« h«rl b de kstber b u n d b le ißt, w e tz d e Italien nichts andere» übrig bleiben al» Genf den Rük« kenzu kebren. Damit wäre dann das Schicksal des Völkerbundes entschieden. Zur Lösung der syrische» Frage. (AP.) Die syrische Frage ist nunmehr so gelöst worden, daß Syrien und Libanon zwei sechständige Staaten werden. Ob es bei dieser Zweiteilung bleiben wird, ist eine andere Frage. Zwischen den Vertretern dr» Libanon und Syriens war eiste Abmachung zustandegekommen, wonach der Patriarch der katholischen Maroniten in Libanon hie Forderungen der syrischen Naftonalisten zu unterstützen versprach, während die syrischen Nationalisten auf einen Anschluß des Libanon an Syrien verzichteten und den territorialen Bestand des Libanon anerkannten. Die syrischen Nationalisten rechnen damit, daß der Libanon ihnen an einigen Jahren ohnehin zufallen werde, da dies Gebiet von etwa 850.000 Einwohnern nicht selbständig bestehen kann und wirtschaftlich sowie geographisch eine Einheit mit dem übrigen Syrien bildet. Die Jugend ist daher auch, ohne Unterschied der Religion von dem Gedanken eines pansyrischen, arabischen Nationalismus erfüllt. Äußer der Jugend des Libanon hatten auch die Mohammedaner der Distrikte Tripolis , Sidon und Bekaa den Anschluß an Syrien gefordert. Lediglich die ältere Genera
tion der Maroniten trat für einen unabhängigen Libanon und für Beschränkung auf einen Freundschaftsvertvag mit Syrien ein. Die syri- rischen Rationalisten hatten oft geradezu Mühe, die Jugend in Libanon von Demonstratio- n e n gegen den Fortbestand der Autonomie des Libanon znrückzuhalten. Auf die Dauer wird sich der Gedanke der Einheit also nicht aufhalten lassen. Kompliziert wird die Situation noch durch das Vorhandensein von zwei separat verwalteten Gebieten, dem von den Drusen bewohnten Dschebel Drus und dem Ter- ritorium der Alauiten von Latekieh. Es ist also ganz unvermeidlich, daß die Neuregelung, die natürlich einen Fortschritt darstellt und die arabische UnabhängigkeitSbewegung automatisch weitertreiben wird, neue Fragen aufwirst, neu« Probleme stellt, die der Lösung harren.
klner, der nur In Silber zahlt Raffinierte Bauernfängerei Prag . Bor dem Strafsenat Ja»Lik wurde gestern«in Betrugsprozeß verhandelt, der seinesgleichen suchen dürst«. Angeklagt war da« 88- jährige Alois Brada, nach der Anllage Händler mit Edelmetallen, und Gegenstand des Verfahren» ist eine, dem Anschein nach sehr reelle geschäftliche Unternehmung. Brada suchte durch Inserat in der„Närodni Politika" ein Häuschen mit Garten in der weiteren Pra ger Umgebung, wobei er in dem Jnseratentext bemerkte, daß er„i»Silber zahlen" toolle. ES meldete sich ein Herr B l a ch aus Neuhütten bei Kriboklät und offerierte dem Angeklagten ein Häuschen nebst Garten, das diesem nach Besichtigung so gut gefiel, daß er dem Eigentümer den Vorschlag macht«, sofort abzuschliehen. Der Angeklagte Brada war auch mit dem Kaufpreis von 50.000 XL einverstanden. Dann aber rückte er mit seinen Bedingungen Heraus. Er zähle,wie bereit» imJnserat erwähnt, nur„in Silber", in Form von 2500 Zwanzigkronenstücken. Er werde ihm aber nicht diese 2500 XL Silbermünzen auszahlen, sondern, da er gerade größere Vorräte an Silber liegen habe. daSgletche Gewichtig reinem Silber. Und nun begann der tüchtige Edelmetalkhändler dem erstaunten Verkäufer schwarz auf weiß vorzurechnen: Ein Zwanzigkronenstück wiegt 12 Gramm——..Fünf Prozent geb' ich Ihnen aus Entgegenkommen noch drauf, für die Mühe“ Der Rechenkünstler kam zu dem Resultat, daß er für jene 2500 Zwanztgkrv- nenstücke ein Quantum von 81.5 Kg. reinen Silbers al» Kaufpreis zu liefern habe, Abgemacht? ' t Der Verläufer Blach Watz ziiinlW betäubt von -dem-Redestrom des- biederen Käufer», bedielt aber doch soweit klaren Kopf, daß er denBertrag noch nicht unterschrieb, sondern sich ein« kurz« Bedenkzeit aue- bedang. Dies« Bedenkzeit nützte er dazu aus, sich bei der Nationalbank zu erkundigen, wo man ihm nachrechnet«. daß er um ein Haar einer raffiyier- tenBauernfängerei ausgesesien wär«. Es handell sich um ein geschickte» Jonglieren de» Händler» mit den Begrfffen„Gewicht" und„Wert". Herr Mach erhielt jedenfalls zu seinem Erstaunen bei der Rationalbank den Bescheid, daß der Käufer bei einem Börsenpreis deS Silbers von 840 XL per Kilogramm nicht 32.5, sondern 147 Kg, hätte erlegen müssen, mit anderen Worten, daß der Verkäufer bei Abschluß dieses seinen Geschäfte« einen Verlust von rund 39.000 XL hätte buchen müssen! Da sonsttge Ausreden vor Gericht nicht verfangen hätten, führte der biedere, Edelmetallhändler ge-. stern an, daß das Häuschen bloß 12.000 XL wert sei und er daher den richtigen Gegenwert geleistet habe. Ein« ziemlich armselige Verteidigung, da der Angeklagte alle Verhandlungen ausdrücklich auf der Basis von 50.000 XL geführt hat und der Staatsanwalt daher mit guter Begründung da« Geschäft als betrügerische Machenschaft bezeichne» konnte. Zum Ueberfluß ist noch beim Bezirk«gericht Krivoklüt festgestellt worden, daß der Verkäufer Vlach da» Haus im Jahre 1913 für 7600 Goldkronen erstanden hat. was einem Gegenwert von 50.000 XL entspricht. Da der Verteidiger aber trotz allem di« Schätzung des Hauser durch«inen Sachverständigen verlangte, mußte die Verhandlung vertagt werden.
Das Grab Von Kurt Kersten Es ist ein länger Weg von der City bis in den höhe» Norden, in die äußersten Vorstädte Londons ,«in Weg durch verdroffene, ewig gleiche Stadtviertel, in denen die Arbeiter wohnen müssen. Niedrige Zicgelbauten mit flachen Dächern, rohe, unverputzte Fassaden, Baracke neben Baracke, düster und eintönig. Schmale Fronten. Ein Stockwerk, zwei, drei Fenster hat jede Fassade, immer sieht ein Haus dem andern Hau» zum Verwechseln ähnlich. Ein Meer von elenden Wohnstätten, ein bitterer Anblick, Und wenn man fast eine Stunde durch diese verfluchten Häuserdünen der Gleichheit fährt, kommt etwas wie Verzweiflung auf. Es wird unerträglich. Endlich kann man den Autobus verlassen. Dann muß man liirks gehen, muß sich immer link» halten, gleich wenn man die Untergrundbahn Highgate verläßt, aber das große Krankenhaus muß rechts liegen bleiben, es geht steil bergan, auf der Höhe breitet sich eine Kolonie kleiner Einfamilienhäuser aus, hübsche, einladende Kleinbürgerheime, in Gärten eingebettet. ES war noch Frühling, die Blumen wucheren wie wild, zuweilen in schreiender, betäubender Buntheit. Dann liegt da ein Park am Hang,
wellig gelagert, mit Rasenplätzen, auf denen man auSruhen kann, mit kleinen Teichen, auf denen Schwäne weiß aufleuchten. ES war ein stiller Vormittag in den letzten Maitagen, von der Höhe ahnt man die Siebenmillionenstadt, die vom leichten Nobel überzogen ist. Hat man den Park durchquert, öffnet sich eine Pforte, man steht auf einer schmalen Straße, und rechts wie links erscheinen die Eingangsportale zu Friedhöfen. Da stand ein langer, schmaler, weißhaariger Mann, nicht mehr jung, ich nannte ihm die Grabnummer 24.748, aber er wollte den Namen wiffen, und als ich ihst nannte, wußte er sofort Bescheid. Und e» war wie ein Gruß, wie eine Verständigung. Dann geht man link» durch die Pforte, immer den breiten, leichtgeschwungenen Hauptpfad am Hang zwischen den Gräbern entlang, biegt beim zweiten Seitenpfad rechts ab, nach wenigen Schritten ist man am Grabmal der Familie Serimgecvr, jetzt feldeinwärtS, immer an Kreuzen, Blöcken vorüber, plötzlich steht man an der Stätte, die so viel bedeutet. Bier Menschen schlafen unter der Weißen Platte im engen Schacht. An einem Wintertag im Dezember 1881 begruben sie Jenny von Westfalen, nach einem, entbehrungsreichen, harten Dasein, nach einem qualvollen, hoffnungslosen Kampf um das erlöschende Leben. Al» noch ein Winter gekommen und eben
gegangen war, erschienen sie wieder und brachten im März 1883 Karl Marx . Wenige Tage später öffneten sie die Gruft für ein Kirch, den blutjungen Harry Longuet. noch nicht fünf Jahre alt. Sieben Jahre später folgte die Schaffnerin Helene Demuth . Auf einer Tafel vier Namen, in einem Grab vier Menschen, darunter er. Es ist immer noch ein schmuckloses, einsames Grab, nirgends ist verzeichnet, daß es hier liegt, Fremdenführer verzeichnen manchen Mannes Namen; der hier liegt, sein Name wird nicht genannt. Er gibt in dieser Stadt Kathedralen und Abteien, gefüllt mit Monumenten und Statuen, in einem ungeheuren Marnwrblock, fast so riesig wie der Marmorschrein seine» Feinde» im Jnvalidendom, ruht im Mast eines eroberten Schiffes der Leichnam Nelson»; ungeheuer ist der Block, in dem Wellington schläft, der 1848 die Bürger und den Adel vor den Ehartiften rettete. Gräber und Gräber und wieder Gräber, Monu-' mente, Sarkophage, Statuen in Kathedralen und Abteien. Am Hang von Highgate Einer unter Vielen, unter vielen Namenlosen, Verblichenen, Vergangenen, so ruht der Mann mit den Seinen, der die Welt durch seine Lehre erschüttert hat und einem Zeitalter den Namen gab.