Mr. 223

Mittwoch, 22. September 1937

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,, Ich rufe Euch alle von Asch bis Jasina!"

Der Präsident der Republik   Dr. Eduard Beneš   über das Vermächtnis Masaryks

Der einzige Redner an der Bahre Masaryks war dessen Schüler und Nachfolger Dr. Eduard Beneš  . Nachstehend bringen wir das Wesentliche dieser Rede, die ein historisches Dokument ist und deren Schluß, in welchem der Präsident die anwesenden ersten politischen Funktionäre des Staates aufforderte, Masaryk   treu zu bleiben, von hoher politischer Bedeutung ist und auf das stärkste wirkte. Dr. Beneš führte aus:

Mit von Bewegung und Trauer erfüllter Seele stehen wir hier am Sarge unseres großen Toten. Wir blicken auf dieses große so über alles Maß aus­gefüllte Leben, das beinahe ein ganzes Jahrhundert umfaßte, wir denken an den ungeheueren Reichtum der geistigen Arbeit und der Taten seines Lebens, wir erwägen den Sinn dieses großen Lebenslaufes und in unsere Seele kehren allmählich Ruhe, Klarheit, Sicherheit, Festigkeit und Stolz ein.

Wie sollten wir nicht ruhig und fest sein, wenn wir diesen klaren und geraden Weg sehen, den uns dieses Leben gewiesen hat! Wie sollten wir nicht an­dächtig und würdig stolz sein, wenn wir sehen, daß diese Nation und dieser Staat einen Mann besitzt und ihn sich und den anderen, der gegenwärtigen Epoche und der heutigen Welt schenkt, welcher zu jenen großen Weisen des Lebens gehört, die die Vorsehung nur in Jahrhunderten einem Volk und der Menschheit gewährt!

Von siebenundachtzig Jahren eines vollkom­menen ausgefüllten Lebens widmete er über sech­zig Jahre dem Ringen um das Erkennen des Men­schen, dachte darüber nach, wie man das metaphy­sische Problem von Leben und Welt beherrschen und wie man alle Fragen des geistigen und kultu­rellen, politischen und sozialen Lebens klären, wie man alle Schwierigkeiten des praktischen Lebens des Volkes überwinden und den Staat täglich orga­nisieren und leiten könnte, wie man praktisch sich selbst, die Nation, den Staat, Europa  , alle übrigen Nationen und ihre Probleme erkennen könnte; und dabei führte er durch mehr als fünfzig Jahre täg­lich schwere politische Kämpfe in konkreten Fra­gen, und leistete auch alle die politische Kleinarbeit, dann in der alten

zunächst im eigenen ropäischen Krise und im

Monarchie, dann in der

Weltkriege, hierauf arbeitete er an der Gründung und am Ausbau des Staates und bereitete gleichzei­tig ständig für uns, die wir hier zurückgeblieben sind, sein Vermächtnis und die Wege vor, auf denen wir jetzt Masaryks Fackel, die so hell durch die Welt leuchtet, weiter tragen sollen!

Dies ist in Kürze Masaryks Leben. Seine Fahrt um die Welt, während des Krieges, ist ein Symbol seiner gesamten geistigen und politischen Tätigkeit und seiner weltumspannenden Universalität.

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Das, was heute Europa   durchlebt, dieses Wirr­sal von Kämpfen, Regimen, Revolutionen, geistigen politischen Umwälzungen, sozialen, nationalen und internationalen Bewegungen, moralischen und phi­losophischen Konflikten dies alles ist die Proble­matik von Masaryks Persönlichkeit. Und daß er dies erkannt und darnach gehandelt hat, ist das, was ihn groß macht. Nichts von dem, was wir heute erleben, hat ihn überrascht, nichts hat ihn geistig und moralisch, wissenschaftlich und philosophisch unvorbereitet angetroffen, nichts hat ihn erschüttert und nichts hat ihn von seiner festen und logisch gradlinigen Lebensbahn bis zu den letzten Augen­blicken vor seinem Tode abgebracht.

Die feudale Gesellschaft vor der französischen  Revolution wurde in ihrem sozialen Zusammenhalt aufrecht erhalten durch die ständisch. Ordnung, die Klassenautorität der Aristokratie und die Autorität der Kirche, gestützt auf den politischen Absolutis­mus der Monarchie. Die französische   Revolution hat zunächst den dritten Stand in die neue gesellschaft­liche Struktur eingeführt, hat so der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte   einen konkreten Inhalt gegeben, hat damit noch breitere Volksschichten, den Kleinbauern, den Arbeiter, den kleinen Mittel­stand in das politische Leben eingegliedert und so das tatsächliche Problem der Demokratie gestellt, das Problem der Volksherrschaft der Herrschaft nicht eines Standes, nicht einer Partel, nicht einiger Stände, sondern der Herrschaft aller, der Herrschaft des Volkes, des gesamten Volkes.

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Aber dadurch tat sich vor diesem nachrevolu­tionären Europa   automatisch ein neues Lebens-, Existenz- und Schicksalsproblem auf: Vermag diese unsere Gesellschaft den entfesselten revolutionären

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Individualismus aufzuhalten? Vermag sie dem be­freiten Menschen richtig zu sagen, wo die Grenzen seiner Freiheit sind? Vermag rie eine neue gesc schaftliche Autorität zu schaffen, die das Bindemit­tel des Zusammenhalts der neuen demokratischen Gesellschaft sein wird- mit einem Worte: vermag sie eine neue demokratische Autorität zu schaffen, die die frühere Autorität der Monarchie, der Ari­stokratie und der Kirche ersetzen und die Entwick­lung des entfesselten Individuums zu moralischem, politischem, sozialem Anarchismus und zu voll­ständiger wirtschaftliche Zerrüttung unmöglich machen wird?

Wir stehen am Ende einer großen heroischen Epoche, die in dem Weltkriege gipfelte, die uns zum Umbruch führte und die uns vor ein klares und scharfes Dilemma stellt: Die europäische   Gesell­schaft, die geschaffen ist nach dem Vermächtnis der französischen   Revolution, die das System des Liberalismus passiert hat, in dem sie sich auslebte und den sie verläßt- wird sie sich irgendeinem neuen Extrem nach links zuwenden oder zu irgendeinem Extrem nach rechts zurückkehren? Wird sie wie­derum zur Schaffung irgendeiner neuen ständigen Autorität gelangen, um damit die anarchistischen Instinkte des befreiten Individuums zu fesseln, oder wird sie ungefesselt die Verwirklichung einer prak­tisch unrealisierbaren absoluten menschlichen Gleichheit versuchen und so in kriegerischem Chaos und in einer Katastrophe der ganzen modernen Zivilisation untergehen?

Von der Höhe seiner 87 Jahre hat er ruhig, fest, platonisch und im Geiste des Christentums seine Antwort auf alle diese Fragen des heutigen zerrütteten Europas   durch die Formel ausgedrückt, die seine Philosophie und Lebenspraxis zugleich dar­stellt: Jesus

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lichen Ich und zugleich religiöse Demut vor der Welt und ihrem metaphysischen Problem, vor dem Men­schen in seinen Millionenmassen und vor dem Rechte eines jeden von ihnen auf Glück und auf ein wahrhaft menschliches, freies Leben. Es ist die große Synthese und das große, ständige, feste Gleichgewicht, das große Positivum der mensch­lichen Seele, die Unterstreichung und die positive Einstellung zu jedem Problem des Lebens: zu jedem Ich zu jeder Klasse, zu jedem Volke, zum ganzen Problem der äußeren Welt. Es ist dies der Wider­stand gegen jede Gewalt, sei es geistige oder ma­terielle, und also auch das Recht und die konse­quente Entschiedenheit, sich gegen Gewalt zur Wehr zu setzen. Masaryks Leben ist ein großer Kampf mit seinem eigenen Ich um die innere Aus­glichenheit, Klarheit, Festigkeit, ein Kampf mit der äußeren Welt und deren Problemen um ihre volle positive Erfassung, ein Kampf gegen jeden Negati­vismus, für die volle Harmonie des Einzelnen und der Welt und für die metaphysische Synthese des Menschen und der Welt. Dies alles wollte Masaryk  sein und war es auch.

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Masaryks Leben gipfelte im Weltkriege, nach welchem er nur noch das Credo seines Lebens in der Synthese zur Geltung brachte. Und er fand noch eine große Genugtuung seines Lebens: Noch fast volle neunzehn Jahre lebte er nach der Verwirk­lichung seines Triumphes, er stellte in den Dienst seines Staates und Volkes seinen Glauben, seine Weisheit, seine Erfahrung und seinen eisernen Wil­len in einer vom Krieg zerrütteten Zeit und er ar­beitete mit seinen Genossen Tag um Tag nach sei­nen Ideen, nach der Entwicklung der Welt und Europas  , nach der Erkenntnis der Kräfte bei uns und rings um uns am festen Ausbau unseres demo­unserer inneren Verwaltung, unserer Wirtschaft, unserer Armee, unserer Außen­politik und er gliederte so unser neues Leben und unseren Staat in das neue Nachkriegssystem

phisch faßt er nicht Cäsar. Und philoso- kratischen Systems,

er in glänzender Weise diesen seinen ganzen Glauben, die Geschichtsphilosophie und praktische Politik eines ausgeglichenen, festen, klarsehenden Menschen in folgenden lapidaren Wor­ten von ewiger Geltung zusammen:

,, Das tiefste Argument für die Demokratie ist der Glaube an den Menschen, an seinen Wert, an seine Gei­stigkeit und unsterbliche Seele: dies ist die wahre me­taphysische Gleichheit. Ethisch ist die Demokratie mo­tiviert als politische Verwirklichung der Nächstenliebe. Das Ewige kann dem Ewigen nicht gleichgültig sein, das Ewige kann das Ewige nicht mißbrauchen, kann es nicht ausbeuten und vergewaltigen. Die wahre, auf der Liebe und Achtung vor dem Nächsten und vor allem Nächsten gegründete Demokratie ist die Verwirklichung der Ordnung Gottes auf Erden!"

Dies ist eine andere Formulierung für Huma­nität und Demokratie, nicht nur was den Inhalt anbelangt, sondern auch die Methoden der Arbeit und der evolutionären Verwirklichung der neuen Welt und der heutigen Welt von ihrem Irrwahn.

Die humanitäre Demokratie als kulturelles, soziales und politisches System ist a also für ihn keine Theorie, kein System von Gedanken und The­sen oder schematischen Institutionen. Es ist für ihn auch keine Streitfrage, ob sie kommt oder nicht kommt, ob sie sich erhält oder nicht.

Sie ist das durch die historisch- philosophische Entwicklung der modernen Welt gegebene sittliche, politische und soziale Regime und ein Zustand, den die Ereignisse aufhalten, den andere Systeme für eine Zeitlang unterbrechen können aber die Ent­wicklung geht unaufhaltsam weiter, die humanitäre Demokratie ist auf dem Wege und wird in ihrer ganzen Fülle da sein.

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Und die Demokratie, soweit es sich um die sitt­liche Entwicklung des Individuums handelt, ist für ihn die Gleichgewichtssynthese aller seiner geisti­gen Kräfte, Ausgeglichenheit und innere Diszipli­niertheit der Seele, Gleichgewicht des Intellekts und des Gefühls, heroische bewußte Kraft des mensch­

Ich rufe Sie alle, ohne Ausnahme, von links nach rechts, vom letzten Dorf bis zu dieser Hauptstadt, von Asch bis Jasina, Sie alle, die meist an die sozialen Probleme dieses Staates denken und Sie, die sich meist den natio­nalen Problemen widmen- alle ohne Unterschied, rufe ich Sie im Geiste un­seres ersten Präsidenten zur Erfüllung seines Vermächtnisses auf und zur Voll­endung unserer gerechten, festen, unerschütterlichen, evolutionären humanitä­ren Demokratie.

Masaryk  , der auch nach seinem Abgange ständig, unter uns bleibt, ist uns allen Beispiel und Aufforderung. Beispiel durch seinen großen Glauben an den Menschen, der heute für Europa   und die Welt so sehr notwendig ist, Mahnung, daff wir in Harmonie untereinander, in gutem Willen und Freund­

pas und unter die übrigen Nationen der Welturo­

Und er war ein glücklicher Mann, nicht nur durch den Triumph seines Lebens, sondern auch in seinem Abgang: er schied in dem Glauben, daß das Werk, das er gegründet, fest gegründet ist, daß wir alle gemeinsam es bewältigen werden, und daß un­ser Staat und alle unsere Bürger aller Klassen und Nationalitäten auf der Höhe sind und sein werden.

Wie sollten wir über dieses große Leben bei seinem Abgang trauern, wenn wir auf diesen glän­zenden, geschlossenen Lebenskreis blicken, der in sich selbst eine große Mahnung darstellt an uner­schütterlichen Glauben an das Gute, an das Posi­tive, an den Erfolg, an die segensreiche, zu höch­sten Höhen emporsteigende sittliche Entwicklung, der in sich selbst im Augenblicke des Abganges die Harmonie selbst darstellt! Wie schön und erhebend ist es zu sehen, daß dieser große Kämpfer des Le­bens, der niemals einem Kampf ausgewichen ist, in einem Augenblick schwerer Probleme und Kämpfe in der ganzen Welt von uns scheidet, in Harmonie mit sich selbst, mit seinem Glauben an die Vorse­hung, in Harmonie mit seiner Umgebung, mit seinem Glauben an den Menschen an den endlichen Triumph des Menschen, an den Triumph der Ge­rechtigkeit und des Rechtes, an den Triumph der Humanität bei uns, in Europa   und in der Welt!

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In diesem festen Glauben an eine glückliche Zukunft und in diesem Streben nach Harmonie des persönlichen, nationalen und staatlichen Lebens ist er uns ein Vorbild für unsere künftige Arbeit: er wird uns ein Symbol sein für unsere evolutionäre, soziale und Klassenharmonie; ein Symbol der stän­dig erneuerten Harmonie der Parteien und Perso­nen, ein Symbol der Harmonie unserer Nationalitä­ten im Staate. Er ist und wird für uns immer die große Aufforderung sein, immer und immer wieder nach Wegen zu suchen, wie wir uns im Namen der Humanität und Demokratie zum gemeinsamen Werke gruppieren sollen, zu dem uns alle in diesem Staate das Schicksal berufen hat.

schaft mit unseren Nachbarn und allen anderen Völkern in Europa   und in der Welt unseren staatlichen Organismus und unsere politische, soziale und nationale Zusammenarbeit so ausbauen, daß wir aus diesem unseren Platz in Europa   einen vollkommenen, harmonischen, sozial, national und politisch gerechten Staat bilden, dessen würdig, der eben von uns scheidet, einen Staat, der unter den Staaten das sein wird, was Masaryk   unter uns und das, was Masaryk   für die übrige Welt war. Diese Mahnung bedeutet, daß wir Masaryk  treu bleiben sollen. Indem ich im Namen von Ihnen allen von ihm Abschied nehme, verspreche ich, daß wir diese Mahnung befolgen werden.

Befreier- Präsident, dem Vermächtnis, das Sie in unsere Hände gelegt haben, werden wir treu bleiben!

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