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Donnerstag, 24. Feber 1888
Nr. 1»
dem Hoare-Laval-Abkommen den Versuch gemacht hatte, sich mit dem Angreifer Mussolini auf Kosten des Völkerbundes und des angegriffenen Abessinien zu einigen. Auch»Eden» spatere Nachgiebigkeit, zu der ihn der Mißerfolg der nicht mit der genügeirdcn Entschiedenheit geführten Sank« tivnskampagne nötigte, hat seine grundsätzliche Einstellung gegenüber der faschistischen Gefahr nicht geändert, und die inzwischen eingetretenen Ereignisse haben ihn nur in seiner Ansicht bestärkt, daß Konzessionen an die Diktaturstaaten den Frieden nicht retten können und daß die Stärkung des Völkerbundes als Bundes der Friedensmächte, vor allein aber die Festigung der englisch -französischen und der englisch -amerikanischen Freundschaft die besten Friedensmaßnahmen sind,— und Eden ist auch innner gegen die Illusion aufgetreten, daß sich England von den Vorgängen in Europa isolieren könne, ohne seine eigene Position und sein Prestige als Vormacht der internationalen Ordnung in Gefahr zu bringen. Der Konflikt zwischen Eden und Chamberlain ist der lange hintangehaltene Zusammenstoß zwischen den beiden Richtungen der englischen Politik, die seit dem abessinischen Kriege miteinander rangen. Eden, der vor einem Jahre der Begegnung mit dein jetzt zum Außenminister Deutschlands gewordenen Ribbentrop in London durch eine Reise nach Frankreich miSwich und vor drei Monaten die Besprechungen mit Hitler dem Lord Halifax überließ,— Eden, der auf seinen Fragebogen an Hitler nie eine Antwort bekom- men hat, hat sich jetzt offen von einer Politik IoS- gesagt, die mit dem Gedanken spielt, durch Zu- geständnisse an die Diktatoren und durch Distan« zierung Englands von den europäischen Problemen dem britischen Reiche die»Sicherheit" erkaufen zu können. Das einzige ernste Argument der Anhänger dieser Richtung, daß die englische Auf« ' rüstung noch einige. Jahre Zeitgewinn fordere, dürfte Eden heute auch nicht mehr für ausschlaggebend halten, jedenfalls nicht für so schwerwiegend, daß man deshalb weitere Mißerfolge in Kauf nehinen, eine Schwächung der britisch« französischen Freundschaft riskieren und dar Vertrauen der demokratischen Staaten Europas aufs Spiel setzen sollte. Daß Eden mit dieser Meinung auch innerhalb der englischen Regierungsparteien nicht allein steht, hat die Londoner Paria« mcntsdebatte bewiesen. Das Kabinett Chamberlain ist durch Edens Rücktritt in eine kritische Lage geraten. Auf EdrnS Seite stehen auch jene Konservativen, die Gegner einer JsolierungSpoli« tik sind, auf seiner Seite stehen besonders die Anhänger der britisch-französischen Entente, deren markantester Vertreter Winston Churchill ist, und auf seine Seite hat sich sogar Lloyd George gestellt, der vor nicht allzulanger Zeit noch gewisse Sympathien mit dem Berliner Diktator bekundete. Lloyd George hat vor allem auf den merkwürdigen Umstand hingewiesen, daß Chamberlain eine zustimmende Antwort MusioliuiS auf die britischen Vorschläge erhalten zu haben behauptete, von der Eden bis zu seinem Rücktritt nichts bekannt war. Und man muß tatsächlich vermuten, daß hier der Versuch gemacht wurde, von feiten MusioliniS dem Premierminister Chamberlain als Lohn für die Beseitigung Edens einen Erfolg in die Hände zu spielen,— ein Manöver, das dem Ansehen Chamberlains nickst zuträglich sein dürfte. Wenn auch die erste Abstimmung infolge einer gewissen konservativen Parteidisziplin Chamberlain eine Mehrheit gebracht hat, so spricht doch alles dafür, daß die durch Edens Rücktritt einge- leitete Krise nicht beendet ist, ja, man darf er- warten, daß Edens Ausscheiden aus der Regierung nur vorübergehend sein wird. Das Erstarken
der englischen Opposition haben die kürzlich erfolgten Nachwahlen bewiesen, und die Unsicherheit Chamberlains angesichts dcS Widerstandes der öffentlichen Meinung beweist die Tatsache, daß dec Plan, Lord Halifax zmn Nachfolger des populären Eden zu machen, schon wieder aufgegeben ist. Selbst die„Frankfurter Zeitung " mußte sich vorr ihrem Londoner Korrespondenten berichten lassen, daß EdenS Popularität so groß ist, daß die Regienmg Chamberlain, falls sie heute Wahlen ausschriebe, beträchtlich an Boden verlieren würde,— und sie gibt den Ausspruch eines englischen Politikers tvieder, daß Eden der Regierung in sedent Wahlkreis mindestens zweitausend Stimmen gebracht habe. Es ist also selbst in Deutsch «
Vie Tschechoslowakei und die Weltpolitik Die Basier„Nationalzeitung" bringt einen Artikel über die weltpolitische Stellung der Tschechosiowakei nach den letzten Ereignissen, wobei da» Blatt zu folgenden Schlüssen gelangt: Die Tschechoslowakei ist sich der Verschlechterung der allgemeinen und ihrer Lage bewußt. Sie muß diese Art„Vorrunde" von Berchtesgaden zweifellos als eine eigene Bedrohung empfinden. Allerdings läge in ihrem Falle die Sache anders. Wenn der von Schuschnigg zum französischen Kabinettschef Lkger geschickte Graf Coudenhove» Kalergi die Antwort erhielt, daß Frankreich ohne ein formelles Klagebegehren Oesterreichs beim Völkerbund oder in anderer Form nichts machen könne, so hat der Franzose für den Fall einer ähnlichen Attacke mtf die Tschechoslowakei ohne Zögern geantwortet: dann marschieren wir. In der Tat: so wie die Dinge heute liegen, würde einAngriff auf die Tschecho slowakei zweifellos den europäische» Krieg bedeuten. Man darf nicht vergessen, daß bei der Verflechtung der bestehenden Desensiv-Berträge das erste französi sche Regiment, daS sich für die angegriffene Tschechoslowakei in Marsch setzt, auch gleichzeitig den AuionomiSmuS der ruffisch-französisch- tschechoflwvakischen Abmachungen auSlöst. An dem Schicksal der defensiven und relativ schwachen Tschechoslowakei hängt das Schicksal Europa ». Fm übrigen aber dürften die vielgeschmähten Defensiv-Abreden mit Sowjetrußland kein absolutes Hindernis zivischen Deutschland und der Tschechoslowakei bilden. Der Londoner „Evening Standard" hatte vor kurzem behauptet, daß Deutschland an die Tschechoslowakei eine Anzahl Forderungen sichten würde, unter denen die Autonomie für die Sudetendeutschen und das Fallenlassen«der Abmachungen mit der Sowietnnion figurierten. Die Nachricht des englischen Blattes ist falsch. Theoretisch wäre dazu zu sagen, daß — wie wir oben ausgesiihrt haben— eine solche Autonomieforderung auch im Interesse Deutsch lands hoffentlich nie erhoben wird l»nd, da» muß gereckiterwekse gesagt werden, bisher auch niemals erhoben worden ist) und daß die Rußlandangelegenheit nicht absolut ein Hindernis ist. Es haben seinerzeit bereits einmal Vertraute Hitlers gelegentlich eines ballon d'essai wegen eines RichtangriffpakteS sondiert, und man hat ihnen dabei die Frage gestellt, tvie sich Deutschland zu den Vertragen der Tschechosiowakei verhalten würde. Darauf wurde den tschechoslowakischen Gesprächspartnern ausdrücklich erwidert, daß man Imit Prag einen Nichtangriffspakt„rebuS sie ! stantibus" schließen würde, und daß man nur
land kein Zweifel darüber, daß die Massen des britischen Voltes hinter Eden stehen, und es kann für einen aufmerksamen Beobachter der englischen Verhältnisse nicht zweifelhaft sein, daß durch Eden» Rücktritt und die Offenheit, mit der ec feinen Standpunkt vertreten hat, die Opposition» besonders die Labour-Party, die sich hinter Eden stellte, einen mächtigen Auftrieb erhalten hat. Der Teil des englischen BosieS, der an der Idee der kollektiven Sicherheit festhält und nicht willen» ist, dem Schicksal der europäischen Demokratie gegenüber gleichgültig zu bleiben, ist durch die englische Regierungskrise in Bewegung gekommen. Das ist, bei allen: Unerfreulichen, das Positivum der englischen Ereignisse für Europa .
gegen eine Vertiefung dieser Verträge sei. Von tschechoslowakischer Seite wurde daraufhin nochmals betont, daß die Abmachungen mit Moskau lediglich verteidigenden Charakter hätten. Da die Tschechosiowakei heute einer Periode schwerster Belastungsproben entgegengcht, war es an der Zeit, ihre Situation zl: umreißen. Kein Einsichtiger wird sich der Tatsache verschließen, welche Rolle dieser kleinen Demokratie zum Heil oder Unheil Europas vom Schicksal zugeteilt wurde. Aber nicht nur vom Schicksal hängt die Republik ab, sondern auch von den Großmächten. So wie diese in unbegreiflicher Blindheit die Wirischafl der Donaustaaten ohne Unterstützung und als freies Feld flir den deutschen Wirtschaft». Imperialismus gelassen hatten, bi» die Situation die wurde, die sie heute ist. so können sie dasselbe Delikt politischer Kurzsichtigkeit noch einmal begehen. Sie könnten aber auch— und das würde die Rettung Europas bedeuten— dem Frieden dienen, indem sie nicht bloß die Tschechoslowakei verteidigen, wenn sie angegriffen werden sollte, sondern wenn sie bereit» den Angriff al» solchen von vornherein unmöglich machen. Da» ist die Aufgabe der Stundet
Reflex der Hitler-Rede In der P^rlamentsdebatte Im Abgeordnetenhaus nahm die politische Debatte im Anschluß an den Staatsrechnungsabschluß am Mittwoch nachmittags ihren Fortgang. Dio Zahl der Pro-Redner ist auf 1V gestiegen, so daß ein Ende der Debatte noch nicht abzusehen ist. In den Couleur» gingen Gerüchte um. daß die Verhandlungen mit der alten Nation aldemokr- tischen Gruppe der Nationalen Vereinigung über eine eventuelle NegierungStcilnahme ziemlich weil gediehen seien. Als Minister ohne Portefeuille wird in diesem Zusammenhänge der Abgeordnete I e Z e l genannt. Dagegen scheint die S l o w a k i s ch e Voltspartei zu einem Regierungseintritt keineswegs bereit zu sein. Ais erster Dcbatteredner kam nämlich für die Slotvakische Vollspartei der Abgeordnete T i s o zu Wort, der der Regierung vortoarf, daß sie in der heutigen Zeit schweige, statt klar ihre Meinung zu sagen, und damit zur Beunruhigung der Oeffentlichkeit beitrage. Aus den Angriffen gegen die Slowakische DolkSpartei sei ersichtlich, daß dio Voraussetzungen für eine politische Atmosphäre der Verständigung nicht gegeben seien. Die Volkspartei würde ihrer Geschichte untreu werden und würde auch die Ergebnisse ihrer bisherigen staaiserhal« tenden Arbeit vernichten, wenn sie nicht auch in die» lem Augenblick davon Zeugenschaft ablegen würde, daß sie unerschütterlich hinter ihrem Programm der politischen Autononne der Slowakei steht und daß sie darauf warte, daß der Pittsburger Vertrag in Kraft gesetzt wird. Das souveräne, slowakische Volk wolle aber in der Tschechoslowakischen Republik leben. Er hcfst, daß die Regierung nicht hinter der Aeußerung
Unterschriftenaktion bei den österreichischen Arbeitern W i e n. Reben seiner großen Bersamm- lungSkampagne für die Selbständigkeit Oesterreichs hat der Gewerkschaftsbund auch eine Petition»' aktion der Arbeiter und Angestellten eirgeleitei. In allen österreichischen Werkstätten und Fabriken werden seit Dienstag Unterschriften für eine Treuekundgebnng für Bundeskanzler Dr. Schuschnigg und für eine Kundgebung der Bereitschaft zum Kampf für die Freiheit und Unabhängigkeit Oesterreichs gesammelt. Wie daS„Echo" mitteilt, wird die Zahl der Unterschriften, mit denen diese Petition bereit» versehen ist, auf mehr als eine Million geschäht. Die Petition wird Dr. Schuschnigg Donnerstag überreicht werden.
des Ministers Derer steht, daß niemand den Silo» tvaken je die Autonomie geben werde. M i k u l a»(Nationalsozialist) befaßt sich mit den Staatsgütern, deren Wirtschaft er für unhaltbm erklärt. I a r o ß(Ungar) erklärt, die Regierung hätte nichts getan, um im Rahnien des 18. Feber auch deo ungarischen Minderheit entgegenzukominen. Die Ti- tuation habe sich nicht im mindesten gebessert. Dr. Rovak(Bolkspartei) spielt auf die Hit» lerrede an, indem ersagt: In der Rede eines führenden ausländischen Staatsmannes wurden Zahlen angeführt, welche unterstreichen sollten, daß unter der Führung einer bestimmten Partei es gelungen fei, die Produktion zu erhöhen. Dadurch wollte dieser Staatsmann zeigen, daß eine antide- mckratische Richtung diese Ergebnisse erzielt habe Wir aber, sagte Dr. Nobäk, können feststellen, daß wir in dieser Beziehung nicht zurückgeblieben sind, sondern im G^enteil in vielen Zweigen einen noch viel größeren Aufstieg zu verzeichnen haben, all in jenen Staaten, wo die Demokratie direkt verflucht ist, und zwar ohne drakonische Maßnahmen in deo Volkswirtschaft und ohne eine Ueberlastung der Bevölkerung. Daher können wir stolz sein auf unseren Staat und stolz darauf, daß wir. dqbei den Grundpfeiler unsere» Staate», das ist das gerechte demokratische System, nicht verletzt haben. S v e r m a(Kommunist) reagiert in wesenüich schärferer Form auf die Hiilerrede, wobei er zur Ordnung gerufen wird,' Die weitere Aussprache wurde dann auf Donnerstag 2 Uhr nachmittag» vertagt. Senatedebatte vertagt Im Senat, der Mittwoch zu seiner ersten Elt- znng seit den Weihnachtsferien zusammentrat, erstattete der Sozialdemokrat Modräiek einen ausführlichen Bericht über den StaatSrechnungSab- schluß für 1088. Dann kamen noch zwei Redner, der Ungar H o k k y und der tschechische Agrarier S t o» d o k a zu Wort. Entgegen den ursprünglichen Dispositionen beschloß das Senatspräsidium, die weitere Debatte aus die nächste Woche zu verschieben. In einem offiziellen Kommunigut des Senatspräsidiumi heißt es, daß die Gründe hiefür sachlicher Natur sind. Die Debatte über den StaatsrechnungSabschluß sei Heuer in Wirklichkeit die Fortsetzung der Budgetdebatte und habe daher auch ihre politische Bedeutung. DaS Senatspräsidium habe eS daher für zweckmäßig erachtet, die Debatte um einige Tage zu verschieben, bis die internationale Situation geklärter sein wird als im gegewvärtigen Augenblick und bis auch eine eventuelle Erklärung unserer Regierung vorliegen werde, dmnit auch diese bereits den Gegenstand der Verhandlungen bilden könne.
Der Präsident der Republik empfinq Mittwoch, den 28. Feber, eine Deputation des tschecbo- flowakischen AnSlandSinstitute». WeiterS empfing der Präsident Vertreter der Stadt Hultschin und i hierauf Vertreter der Stadt Chottbok, die ihm I Ehrenbürgerdiplome überreichten.
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Der ewige Schatten
Als die Halme aufschossen und die geräumigen Dolden erschlossen, durchsickerte die au» der feuchten Erde und dem himmlischen Glühen gemischte Nahrung jede Aehre, jede Ader des Getreides. DaS Vieh auf den Wiesen raufte und schmatzte allerfeinstes, allerfetteste» Futter. Als Ileberfluh strömte die Milch aus den Eutern. Auf den Feldern vor den Toren der Stadt Gent hatte noch am Vormittag da» Vieh geweidet Dann hatte es heimwärts getrieben. Die prächtigen Tiere läuteten mit ihren HalSglocken über den Weg. Sie stürmten den Stall. Sie streckten sich nieder. Sie genossen das Behagen de» Wiederkäuen». Die Tiere genossen den Frieden ihre» Stalle», und da es für sie so ernsthafte Arbeit zu tun gab, wünschten sie flir sich zu bleiben. Die Wanderung der Stadt nach dem Richtplatz blieb ihnen deshalb erspart. Nur vier erprobte Pferde wurden angeschirrt, entschlossene, fleißige Tiere, die niemals einen Dienst verweigert hatten, Lieblinge ihrer Pfleger. Die Knechte hatten die Tiere mit ihren Drahtbürsten gestriegelt. Kein Flecken und kein Staub blieb an den runden, gescheckten Leibern. Sie schleppten hinter sich Pfähle aus besonder» hartem Nußbaum, die mit festgeschmiedeten Ringen umwunden waren und umwickelt mit unzerreißbaren Ketten. Die Pferde wieherten in Er« Wartung einer Arbeit, die ihrer würdig war. Die Pferde eröffneten den Zug. ES folgten die unzerbrechlichen Holzpfähle. Es folgten die Knechte. ES folgten die Richter in ihren Schar
lachmänteln, verziert an Kragen und Aermeln mit Hermelin. Der Thronende unter ihnen war auch der Thronende, wenn er ging. Er überragte die beiden zu seiner Seite um Haupteslänge. Es folgten die Priester, nicht mehr die ztvei, die im Saale de» Verhörs und in der Kammer der Schmerzen für die Träger der Gerechtigkeit und gegen da» verstockte Gewissen gebetet hatten, sondern der ganze Klerus der Stadt. Und an ihrer Spitze der Bischof, weih gekleidet von Kopf bis zu Fuß. Weiß wie da» Licht war ihm geboten. Farbe der Lauterkeit, die entsteht, nachdem da» Gewissen gereinigt ist, und kein Makel darf darauf haften. Es folgte die Magd Bloemarde Grotjan, eingekreist von Gebete murmelnden Nonnen. Gefurcht waren die Gesichter der geistlichen Schwestern. Das harte, braune Gewand verwandelte sie zu Standbildern, die sich alle ähnelten. Es folgte ein Hundcwagen mit Stroh darinnen. Auf dem Stroh kauerte ein Greis, dem Haare und Brauen und Bart, zu einer einzigen grauen Masse zusammengewachsen waren. Offenbat seit Monaten vernachlässigt, verstaubt und von Unrat und Würmern zerfressen, nicht mehr von Kleidern bedeckt, sondern nur noch von zerfetzten Lumpen, konnte der Greis sich nicht mehr bewegen. Der ganze Zug, Richter, Priester, Soldaten, Bürger, hielten am Rande de» zum Richten bestimmten Felde». Lang war der Tag gewesen und heiß. Aetzt regte sich unter der Spätsonne eine Brise. Sie war erfrischend und zärtlich. Wer sich bedrückt gefühlt hatte, zog köstliche Luft ein. Der Horizont verschleierte sich mit blauen Dünsten. DaS Atemholen erquickte. Und ebenso das Wandern de» Auge» entlang am Saume des Walde». Die Gardisten, die da» Hundefuhrwerk um- singelten. öffneten ihre Reihen. Die Richter, die Priester mit dem Bischof an der Spitze und die Rönnen stelltett sich um den
Karren, in dessen Strohlager Doktor Gawriell Delemoü kauerte. Auf einen Wink de» Thronenden wurde die Magd Bloemarde Grotjan bi» zum Karren herangezogen. Gesenkten Blickes stand sie da. Sie betrachtete den geketteten Men- sthcnrest, der ihr den Rücken zntvandte. Aber der Thronende befahl, daß der Gefesselte sich umkehre. Sei es, daß er nicht mehr begriff, sei e», daß er unfähig geworden war, Befehlen zu gehorchen, die sein Schmal nicht mehr änderten, der Gefesselte gab kein Zeichen des Lebenswillens niehr. Mit einer traurigen, schleppenden Stimme, die ganz anders klang al» das klingende Schneiden, mit dem der Thronende sonst seine Worte zu schärfen gewohnt war, befahl der oberste Herr des königlichen Tribunals:„Man nehme ihm die Ketten ab und stelle ihn noch einmal der Kronzeugin gegenüber k" Doktor DelemoS wurde vom Wagen gehoben, befreit, und da die Füße ihn nicht trugen, wurde er von zwei Priestern in den Achseln gestützt. Der Thronende sprach aber:„Auge in Auge. Doktor DelemoS, mit dieser Magd, die geschworen hat, die reine Wahrheit zu sagen, geschworen eS auf die Heilige Schrift, die un» allen und auch Ihnen verbietet, falsche» Zeugnis abzulegen wider deinen Nächsten, sollen Sie zum letzten Male antworten, was Sie der Ihnen wohlbekannten Aussage der Bloemarde Grotjan ent- gegenzusetzen haben I' Vergeblich wartete der Thronende auf die Antwort. Und er bega.,n deshalb, und eine noch tiefere Klage durchhallte seine Stimme, ein Laut, der nur so durchbebt sein konnte von Weh und Verzweiflung, weil der Sprechende mit Erschrecken und Bedauern den untersten Grund der hartnäckigsten MenlchenüoSheit erfühlt hatte: „Du aber. Bloemarde Grotjan, du kennst ihn, der auf dem Thron sitzt ganz da oben über den Wolken. Du weißt, was es bedeutet, wenn wir hier tuiten warten mit flehenden Händen, damit wir
gehört werden. So wünschen wir, dich noch einmal zu hören, ganz klar. Du sollst dein Herz fragen und dein GewissenI Sollst es unerbittlich fragen, dich nicht in Selbstgefälligkeit verhärten und auch nicht leichtfertig nut der Sache spielen. Du sollst ihn nicht hassen, den Mann, den wir hier in unserer Gewalt haben kraft unseres königlichen Amtes. Zum letztenmal sollst du nur auSsagen, ob du in jedem Punkt die Anschuldigungen aufrecht erhälst gegen den Mann! Beeil' dich nichtI Wir lassen dir Zeit. Steige noch einmal vorsichtig hinein bis in den verstecktesten Schacht deiner Erinnerung! Ist auch der Hals des ange- schuldigten Doktor Dclcmo» geschwollen und sichtbar an seinem Adainöapfel, daß er nicht gewillt ist, die Fülle dessen herzugeben, wa» noch in ihm quillt an Geheimnissen und Rätseln, so hast du die Pflicht, unbeschadet solchen Widerstandes und ohne Rücksicht auf dich, ohne Rücksicht auf den Angeschuldigten und nur zum Ruhme der ewigen Wahrheit und im Anblick dieses Kruzifire» die Herren de» königlichen Gericht» vor dem gräßlichsten Irrtum zu bewahren I" Der Bischof selber schritt auf die Magd zu, um ihr das Kruzifix vor die Augen zu halten. Sie betrachtete es lange, die Blutspuren, von Dornen in seine Stirn gerißt, die Nägel, durch da» Fleisch der Hände und Füße gebohrt. Hierauf sank sie in die Knie. Sie hob die Schwurhand und sprach: „Ach schwöre bei Gott dem Allmächtigen und dem Allwissenden, daß ich die volle Wahrheit gesagt, nichts verschwiegen und nichts hinzugesetzt habe, so. wahr mir Gott Helsel" Jef Vandam, der Nachrichter, rief dem Thronenden zu:„Sollte es mir nicht gelingen, mein Werk vollkommen zu tun, so Ivie es meine Hände wollen, so wie es mir befiehlt da» Chri- stenherz und die Achtung vor der Majestät, uns eingekebt zu Frommen und Ordnung, dann klaget mich nicht an, Ihr prh"benen Richter! Ich bin nur ein unvollkommener Mensch." (Fortsetzung folgt.).