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Adele Gerhard.

Kleines Feuilleton.

In anderer Weise interessant ist die nahe dem Freitagsmarkt| namentlich durch Erziehung zur freien Selbstregierung, durch Ein. gelegene Niederlaffung des Booruit, wo wir die Druckerei, die führung in eine demokratische Verwaltung des wirthschaftlichen Räume der Verwaltung und das gut ausgestattete Café finden. Lebens. Der Vooruit ist ein Miniaturbild edler Demokratie und in Hier wird Bier, Wein, Milch, Limonade ausgeschänkt, niemals aber allen Zentren Belgiens reihen sich ihm allmälig sozialistische Burgen Branntwein, so wenig wie in irgend einer anderen der belgischen gleichen Geistes au. Genossenschaften. Eine große Bibliothek ist in demselben Gebäude Wir arbeiten wir haben keine Zeit, über uns zu berichten," dem 800 Personen fassenden Versammlungslokal beigefügt. Das erwiderte Anseele fast hochmüthig, als ich mit Erstaunen bemerkte, dritte Gebäude, das dem Vooruit gehört, ist größtentheils an gewerk- daß bisher wenig über den Vooruit geschrieben sei. Diese stolze schaftliche Bereinigungen und an die Hilfskaffe Bond Napton ver- Auffassung ist bei dem Handelnden, Ausführenden wohl begreiflich. miethet; dieser Kaffe ift der Vooruit mit allen Mitgliedern bei- In einem Lande aber, dessen Gesetzgebung Schöpfungen gleichen getreten und sie bezieht ihre Medikamente aus seiner Apotheke. Zu Geistes hemmt, ist es wichtig, auf solche Gestaltungen in ihrer ver­den Gewerkschaften steht der Vooruit in naher Beziehung; er ist ein heißungsvollen Bedeutung hinzuweisen. gewichtiger Stüßpunkt ihrer Agitation und mit Stolz blicken die Genter Sozialisten auf die hier geschaffenen Werkstätten, die den tapitalistischen Betrieben als Beispiel hingestellt werden können. Namentlich das Bäckereigewerbe haben die sozialistischen Genossen­schaften völlig revolutionirt. L. Bertrand, einer der Führer der Be Hat der Mann, oder hat die Frau größere Geistesfähig­wegung, erzählt in dem Organ der Kooperationen, wie die Bäckerei in feiten? Diese uralte Streitfrage beschäftigte mich, als ich gestern Belgien noch vor zehn Jahren eine wenig entwickelte Industrie am Sonntag in einem der Biergärten von Berlin Platz nahm, war und das Brot in der seit Jahrhunderten üblichen Weise an- wo bei schönem Wetter Hunderte und Taufende am Tag verkehren. gefertigt wurde, während heute die sozialistischen Genossenschaften Ich sah die Gesellschaften kommen und gehen Männlein und die Umformung in große Brotbäckereien ermöglicht haben, die zahl: Weiblein. Etwa ein Dutzend Tische überschaute ich. Und überall lofe Mittelspersonen überflüssig machte und den Preis des Brotes dasselbe Schauspiel. Kaum sigt die Gesellschaft und kaum ist der herabsetzte. Die vortrefflich eingerichtete Bäckerei des Vooruit ist erfte Durst gestilt, so so zieht irgend eins der Männlein mit der Kohlenverkaufsstelle zu einer vierten Niederlassung verein Kartenspiel aus der Rocktasche und der Stat bunden; dort ist die achtstündige Arbeitszeit( in drei Schichten) ein- beginnt. Rein Denken als als Stat, fein Sprechen als Stat. geführt, die sich durchaus bewährt hat. Und gelangweilt sizzen die Weiblein daneben, unmuthig, ärgerlich, bis es ihnen gelingt, unter sich ein( mehr oder weniger) vernünftiges Gespräch in Gang zu bringen. Nur ganz felten läßt ein Weiblein sich vom Skatteufel verführen, und versucht Männ­lein zu sein.

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So imponirend alle diese Einrichtungen der Genossenschaft auch wirken, so gewinnt man doch erst den vollen Eindruck des Vooruit, wenn man die Art der Verwaltung und der Vertheilung der Ueber schüsse tennen gelernt hat. Die Differenz zwischen Verkaufs- und Einkaufspreis sonst der Gewinn des Zwischenhandels fließt in den Konsumvereinen im allgemeinen den Mitgliedern, im Ver­hältniß zu den von ihnen gemachten Einkäufen, in Gestalt der Divis dende zu. Beim Vooruit aber wird ein überaus großer Theil der Ueberschüffe die besonders hoch sind, weil die Brotpreise nicht wesentlich niedriger als in anderen Zäden gehalten sind zu Zwecken der politischen Propaganda, ein weiterer zum ferneren Ausbau der Genossenschaft vorweggenommen.

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Was die Lage der Angestellten betrifft, so zeigt schon die Bes schaffenheit der Werkstätten, wie man in jeder Weise bestrebt ist, den Forderungen der Gewerkschaften zu entsprechen. Die Gewinnbethei­ligung der sog. produktiven Arbeiter, die in der englischen Genoffen­schaftsbewegung Gegenstand erbitterter Kämpfe war und ist, spielt in Belgien eine untergeordnete Rolle. Der prinzipielle Standpunkt ist der der Unterstüßung der Gewerkschaft, denn man wünscht den Lohn auf der ganzen Linie zu heben, nicht nur bei der vergleichs­weise immer doch fleinen Zahl der im Vooruit beschäftigten Ar­beiter. Man will feine" Elite" in den Angestellten des Vooruit ausbilden, sondern dieser soll vielmehr der Stützpunkt für die ge­fammte gewerkschaftliche Bewegung sein. So ist die Gewinn betheiligung selbst da, wo sie noch vereinzelt besteht, eine minimale und die Erfahrungen des Vooruit sprechen im ganzen gegen fie. Der Anreiz, der in ihr nach der Ansicht der Anhänger liegen foll, hat sich als unwirksam und überflüssig erwiesen und man ist mehr und mehr von ihr zurückgekommen, was der theoretisch tiefer ein­dringenden Auffaffung über die Konsumgenossenschaft entspricht. Mitglied des Vooruit kann jeder, der das Programm der Arbeiterpartei anerkennt, durch Zahlung eines Eintrittsgeldes von 25 Cents werden. Der Betrag des Antheilscheines wird durch Borwegnahme vom Gewinn gedeckt, so daß also auch der Aermste eintreten fann. Verwaltet wird die Genossenschaft durch eine aus fünf Mitgliedern bestehende Kommission, die den Geschäftsführer wählt und bei deren öffentlichen Sigungen alle Genossenschafter zu Anträgen berechtigt sind. Außerdem finden vierteljährliche General­versammlungen statt. Aus der Mitte der Anwesenden heraus melden fich auf die Frage des Vorsitzenden diejenigen, welche willig sind, die Kontrolle zu übernehmen. Charakteristisch ist die Bestimmung, daß auf Nichtbesuch dieser Versammlungen eine Geldstrafe von 25 Cents steht: wir begegnen da wieder dem bewußten Bestreben, die Mitglieder nicht nur an dem materiellen Nutzen der Genossen: schaft theilnehmen zu lassen, sondern die Arbeiter in Wahrheit zu Selbstverwaltenden und Selbstregierenden heranzuziehen.

Bugegeben muß allerdings werden, daß heute an der Spike des Vooruit in Gestalt des sozialistischen Abgeordneten Anseele eine Ausnahmekraft steht, ein Mann, der in seltener Weise in seiner Person den Politiker, den Organisator und den auch im kleinsten praktischen Menschen vereinigt. Anseele fesselt nicht auf den ersten Blick; er hat nichts von dem persönlichen Zauber Vandervelde's , nichts von der lebhaften Eindringlichkeit Bertrand's; er wirft zu nächst fast erkältend, und erst, wenn der Gegenstand ihn fortreißt, begreift man, daß dieser blonde Mann mit dem ruhigen, fast bartlosen Gesicht wiederum Massen mit sich fortreißen fann. Und doch wäre es falsch, zu glauben, daß die Genossenschaft vor allem dem Wirken dieser einer seltenen Individualität ihr Gedeihen schuldet. Mag der Einfluß Anseele's das Unternehmen noch so sehr gefördert haben: das, was den Vooruit groß gemacht hat, ist die Verbindung seiner gesunden ökonomischen Grundlage mit dem opferfrohen Kampf seiner Mitglieder für das ihnen vorschwebende geistige Jdeal. Es ist ein Hauptverdienst der Genossenschaft, daß fie für dieses Jdeal nicht nur durch politische Propaganda wirkt, sondern

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Bei wem aber die höhere Intelligenz ist, bei den Männlein oder bei den Weiblein- das weiß ich, und das weiß auch die liebe Leserin und der denkende Leser. Omega.

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Theater.

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Das Schauspielhaus veranstaltete am Sonnabend den legten Novitätenabend dieses Theaterjahres. Es ist darüber nicht Der Tod des Tiberius " von viel zu sagen. Das Trauerspiel Wilhelm Hengen ist eine höchst überflüssige langathmige Umschreis bung der gleichnamigen Ballade von Geibel. Es wäre schrecklich, wenn sich Henkel's Verfahren einbürgern und wenn wir eine drama­tisirte Bürgschaft oder die Gewiffenštragödie von den Kranichen des Jbytus au foften bekämen. Das Liebes- und Tändelspiel Die schöne Toledanerin" von Lope de Vega gehört zu jenen altspanischen Dramen, die nur noch den Fachgelehrten intereffiren können. Warum man gerade das Vergänglichste, was eine bedeutende dichterische Kraft geschaffen hat, ausgräbt?

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Die Neue freie Voltsbühne wagte sich am jüngsten Sonntag an ein schweres Unternehmen. Im Theater des Weftens wurde der zweite Theil von Björnsons Schauspiel Ueber die Kraft" aufgeführt. Vor einigen Wochen erst erschien an dieser Stelle eine eingehende Analyse von Bjornsons Drama, einer der merkwürdigsten Dichtungen unserer Tage. Es wurde auch darauf hingewiesen, wie antirevolutionär das Drama in seinem innersten Wesen sei. Stieße sich die Zensurbehörde nicht an Aeußerlichkeiten, im zweiten Theil von Björnsons Drama also an den Explosionen, die ein gewaltiger Streit verursacht, empfände sie den Kern der Dinge in Björnsons finnbildlicher Dichtung, so hätte das Schauspiel für die öffentliche Bühne nie verboten werden können. Durch die Zenfurschwierigs keiten war es bedingt, daß Björnsons Ueber die Kraft" in vor­gerückter Jahreszeit und auf einer Vereinsbühne zum ersten Male in Deutschland gegeben wurde.

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Der Schreiber dieser Zeilen machte sich, als er die Buchausgabe der großangelegten Arbeit für den Vorwärts" besprach, allerhand Gedanken über die mögliche Bühnenwirkung; denn das Werk gehört zu jenen Dramen, die in ihrer weitumspannenden, wuchtig- symbolischen Art den Bühnenrahmen sprengen", wie Goethe in seinen Shakespeare­Studien sagt. Die Bühnenaufführung hat ergeben, daß die stärkste Wirkung vom dritten Aft, einem Meisterstück an Komposition, aus­ging. Das war schon nach der Lektüre vorauszusehen. Björnsons Ueber die Kraft" ist eine Altersdichtung; nicht im schlimmen Wort. finn ist das hier gemeint. Ein gealterter Mann, der über Jugends Sturm, über jugendlich gährendes Wollen, wie über männlichen Thatendurft hinaus, möchte mitunter in pastoraler Weise zur Be­sonnenheit mahnen. Klaffende soziale Gegensäge thun sich auf. Er glaubt noch immer an eine Vermittelung.

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Daß man noch nie in der Menschheit einem neuen Jdeal nahetam, ohne daß Jugendmuth und befeuerte Sehnsucht übers Biel geschoffen hätten, wird vom warnenden Alter gern übersehen. Aber mit unerbittlicher Schärfe hat Björnson die alternde Herren­welt, ihre fittliche Verkümmerung und ihren Frrwahn, den moderen Geist des Wiffen, den großen sozialen Strom aufhalten zu können, erklärt. Macht seine Mahnung im start abfallenden Schlußakt namentlich den Eindruck frommer, nebelhaft verschwimmender Wünsche: Hier ist Stimmung, hier ist Gestaltungskraft im lebendigsten Stil und hier wird ein satirisches Weltbild ersten Ranges offenbar. Dieser dritte Aft fam auch in der Gesammtaufführung am energischsten heraus, wenn man von der erschütternden Schlußkatastrophe abfieht, die ganz wuchtige Darstellungsmittel verlangt. Einzelne Fabrikherren