Anterhalwngsblatt des Vorwärts Nr. 140. Dienstag, den 20. Juli. 1397. (Nachdruck verboten.) Cesarine. Von Jean Nichepin. Uebersetzt von H. L. Denn wir fühlten, daß er im Begriffe stände, seinen Lippen das Gehcimniß entschlüpfen zu laffen, das wir beide so gern gekannt hätten, das Geheimnis feines Haffes, seines Abschcncs, das Gcheimniß, das zwischen Vater und Sohn einen so unüberbrückbaren Abgrund aufgerissen hatte. Aber unsere Neugier, und besonders die Cesarinens, hielt nicht stand vor dem schmerzverzehrten Ausdruck, der plötzlich alle Züge des Kranken verzerrte. Er war, als befände er sich im Todeskamps, und in überquellendem Mitgefühl rief Cesarine aus: Ja, ja, ich begreife, wir begreifen. Sie können es in der That nicht vergessen, wie grausam er gegen sie gewesen ist, und Ihr Groll erklärt sich auf eine ganz natürliche Weise." Und sie machte mir mit der Hand hinter dem Fautenil ein Zeichen, nicht weiter in ihn zu dringen, nicht grausam zu sein, und ich beeilte mich, ihr zuzustimmen: Sicher. Das versteht sich. Uebrigens habe ich Deinen Vater so in der Nähe kennen gelernt, daß ich mir die Anti- pathie, die zwischen Euch, zwischen zwei so entgegengesetzten Naturen bestehen mnß, sehr wohl erklären kann. Er ist so heftig, so herrschsüchtig, so wenig zartfühlend! Eine richtige Bulldogge, wie Du mir auf dem Lyceum sagtest." Das ist er, das ist er," erwiderte er. Es schien ihm eine solche Erleichterung zu sein, als er sah, wie uns diese Erklärungen befriedigten, daß ich sogar den Mnth gehabt hätte, fortzufahren und den tapferen Kapitän, der doch immerhin mein Lebensretter war, noch übler znzu- richten. Wohin war mein heroischer Entschluß, zu richten, verflogen?... Das darf Sie indessen nicht verhindern. Paul," nahm Cesarine wieder das Wort,das Geld anzunehmen, das Ihnen Herr von Roncieux sendet." In der That," fügte ich hinzu, indem ich das Bankbillet wieder aushob. Da ich bis jetzt derKomplice Cesarinens gewesen war, mußte ich wohl meine Rolle bis zu Ende durchführen. Ich hatte deshalb keine Scheu, ihm zuzusprechen. Und sei es selbst unter der Gestalt eines Almosens, so hättest Du doch nicht das Recht, dieses Geld zurückzuweisen, dessen Du vielleicht bedarfst." Das ist wahr", entgegnete er mit refignirter Stimme. Verzeihen Sie mir, Cesarine, daß ich nicht eher daran gedacht hatte. Und ich danke Dir, daß Du mich daran erinnerst. Es ist wahr, wir brauchen es, und ich schulde es Ihnen und Ihrem Vater. Ach! Ich versuchte umsonst, es mir nicht ein- zugestehen, ich bin überzeugt, daß Ihr Ench seit vier Monaten und zivar durch mich in Schulden gestürzt habt. Sie werden es nicht abstreiten." Was thut das!" schrie sie auf.Wir führen doch die- selbe Rechnung, weil ich Ihre Frau sein werde." Sie haben immer Recht", erwiderte er. Er lächelte sanft, nahm das Bankbillet, das ich ihm von Neuem reichte, faltete es auseinander und betrachtete es mit Rührung. Das ist das erste Geld, das ich in das Haus bringe," sagte er dann mit ernstem Ton.Nimm es, mein theures Weib. Und aus welcher Hand es auch immer kommen mag, sie sei gesegnet!" Und bevor er es Cesarine übergab, küßte er es unter Thränen. Ich konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken. Das war zu viel. Was! dieses Geld, dieses Geld Bochard's...! Ich warf Cesarine einen entrüsteten Blick zu. Aber ich hatte nicht die Energie, den ihren auszuhalten, er war so todestraurig, so verzweifelnd, so voll demüthiger gnadeflehender Bitte. Sie hatte den Kopf Paul's an ihre Brust gelegt und bettete ihn da, indem sie mütterlich sein Gesicht streichelte. Und dabei waren ihre Augen starr in das Leere gerichtet; unter ihren erstickten Seufzern schwoll ihr tals an, und große stumme Thränen rannen über ihr iärtyrcrinnen-Gesicht. Das Uebermaß der Aufregung hatte indessen Paul völlig erschöpft. Ein neuer Hustenansall ergriff ihn und dieser An« fall war noch stärker als der erste; er durchwühlte seinen ganzen Körper und erstickte beinahe seinen kurzen, pfeifenden Athem. Ich hielt es für nutzlos, ihn weiter zu ermüden, in- dem ich meinen Besuch verlängerte. Er selbst hielt mich nicht zurück, als ich mich zum Weggehen erhob. Er hatte sichtlich das Bedürfuiß nach körperlicher und seelischer Ruhe. Er be- guügte sich, mir mit einem flüchtigen, beinahe kalten Tone zu sagen: Aus baldiges Wiedersehen!" Bis auf morgen!" erwiderte ich. Nein, nein!" wandte Cesarine lebhaft ein.Es wird besser sein, wenn Sie einige Tage verstreichen lassen. Er muß erst wieder zu Kräften kommen." Er wandte nichts ein, indem er unterwürfig, willenlos mit einem Blick feine Zustimmung ausdrückte. Er gab mir seine Hand; sie war feucht und weich; es war der Händedruck jemandes, dessen Empfinden völlig erstorben schien. Diese Vernichtung, dieses völlige Versinken in sich selbst, erschütterte mich mehr als alles übrige. Ohne darüber nach- zudenken, daß seine Müdigkeit dessen alleinige Ursache sei, erblickte ich darin nur einen neuen Beweis von der völligen Unterwürfigkeit unter den Willen Cesarinens. Das brachte mich gegen ihn und gegen sie ans. Und ich zürnte auch mir selbst, mich so gefällig zu der Komödie hergegeben zu haben, die sie mir aufgedrängt hatte, um die Fesseln der Ab« hängigkeit Pauls noch enger zu schnüren. Als ich bei diesem Gedanken angelaugt war, glaubte ich, ich weiß nicht warum, vollends von ihr hinters Licht geführt worden zu sein. Und Cesarine empfand auch sehr wohl meine innere Unzufriedenheit. Als sie mir beim Hinausbegleiten die Flnr- thür öffnete, sagte sie mir plötzlich: Bedauern Sie, was Sie gethan haben?" Ja und nein," erwiderte ich.Sicherlich konnte ich, nachdem ich einmal eingetreten war, nicht anders handeln. Aber ich hätte nicht eintreten dürfen." Nun wohl l" entgegnete sie.Wenn Sie so denken, kommen Sie nicht mehr wieder." Sie sagte das mit so gebieterischer Stimme, daß ich ganz verdutzt blieb. Sie fügte sogleich hinzu: Sie halten mich also für gemein? Ja, nicht wahr? Und trotzdem haben Sie das gethan. Oh, wie auch Sie meinen Paul lieben! Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen!" Und ehe ich es hätte verhindern können, nahm sie meinen Kopf wie den eines Kindes in beide Hände und küßte mich rasch, fast wie närrisch aus beide Wangen, während ihre Kehle von einem Geräusch erschüttert wurde, von dem ich nicht wußte, ob es Lachen oder Schluchzen fei. xm. Weit länger als eine Woche, beinahe vierzehn Tage, ver- mied ich es standhaft, zu ihnen hinauf zn gehen. Aber ich beunruhigte mich trotzdem ihretwegen und erkundigte mich nach ihnen. Zuerst ging ich alle Morgen, wenn ich mein Hotel ver« ließ, an dem literarischen Kabinet vorüber und plauderte einen Augenblick mit dem guten Gavarot, den ich getreulich auf dem Posten fand, die Nase immer in irgend einem mathemati- schei» Werke. Er hielt mich ans dem Laufenden über die Gesundheit des Kranken. Das war seine hauptsächlichste Sorge. Gleich nach demGuten Tag" fing er regelmäßig von selbst an: Es geht besser, positiv besser. Mit anderen Worten, immer besser." Ich hatte übrigens umsonst versucht, ans seiner Schwatz- haftigkeit Nutzen zu ziehen, um über einige Punkte, die mir noch dunkel geblieben waren, Klarheit zu erhalten. Verlorene Mühe! Der gute Man» hatte mir nichts Neues mehr mitgetheilt und sich darauf beschränkt, die Geschichte von Malwine wieder aufzuwärmen» und als ich ihn einmal aus das Kapitel Bochard brachte, war er plötzlich auf einen anderen Gegenstand übergegangen. Man mußte beinahe an« nehmen, daß ihm in bezug auf diesen Punkt Verhaltungs- maßregeln vorgeschrieben worden seien. Von wem? Von Cesarine oder von Bochard in Person? Von beiden viel« leicht. Denn augenscheinlich versteifte sich auch Cesarine