Mnterhaltimgsblatt des Vorwärts Nr. 210. Dienstag, den 26. Oktober. 1897. (Nachdruck oerbulem Vev Vomstt rinvv Vevsitzmövung. 12 Von A. R a n c. Ins Deutsche übertragen von Marie Kunert . VIII. Am selben Abend um sechs Uhr ging es an der Tafel im Hötel des Trois- Piliers sehr fröhlich zu. Die schwatzenden und lärmenden Handlungsreisenden hielten das obere Ende der Tafel besetzt. Degrange hörte zu und sprach kein Wort. Wiöhu de la Guiche leerte die zweite Flasche Saumnr. Vater Jacotin, der ein starker Esser war, nahm ein Rebhuhn in An- griff, nachdem er die Hälfte eines Hasenrückens mit saucs poitevine erledigt hatte. Noch größer als seine Schwäche sür die Verschwörer, war die für Wildprel. Jacotin oder vielmehr Tribot— dies war der Name seiner Schwester, der Pelzhändlerin in der Rue St. Sanvenr, den er angenommen hatte— war die Zielscheibe des Witzes der Handlungsreisenden. Er hatte unglücklicherweise ge standen, daß er in Gänsebälgen arbeitete, und das war für die Weinreisenden ein unerschöpflicher Vorwand für Scherze der verwegensten Art. Jacotin ertrug sie mit der aller- friedlichsten Miene und versäumte darum noch keinen Bisse» Degrange und Möhn saßen in sich versunken da und waren voller Sorgen. Mehu, der den Wein von Saumur nach seinem Geschmack fand, ertrug sein Schicksal in Geduld aber Degrange war sehr verdrossen. Er kam nicht vorwärts und sah auch nicht, wann er vorwärts kommen würde er hatte LouiS Rocherenil, er hatte Jnliette Lefran?ois überwacht; er überwachte Mehu. Louis Rocherenil führte das denkbar regel» mäßigste Leben. Er ging wenig aus, wenn er nicht seine Mutler nach der„Heimsuchung" führte; nichts in seinem Be nehmen schien geheimnißvoll. Er sah keine verdächtige Person. Jnliette Lefranyois bot ans den ersten Blick mehr, und Degrange hatte einige Hoffnung geschöpft, aber er hatte nichts aus dem Mädchen herausholen können. Was Mehu betraf, so kümmerte er sich um Degrange so viel wie um eine leere Flasche. Jeden Morgen schlürfte er 2—3 Dutzend Austern und spülte sie mit einer Flasche Saumnr hinunter. Am Tage nahm er im Cafe der Offiziere eine unendliche Menge kleiner Gläser Liqueur zu sich. Am Abend lief er den Mädchen in der Rue des Arönes und der Rue Corne-de-Bouc nach. Der Agent Nr. 7 hatte ganz richtig behauptet, daß er ein lasterhafter Mensch wäre. Möhn hatte die Situation mit einem Blick beurtheilt. Die Nachrichten des KriegsnnnisteriumS waren ebenso genau wie die der Gcneralpolizei. Die Zensur der geheimen Ver- einignng der„blauen Brüder", der ehemaligen Philadelphen. d. h. der oberste Rath derselben tagte in Poitiers und plante von dort ans ein Unternehmen. Die Berichte der beiden Agenten, die Zutritt erlangt hatten, der eine in der Centurie von Paris , in der Zivilsektion, der andere in der Militärsektion, stimmten vollkommen überein. Aber da diese Agenten in der Ver- einignng nur einen sehr nntergeordnctcn Rang einnahmen und zwar den allerniedrigsten, hatten sie nichts weiter sage» können. Sie wußten nur, daß die Befehle von Poitiers a»S an die Führer der Centurie gelangten und daß die Vereinigung sich aus etwas vorbereitete. Der Herzog von Feltre , der Kriegsminister, welcher sich aus das äusterste bemühte, die Unfähigkeit des Herzogs von Rovigo als Polizeiminister nachzuweisen, hatte Möhn nach Poitiers geschickt. Gleichzeitig waren Agenten, ehemalige Militärs, in solche Regimenter gesteckt worden, von denen man argwöhnte, daß sie zahlreiche Anhänger der„blauen Brüder" besäßen. Mehu hatte begriffen, daß er mit den ge- ivöhnlichen Mitteln nichts erreichen würde. Er war ent- schloffen, alleS auf eine Karte zu setzen und suchte nun eine Möglichkeit, um bis zu Pierre Rocherenil zu gelangen, ohne sein Mißtranen zu erregen. Als Garnison waren in Poitiers nur eine Kompagnie von Veteranen und eine Abtheilung eines Kavallerieregiments. Möhn hatte einen Veleranenoffizier, der ihm als Schlcchtgestnnter be- zeichnet worden war, ans die Probe gestellt, aber dieser war nicht in die Falle gegangen. Nun halte Mehu eine fixe Idee, und zwar die, aus natürlich erscheinende Weise in die „Heimsuchung" einzudringen. Inzwischen führte er ein lustiges Leben und rechnete im übrigen ans Degrange, um das Wild auszuheben, wenn es in Poitiers welches gab. Er be- trachtete Degrange wie einen Spürhund, und sein Blick folgte ihm unablässig auf seinen Kreuz- und Qnersprniigen, den Moment erspähend, in dem er still stehen würde. Degrange überwachte Möhn, Möhn überwachte Degrange, und ihre Ge- hälter gingen dabei weiter. Vater Jacotin fühlte sich glücklich wie ein Fisch im Wasser. Er hatte neue Anweisungen von Fonche bekominen, und diese Instruktionen waren dahin zusammenzusassen, daß er fort- fahren sollte, den Agenten des Kriegsmiuistcriums und der Generalpolizei in inöglichster Nähe zu folgen. ihnen Steine in den Weg zu rollen und nichts zu vcrsnuinen, um sie an einem Erfolg zu hindern. Jacotin war wie im Himmel, er erreichte das Ziel seines Lebens; seine Geschicke erfüllten sich, er sollte endlich in Verschwörungen eingreisen und selbst Polizei spielen. Schon war er mit stillem Behagen Zeuge von dem Miß- geschick Mehu's und Dcgrange's, die inuner ins Leere griffen. „Der berühmte Degrange," dachte er bei sich,„ist bei der ersten armseligen Gelegenheit, da er es mit zwei etwas ent« schlossenen Männern und einem kleinen verschlagenen Weibe zu thun hat. mit seinem Latein zu Ende. Ja, suche, mein Freundchen, suche jetzt! Ach, Du glaubst, daß die Polizei alles weiß, alles sieht und alles hört! Nun, versuche doch nur, die„blauen Brüder" in Poitiers zu ent- decken, da Du sicher bist, daß sie hier sind. Ach, D« sagtest ja, daß ich Malet am Verlassen des Krankenhauses hätte hindern sollen! Du Einfaltspinsel, der ein richtiger Polizist sein will und nicht ahnt, daß wir jedesmal, wenn nicht ein Verräther. ein Trunkenbold oder ein Weib uns die Arbeit erleichtert, ohnmächtig sind. Suche, Degrange. suche!— Mit Mehu liegt die Sache anders. Der treibt sich zu viel in der Stadt herum, trinkt zu viel, hält sich zu viel bei den Frauen« zimmern auf, giebt sich zu sehr das Ansehen eines leichtsinnigen, ausschweifenden Menschen, um nicht einen Plan zu verfolgen. Ich habe in jedem Falle gut daran gelha», heute Morgen die kleine Jnliette zu benachrichtigen. Sie wird gewiß soviel Verstand haben, um Rochereuil und Georget zu warnen. Während Jacotin, genannt Pipette, sich diesem stillen Monolog überließ, ging das Diner im Hotel des trois-PckierS zu Ende. Die Reisenden erhoben sich von der Tafel und machten sich zum Fortgehen bereit. Aber an der Thür des Speisesaals wurden sie durch den Besitzer deS Hotels aufgehallen. der sie bat, in ein Nebenzimmer einzutreten. Und wen fanden sie in diesem Zimmer? Den Polizeikommiffar Galerne, der sie mit dem nöthigen Ernst aufforderte, ihm ihre Pässe zu zeigen. Die Handlungsreisenden waren damit vollkommen in Ordnung. Es blieben noch Degrange, Jacotin und Mehu. Degrange übergab dem Polizeikommiffar einen Brief, und der Beamte verneigte sich respektvoll mit den Worten:„Ich bitte den Herrn Generalinspektor um Ver» �eihung, allein ich erfülle die Pflichten meines Berufs." Jacotin >atte einen Paß auf den Namen Jean Baptiste Tribot vom Hause Tribot und Sohn, der sich in Geschäften von Paris mch Bordeaux begab. Der Kommissar prüfte das Schriftstück orgsältig und gab es zurück, ohne ein Wort zu sagen. „Und Sie, mein Herr", sagte er, sich an Mehu wendend, .Ihr Paß?" „Ich habe keinen", anlworlele Möhu einfach. „Ihr Name?" „Pavie, Beamter bei den Armeelieferungen." „Sie haben keine Papiere. Können Sie sich durch irgend jemand hier empfehlen lassen?" „Durch niemand." „Nehmen Sie sich in acht. Ich werde gezwungen sein, einen Haftbefehl gegen Sie vollstrecken zu lassen." „Um so schlimmer für Sie; der Herr Kriegsminister wird Sie dafür schön rüffeln," antwortete Mehu in grobem Tone. „Ach, so steht's? Nun wohlan, folgen Sie mir?" Degrange konnte eine lebhafte Regung des Aergers nicht unterdrücken. Jacotin murmelte zwischen den Zähnen: „Ah, Pest! Der Bursche läßt sich extra einsperren!"
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14 (26.10.1897) 210
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