Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 11.
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Sonntag, den 16. Januar.
( Nachdruck verboten.)
Alltagsleute.
Roman von Wilhelm Meyer- Förster . Vielleicht am glücklichsten war des Agenten Mutter. Sie war Zeit ihres Lebens ein unbedeutendes Geschöpf, das des seligen Schweder Tyrannei mit derselben Geduld ertragen hatte, wie jetzt die Herrschaft ihrer Schwägerin. Wenn Albert seine ewigen dummen Streiche gemacht hatte, auf wen anders fiel das zurück als auf fie? Da ihr die Pflicht oblag, den Schweder'schen Haushalt zu führen, so war die Sparsamkeit der Tante Urfache endloser Rämpfe. Petroleum, Fleisch, Kohlen, Seife, Butter, Gänse alles taufte fie nach Ansicht der Tante zu theuer. So tam das alte Geschöpf auf schreckliche Schleich wege, trug in das Haushaltungsbuch falsche Bahlen ein, bemogelte die Tante beim Geldwechseln und log sich in diesem Haushaltskampfe um ihrer Seele Seligkeit. Da die Tante in Rücksicht auf das Magazin sehr elegant gekleidet ging, natür lich in Schwarz, so waren ihre abgelegten Kleider für die Echwägerin noch recht wohl zu gebrauchen. Aber Leute, die stets andrer Menschen Kostüme zu Ende tragen, pflegen nie recht auf festen Füßen zu stehen, werden mit der Zeit schlampig und nach lässig und haben am Leben keine Freude.
Nun träumte die alte Person von Albert's Reichthum, segnete abends im Bett ihren lieben Jungen und die wunder volle Erfindung der Roulettespiele und fab sich im Traume in einem neuen Kleide spazieren gehen; bald war es blau, bald roth, bald schottisch bunt, uur nie schwarz. Das alte verschrumpfte Gesicht lächelte dabei so glücklich wie feit vielen Jahren nicht.
1898.
magazin würde schon aus Selbsterhaltungsgründen jede weitere Unterstützung der drei armen Verwandten abschneiden. Wenigstens hatte die Tante selbst ausdrücklich und wiederholt diese furchtbare Zukunft ihren drei Pfleglingen prophezeit. Ein von Christian zertrümmertes Weinglas oder eine von der Schwägerin besonders miserabel gekochte Suppe brachten es oft dahin, daß die jungfräuliche Tante ihren Wohlthaten ein Ende machen zu wollen erklärte, und da der Kandidat und seine Mutter mithin beständig auf einem Bultan saßen( der Ausdruck„ tanzten" wäre nicht angebracht), so waren beider Nerven in ewiger Angst so gut wie zerrüttet.
Die Tante ging jetzt im Zimmer auf und ab und sagte vielleicht fünfundzwanzig Minuten lang kein Wort. Biss weilen seufzte sie oder stöhute unterdrückt, und sie hatte einige halblaute unartikulirte Laute zur Verfügung, die dem Kans didaten und Frau Schweder jedesmal durch Mark und Bein gingen. Sie trat auch wohl gelegentlich nahe vor die beiden, that als wollte sie sprechen, drehte aber wieder um und setzte ihre Käfigpromenade fort. Kurz und gut, sie brachte es mit dieser Methode dahin, daß ihre Schwägerin nach einiger Zeit in dem schauerlichen Schweigen von neuem ohnmächtig wurde. Das war man aber an dieser halt und energielosen Dame bereits so sehr gewöhnt, daß die Tante das nicht weiter beachtete.
Allem Staunen sette es die Krone auf, als die Tante nicht mit einem Zornausbruch das Schweigen endete, sondern mit der einfachen Frage, wann und in welcher Zeit die Reise nach Nizza zu machen sei.
Die Taute auf Reisen undenkbar! Erkuer, Potsdam , Rathenow und Lübbenau waren bisher die Endpunkte ihrer wenigen Eisenbahnfahrten gewesen, vier Ortschaften, die von Zwei Tage später kam die traurige Depesche, deren der Steichshauptstadt nicht sehr weit entfernt sind. Die Tante Ankunft jeder verständige Leser bereits vorausgesehen hat: nach Nizza , in ein fremdes Land, Nächte und Tage unters Unglaubliches Unglüd. Zwanzigmal Roth hintereinander. ivegs, unter gewöhnlichen Verhältnissen hätte dieser Ges Bitte umgehend zweitausend Frants. Noch alles leicht wieder- dante fast tomisch gewirkt, jetzt erregte er Grauen. Außerdem zugewinnen. Die zweitausend erbitte telegraphisch. Grüße. wer sollte sie begleiten? Denn daß die Tante allein Albert." Nizza nie finden würde, war mehr als gewiß. Ferner ihr Rheuma, die Wärmflasche, die gebratenen Aepfel und das Warmbier mitten in der Nacht! Konnten fremde und täglich wechselnde Friseusen Tante's spärlichen Haarwuchs in Jettchen's wirklich künstlerischer Manier arrangieren? Wer würde ihr die Schuhe anziehen, wenn das Rheuma im rechten Arm wieder kommen sollte? Ferner der Zoll an der Grenze mit Kofferauspacken und riesiger Heßze? Dann Nizza , die französische Sprache und die vielen Gauner! Nein, es war unmöglich.
Als diese schauerliche Nachricht eintraf, befand sich die Tante gerade im Magazin, wo Elschen Brandenburg, deren gute Mama gestern gestorben war, reizende schwarze Kleidchen anprobirt wurden. Die Kleine sah darin sehr niedlich aus, drehte sich vor dem großen schwarz eingerahmten Spiegel wie ein Bachstelzchen und brachte durch ihr komisches Wesen die Gouvernante ub sämmtliche Ladenfräulein in die munterste Stimmung. Sogar die Tante lächelte milde. Auch die arme Mama hätte vielleicht gelächelt, wenn sie ihr blondes Töchterchen in der Masterade vou Echwarz hätte sehen können, aber andrerseits hätte ihr Elschens Spaßhaftigkeit doch wohl einen Stich ins Herz gegeben. Es war ein recht wehmüthiger Scherz.
Und die Tante that es doch. Das ganze Magazin tam in Aufregung, und maßlos war die Ueberraschung, als es zum ersten Male hieß, Jettchen werde wahrscheinlich als ReiseJezt erschien eilenden Laufes das ewig abgehegte Fettchen, begleiterin befohlen werden. Jettchen auf Reisen, in der ein hier bereits mehrfach zitivtes Waisenkind, das im Magazin Schweiz , in Nizza , in Hotels-den Danten im Magazin mit Kleiderausklopfen, geistlichen Büchern, mäßiger Nahrung schwindelte. und häufigen Knüffen als Lehrling herangebildet wurde. Sie Am Abend vor der Abreise-am dritten Tage nach der war der niedlichste und munterste Backfisch von sechszehn Unglücksdepesche- war die Tante in seltsam feierlicher Jahren, den man sich nur denken fonnte; da aber sämmtliche Stimmung. Von Albert und ihrem Ingrinim auf diesen ges weibliche Angehörige und Zugehörige des Magazins wesentlich wiffenlosen Agenten sprach sie kein Wort. Mit ihrer älter waren und durchweg auch häßlicher, so führte Jettchen Schwägerin redete sie liebevoll oder wenigstens gütig wie nie, seit zwei Jahren ein wenig beneidenswerthes Leben. Da sie und als Christian einen legten Versuch machte, sie von dieser ferner nicht alle Knüffe ruhig hinnahm, so galt fie als unbankbar und boshaft, und in der That machte es dem jungen Wesen Spaß, wenn einer ihrer Peinigerinnen ein Aergerniß widerfuhr.
Reise abzubringen, lächelte sie schwach. Sie hatte sogar Todess ahnungen und vermuthete, daß sie nicht lebend zurückkommen werde. Die nächstliegende Frage, weshalb überhaupt denn eigentlich diese Reise vor sich gehen sollte oder müsse, wurde Sie meldete also athemlos, daß eine neue Depesche da sei, allerseits schen vermieden. Vielleicht weil sie Albert zurüd daß der Herr Kandidat weine und Frau Schweder in Ohn- holen und retten wollte, wahrscheinlicher in dem Wunsche, die macht liege, die Tante möchte sofort heraufkommen. Dabei verlorenen zweitausend Mark zurückzugewinnen, am allers leuchtete ihr das Vergnügen so deutlich aus den Augen, daß wahrscheinlichsten aber, weil sie in unmäßiger Weise vom die unglückliche Tante nur durch die Heiligkeit des Ortes und Spielteufel besessen war. Die alte Dame hatte Zeit ihres die Anwesenheit von Elschen Brandenburg an einer exempla- Lebens in Sachen der Leidenschaften wenig kennen gelernt. rischen Züchtigung dieses schadenfrohen Geschöpfes fich ver- Die Liebe mit allen Seligkeiten war ihr ein verschlossenes hindert sah. Buch geblieben, Bier, Wein und Spirituosen liebte sie nicht; so hatte sich in ihrem Leidenschaftsmagazin eine Fülle ungebrauchter Explosionsstoffe angehäuft, die jetzt bei der kräftigen Anregung durch des Agenten Nizzaer Feldzug zur Entladung Der Kandidat und seine arme Mutter waren sich über drängten. Wie eine Flamme nach langem, verborgenem Glimmen die Situation durchaus klar. Dem Faß mußte mit dieser plöglich mit elementarer Gewalt hervorbricht, so ist es mit Katastrophe der Boden ausgeschlagen sein, und das Trauer- leiner verspäteten Leidenschaft, und wenn das Alter der bes
Sie schritt würdevoll hinaus, setzte sich auf dem langen Korridor in Trab und hatte eine Minute später die vernichtende Depesche gelesen.