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wantt, Go faß fie in wahnsinniger Angst und Aufregung die Straßen Nacht hindurch wach, allein, verlassen, in fremdem Lande, vom Theater, die armseligen; vielleicht in Italien , vielleicht in Frankreich , vielleicht in der reuse", Schweiz , sie hatte keine Ahnung wo. Plöglich ging die Lampe aus. Noch einmal rüttelte sie wie verzweifelt an Jettchen herum, stieß, bat, flehte, weinte, hielt sie fest umarmt und sank schließ lich außer sich zusammen.
Es war eine Reise wie eine Höllenfahrt, und als Nizza tam und der Agent die Tante empfing, war selbst er über ihr Aussehen einigermaßen erschrocken. Man legte sie in ein Bett, wobei alle Menschen in ganz unverständlicher Sprache redeten, und dann endlich schlief die Aermste ein.
( Fortsegung folgt.)
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bis fie der Tod erlöst. Die Damen und die schreckhafte Bierdie als halbes Kind schon nach den Wällen schleichen mußte, um ihren Leib zu verkaufen, die später ihrem „ Alphons"( Louis) als Lockvogel dient, um Männer zu berauben, und die endlich den Kopf ihres Alphons unter der Guillotine fallen sieht: aus all diesen Tragödien aus dem Lumpenproletariat tönt ein frasser, bitter- greller Klang; und vielleicht reiner, als in diesen tragisch- angehauchten Szenen, fommt die künstlerische Persönlichkeit der Guilbert in ihren zynisch luftigen Sachen zum Durchbruch, so fehr Einzelnes in der Pierreuse durch Wahrhaftigkeit erschüttert. Blu" fann ich mit meiner persönlichen Empfindung der Guilbert Auf das Gebiet der düsteren Tragit, wie in der Ballade„ La nicht mehr folgen. So berühmt ihr Vortrag von„ La Glu" ist, für mich deckt sich da Können und Wollen nicht. Zu sehr mit Satire erfüllt ist das Wesen der Guilbert, als daß sie den naiven Volkston der Ballade erschöpfte. Die Sage von dem Herzen, das der Sohn aus dem Leib der Mutter reißt, das zur Erde rollt und, als es der Sohn fassen will, wimmert: haft Du Dir wehgethan, mein Kind, kommt in der Volksliteratur in mannigfachen Variationen vor. Ueberall versinnbildlicht sie die unendlich erbarAls seinerzeit über die Chanson Sängerin Frau Judic mungsvolle Mutterliebe. Die echte, tiefe Wirkung verspürte ich für an dieser Stelle gesprochen wurde, war auch von Frau Guilbert die Rede. Was Frau Judic für für ihre eigenthümliche Kunst in der Zeit des dritten Napoleon und in der Zeit Offenbachscher Mufit, Offenbach 'schen Uebermuths wurde, das ist Yvette Guilbert heute: die markanteste Liedersängerin des modernen Baris. Man lebte damals in lustiger Frivolität; man sagte: leben und leben lassen, nach uns komme das Verderben! Und so war denn das Genre Judic lustig, elegant, und die Frivolität wurde mit anscheinender Unschuldsmiene vorgetragen. Das erhöhte die " Pifanterie".
Duette Guilberk
trat Sonntag mittags im Apollotheater vor einem kleinen Kreis geladener Gäste zum ersten Male auf. Bis zum 2. Februar weilt die Gilbert als Gaft des Apollotheaters in Berlin .
Jm tief untünstlerischen Berlin haben wir nichts, womit sich die spezifische Chanson- Kunst der alten Kulturstadt Paris vergleichen ließe. Wir haben nur den Gassenhauer und der ist unsagbar roh oder un fagbar läppisch; jedenfalls kann er nicht als lebendiger Ausbruck einer Zeitstimmung gelten, wie sie in der Seele großstädtischer Bevölkerung sich darstellt. Aus den niedersten Voltsschichten heraus, aus dem, was man die Hefe und den Abhub der Großstadt" nennt, ringt fich in Paris noch das Bemühen los, das Erlebte künstlerisch zu gestalten. Das sind Ergebnisse alter Erziehung. Oft ist es ein Stammeln, was so hervorgebracht wird; kommt glückliche Gelegen heit und starke Begabung dazu, so gewinnt es mitunter echte Kunstform; und da in Paris , dant alter Kulturtradition, nicht jene Pedanterie vorherrscht, die bei jedem Kunsterzeugniß nach dem Baß fragt und dem Ding anriecht, ob es heilig ist oder profan, so wird auch dies niedere Genre außerordentlich geschäßt, wenn es nur vollendet ist.
Natürlich darf man nicht mit deutscher Hausfrauenmoral, was für jede Kunst das Albernste wäre, an das Genre der Chansons herantreten. Mit der Koketterie und frivolen Grazie der rundlichen Judic hat die schlanke Yvette Guilbert wenig gemein. Sie ist in ihrer Art Vertreterin einer ernsteren Zeit. Der übermüthig spielerische Zug ist gewichen; etwas Herberes, ja Böseres ist an seine Stelle getreten: der satyrische, der freche Zug, der sich bis zu herausforderndem Zynismus steigert.
Man sieht es der Frau Guilbert an: Hier steht ein Weib, das viel erlebt und geistig energisch gearbeitet hat. Frauengesichter, auf denen derlei zu lesen ist, find nicht schön oder hübsch, im glatt gefälligen Sinne. Unter der freien, von rothem haar umrahmten Stirn ein paar stechende Augen, dazu ein blaffes Gesicht mit einem leidenden, manchmal bitter trozigen Ausdruck um den Mund. So markant ist der satirische Grundton in der Weise von Yvette Guilbert , daß selbst Schelmenlieder des behaglich- gesunden, lebens frohen Béranger bei ihr wie mit satirisch- spöttelnder Brühe übergoffen erscheinen. Ob sie über Studenten schwatt, ob sie den Monolog von Morih Donnay über alte Herren" und Flaneure der Großstadt vorträgt, immer bricht die zynische Frechheit durch, manchmal trifft ein Wort, wirkt eine unscheinbare Grimasse wie ein Peitschenhieb. Der Begriff Frechheit ist hier nicht im engen Sinn der Botenhaftigkeit oder gar der üblichen Brettelfängerinnen- Manier zu verstehen. Die Lüsternheit der dummen Kerle tommt bei Frau Guilbert nicht auf ihre Rechnung; der Zynismus ist, in rein geistigem Sinne gebraucht, das Wesen ihrer fünstlerischen Natur. Sonst erreicht sie ihr äußerstes Raffinement, wie jede Meisterin, mit bescheidenen Mitteln. Im Lied, das nicht dramatisch bewegt ist, macht fie faum eine Handbewegung. Alle geistige Bewegung ist auf dem Gesicht konzentrirt.
von
mein Theil beim Vortrag dieser Ballade nicht.
Für 10 Abende erhält Frau Guilbert ein Honorar von 30000 M. daß nicht gerade diejenigen, die eine Künstlerschaft unbefangen Wie immer in solchen Fällen ist dann der Eintrittspreis so hoch, würdigen können, in stärkerer Zahl Frau Guilbert werden fehen fönnen. Den Lüfternen, denen doch mit Stücken wie„ Endlich allein" oder mit den entkleideten Sängerinnen, die mit den Armen schlenkern können und Kußhändchen werfen, besser gedient wäre, und die Moralischen, die nach dem Parfum der Albernheit riechen und sich über die Schamlosigkeil" gerne entrüften, werden die Mehrheit -ff. haben; und das ist schade.
Kleines Feuilleton.
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h. d. Das erwachende Berlin . Im Often. Em Ende der Straße ragt ein Gebäude breit und prozig wie ein Schloß. Ueber ihm recken sich schlanke Schornsteine in den schwerdunklen Himmel. Rauchwolfen entquillen ihnen, die von der feuchten nebeligen Luft zu Boden gedrückt werden und sich in die Atmosphäre der Straßen drängen es wird schon wieder angefeuert zur Tagesarbeit. Die elektrischen Monde flammen auf, aus den gleichmäßigen, mit einem Eisengitter durchzogenen Fensterreihen der nackten, kahlen Mauern leuchtet das stolze Licht in die dunkle Nacht hinaus. Von allen Seiten strömen Männer und Frauen herbei. Es ist, wie wenn sie nicht rasch genug als ob sie au in das hohe, hellerleuchtete Schloß tommen fönnten einem Feste, zum Tanze eilten. Doch das Feft, das sie in dem Schloß feiern wollen, ist tein freiwilliges, es ist ein jammervolles, zerreibendes und zermalmendes Fest: die Arbeit. Ein gelles, weithin schallendes Glockengeläute läßt sie rascher schreiten. Noch wenige Minuten, die Fabrikthore werden geschlossen und ein Theil ihres fargen Verdienstes geht ihnen verloren. Die Straße, die noch vor einer Viertelstunde in nächtlicher Stille lag, wird von dem Ge flapper der vielen, hastenden Schritte durchdrungen. In der Nähe der Fabrit gehen die Gestalten langsamer, denn vor dem Thore stauen sich die heftig Andrängenden. Hier, im enthüllenden Licht der elektrischen Kugeln kann man erkennen, daß es keine festlich gekleideten Menschen sind, die es so eilig haben, in die tommen. Nur wenige der Mädchen tragen einen Hut. Die meisten haben nur ein Tuch um die Schultern, das fie eng anziehen, denn es feuchtet, feiner, nasser Staub liegt in der Luft und durchdringt die dünnen Kleider. Die Männer haben die Kragen ihrer alten Röcke hochgeschlagen und die zerknitterten Hüte ins Gesicht gedrückt. Sie haben feinen Schirm, um sich vor dem Regen schüßen zu können, doch birgt sie ihr abgefchabter Mantel besser vor der Feuchtigkeit, als das Tuch die Frauen, denen die flüchtig hochgesteckten Haare getränkt und zerzaust werden. Nirgends sieht man eine Röthe in den Gesichtern. Alle find bleich und grau. Aus ihren von Arbeit und schlechter Luft gerötheten Augen blicken fie finster und trübe. Die jungen, fnabenhaften Burschen, die zwischen den zittrigen Greisen gehen, sehen ebenso hohlwangig und greisenhaft vor sich hin, wie wenn sie schon ein Leben voll Sorgen und Gram durchkämpft hätten.
grell erleuchteten Galebie es
Vor dem Hausflur eines der gradlinigen Hausriesen, die die Straße umstehen, lehnen mehrere junge Burschen. Sie rauchen Sie Zigaretten und rufen die vorübereilenden Mädchen an. Zur Bitterfeit, zur Schelmen - Satire, zum Zynismus gefellt sich find arbeitslos und haben es heute nicht nöthig, nach der Fabrik noch ein Beitlang: ein sozial- bewegter Ton, von dem das Lied zu haften. Ehe sie ausgehen auf die Jagd nach Arbeit, erzählen sie der Judic keine Spur fannte. Frau Guilbert schrieb neulich einander einiges. Fort und fort treten neben ihnen aus der offenen einer Berliner Freundin einen Brief, worin fie viel Thür Männer und Frauen, die nach der Arbeitsstätte eilen. dem Mitleid mit der Sie ärmsten Kreatur sprach. Auch schmalbrüftige, magere Kinder kommen heraus. Der fentimentale Brief wurde veröffentlicht; man muß ihn fragen ein Körbchen oder eine Tasche am Arm, und einen allerdings nicht zu ernst nehmen. Ihrer Kunft sind die Szenen aus braunen Topf in der Hand. Mit gebeugtem Kopf und zufammendem Lumpenproletariat willkommen, weil ihre Kunst vom unerschrockenen gezogenen Gliedern eilen sie nach dem dürftig erleuchteten Laden, Cynismus lebt, weil ihre Zeit gewiffe Dinge mit unerbittlich natura- der an dem Ende der Häuserreihe neben einem Bauzaun liegt, aus listischer Schärfe bloßlegt; nicht weil sie sozialistisches Mitleid wecken dem die rothe Laterne wie eine offene Wunde leuchtet. will. Mit einer Art innerer Wollust wirst sich diese Kunst auf das Zraurigft- freche, was es in unserer Welt giebt. Die arme Verlorene, die verkommen als alte Säuferin, ein Kindergefpött, durch die
Ueber den glitschigen, zertretenen Boden am Neubau kommt eine alte Frau. Mit schlotternden Beinen steigt sie über die Unebenheiten hinweg. Ihr spärliches Haar streicht sie ab und zu mit zitternden