Unterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 18. t
18]
Mittwoch, den 26. Januar.
( Nachdruck verboten.)
Alltagsleute.
Roman von Wilhelm Meyer- Förster . Jettchen hingegen war freuzfidel und wurde von dem Agenten zu Weintrauben und einer Flasche Rothen eingeladen. Er hatte noch einen Freund bei sich, Franz Melnik aus Hamburg , einen reizenden, steinreichen, jungen Mann, der 27 000 Mark verspielt und soeben um neues Geld depeschirt hatte. Es war das ein lieber, kleiner Kerl, der vor sechs Wochen mündig geworden war und mit Hilfe einer ererbten Million die Bank von Monaco zu sprengen beabsichtigte. Der Agent war natürlich auf diese Bekanntschaft stolz, und da die beiden zusammen zwanzigmal der Reihe nach auf Roth verloren hatten, waren sie gute Freunde geworden.
1898.
Jettchen begann leise zu schluchzen, dann immer lanter. Unsere Wege, meine liebe Henriette," fuhr die Tante uns erbittlich fort, trennen sich. Die Gründe erörtere ich hier nicht. Versuche es in Berlin , Dir mit dem, was Du in meinem Hause und Magazin gelernt hast, eine neue Thätigkeit zu fuchen, und ich will von Herzen wünschen, daß Deinen recht mangelhaften Renutnissen das gelingt. Nun wollen wir, mein lieber Albert, etwas durch den Garten gehen." Herr Franz Melnik saß bei allem dem ganz stumm und dumm und verständnißlos. Aber Jettchen's immer glühendere Thränen griffen ihm gewaltig ans Herz.
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Verzeihen Sie," sagte er endlich zu der Tante, aber das junge Mädchen fann doch nicht ganz allein nach Berlin ?" " Ja, fie fann," sagte die Tante und stand auf, wobei erwähnt werden muß, daß sie keine Ahnung hatte, mit welcher Standesperson wenigstens in Hinsicht auf Geldwerth- sie es in diesem jungen Manne zu thun hatte.
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" Ich bitte um Entschuldigung," nahm der noch einmal das Wort, aber ich reise selbst in einigen Tagen nach Deutschland zurück und könnte die Dame dann mit Ihrer Erlaubniß begleiten."
Sie faßen in einer wunderhübschen Weinlaube, und der Agent erörterte mittels Wachsstreichhölzchen sein neues System. Der Hamburger war aber unaufmerksam und beschäftigte sich mehr mit Jettchen, in deren Munterfeit und Niedlichkeit seine eigene Jugend sich sofort verliebte. Als die Weintrauben aufgegessen waren, bestellte er Austern und Hammelkotelettes, nachher Das Wort„ Dame" in Verbindung mit Jettchen hatte Fisch, Champagner und allerlei Delikatessen, und er war fabel- auf die Tante dieselbe Wirkung, wie ein rothes Tuch auf die haft vergnügt, Jettchen die Manier zu erklären, in der man Bestien in der spanischen Arena. Sie vergaß Taktif, Nuhe, diese Leckerbissen den Regeln der Kunst gemäß verzehre. Dieses Höflichkeit, Lebensart und überlegene Bornehmheit und schoß Jettchen war dabei reizend tolpatschig und komisch. Sie lachte in blindem Zorne geradeaus. immer so laut und lustig, daß die Engländer auf der Veranda Eine sechsunddreißig Stunden aufgespeicherte Wuth entlud fich ärgerten. Schließlich sangen alle drei ein munteres Lied, sich in hastenden, überstürzten, planlosen Worten, und in zwei, und natürlich tam just in diesem Moment die Tante durch drei Minuten wußte Herr Melnik, daß er mit dem verden Garten. worfensten Geschöpfe Lieder gesungen und Wein getrunken
Der Schlaf hatte sie erquickt und gestärkt und als sie nun hatte. Woher dieses Jettchen stamme, nämlich aus nichts, aufgestanden war und aus dem Fenster auf das gesegnete was sie im bürgerlichen Leben sei, nichts, wie sie die Tante Land gesehen hatte, zog ein Frieden über ihr gequältes Herz. unterwegs mißhandelt und daß sie auf die Beachtung irgend Es war unverantwortlich, daß Jettchen nicht anwesend war, eines Menschen so wenig Anspruch habe wie Bettler und Lands um ihr bei der Toilette zu helfen, aber die Tante hatte Mo- ftreicher. mente von seltener Güte und Verzeihungskraft. So jetzt.
" Nein," sagte sie zu sich selbst, ich will diesem Mädchen wenigstens dessentwegen nicht zürnen. Sie wird au's Meer gelaufen sein, um ihre Füße nach den dreißig Stunden Fahrt zu vertreten. Oder in die Weinberge, um Blumen zu pflücken. Ich will ihr diese paar legten guten Tage nicht gar zu sehr verderbeu, denn in Berlin , das schwöre ich, geht sie, sobald wir heimfompien, aus dem Hause. Sie hat sich zu niederträchtig benommen."
Sie flingelte, worauf ein nettes Hausmädchen erschien und ihr bei der Toilette half. Dasselbe sprach französisch, italienisch und englisch und hielt die Tante für eine Ruffin. Sie verständigten sich indessen pantomimisch ganz gut, denn das Mädchen hatte darin eine große Gewandtheit.
Unbeschreiblich war der Tante Aufregung, als sie mit ihrem rheumatischen Beine über den Riesweg humpelnd, des singenden und zechenden Trios anfichtig wurde. Jettchen saß in einem zierlich geflochtenen Korbstuhl wie feine Lady, und der Agent schlug just auf den Tisch, hob das Champagnerglas und brachte auf dieses famose, fleine, muntere Jettchen einen Toaft aus. Kurz, aber begeistert. Alle drei stießen an und lachten.
Jetzt fiel vom Eingang der Laube her ein Schatten über den sonnenbeglänzten Tisch, man wandte sich um: die Tante! Sie war blaß, aber gefaßt. Der Neffe stellte sie Herrn Franz Meluit Melnit u. Co., Hamburg- Altona - vor, und brachte dienstfertig einen Stuhl.
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Kellner! Ein Glas!"
" Für mich, wenn ich bitten darf, nichts dergleichen," sagte die würdige Dame. Ich möchte nur diese eigenthüm liche Gelegenheit festhalten, um die Dinge zwischen mir und Henriette zu Ende zu bringen. Du wirst die Güte haben, Albert, ihr heute Abend noch ein Billet nach Berlin zu kaufen und sie in den Zug zu besorgen."
Alle drei saßen wie betäubt. Abreisen?"
"
Ja, Henriette, Du reisest heim. Das soll meinerseits tein Mißtrauensvotum sein, sondern nur Ehrlichkeit. Ich habe unrecht gethan, ein junges Mädchen Deines Standes in die Welt hinaus zu führen und ihr Verhältnisse zu zeigen, die nicht für sie paffen."
Sie war athemlos, feuchte und sank auf dem Stuhl zus sammen. Es folgte eine düstere Pause, und der kleine, wackere Franz Melnik war von dieser Anklage so vor den Rogf geschlagen, daß er wirklich glaubte, dieses entzückende junge Mädchen sei eine Art Ungeheuer.
Nun ganz leise begann Jettchen zu sprechen. Nein, sie habe nicht das Recht, je wieder fröhlich und glücklich zu sein. Nur eines wisse sie, daß die Tante ihr allzuhart begegnet sei. Immer. Sie habe keine Freude gehabt in diesen trübseligen Jahren, und wenn sie irgendwann gut und lieb sein wollte, trieb man sie mit Stößen zurück. Sie muß an das Waisen haus denken und die schwere Kinderzeit, an das dunkle Trauermagazin und die harten Worte, die alle immer nur sie trafen. Sie will fort, ja. Wandern so weit der Himmel blau ist und sich dann weinend niederlegen und sterben.
Der Agent räusperte sich, als ob ihm etwas in der Rehle ftecke, und der kleine Hamburger saß mit großen, starren Augen und sah im Geiste dieses herrliche Mädchen am Wegrain seine Seele ausathmen.
Jettchen stand schweigend auf und ging.
Da raffte er sich empor und eilte ihr nach.
" Ich stehe Ihnen bei, Fräulein, in jeder Gefahr, das schwöre ich."
Jettchen's Lippen zuckten, und sie war über sich selbst jetzt namenlos gerührt. Wahrhaftig nicht ohne Grund, denn was ihr bevorstand und sie tannte die Tante war ungefähr das ärgste. Eine große und wahre Verzweiflung tam über sie, und an eine Palme gelehnt, fing fie an bitter zu weinen.
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Der kleine Hamburger war außer sich. Er hatte ein dummes, weiches, sentimentales Herz, und er beschwor Jettchen in allen Tönen, sich zu beruhigen. Auf die Tante hatte er eine Riefen wuth und gelobte, fie coram publico zur Rede stellen zu wollen. Das war alles Balsam für Jettchen. Sie trocknete mit einem fleinen, feinen Tuch, das ihr die Tante geliehen hatte, die Angen und sagte, nun stehe sie in einem fremden Lande einsamer als die verlassenste Waise.
Natürlich entgeguete Herr Melnit, das Gegentheil sei der Fall, und seine Hand werde Jettchen sicher durch die Stürme steuern.
Sie gingen den ganzen Tag zusammen spazieren, sahen