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Sie hatte die Ueberhand gewonnen, denn unmöglich konnte nach dieser sanften und edlen Rede der Neffe ihr einen Stich beibringen. So klang es denn förmlich albern und schuljungenmäßig, als er den wahren Thatbestand darlegte und von den fünf Millionen berichtete. Es war das seit dem verhängnißvollen Nachmittag in Nizza vielleicht der härtefte Schlag, der die Tante traf; da er ihr aber schonend beigebracht wurde, überstand sie ihn und fand sogar die Kraft, sich zu einigen milden Worten aufzuraffen.
Sie wolle hoffen, daß Kreiser aus diesem Glücksfalle Nuzen und Besserung ziehen möge, obwohl ihr das zu glauben schwer falle. Was Neunchen betreffe, so sei die jedenfalls die angenehmste aus der Kreiser'schen Familie, und es sei ja immerhin möglich, daß Albert mit dem einfachen und unverbildeten Mädchen glücklich würde.
( Fortseßung folgt.)
Ein Tag in Kanton.
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er endlich
Dann wurde sie plöglich weicher:" Ich bitte Dich, Albert, dickwattirten himmelblauen Rock, der auf ein Paar apfelthue wenigstens das nicht. Seit Christians unwürdigem Be grüne Hosen herabwallt; lettere find in die weißen Socken ge nehmen mir gegenüber habe ich mehr als sonst an Dich ge- fteckt, so daß kein Luftzug von unten hinauf dringen kann. Der dacht. Du hast genug gethan, um meine Liebe für Dich in Oberleib des Herrn Vo- Chon ist durch ein halbes Dußend verZorn und Abneigung zu verwandeln, aber Du stehst mir schieden farbiger Ueberröcke geschützt, deren Aermel sich am Handgelent zurückschlagen. Hat aber Herr Vo- Chon keine Beschäftigung immer wieder nahe als der Sohn meines armen geliebten für seine werthe Hand, so zieht er sie ins Innere der Aermel zurück Bruders." und flappt lettere um, so daß auch hier kein Lüftchen einHier fing die Mama an zu schluchzen, und Albert, erstaunt bringen kann. Von der langen Wanderung bekommt der Reisende über diesen nie gehörten Ton, begann etwas verlegen auf Appetit, und sein Führer bringt ihn zu einem Speisehaus. Die Ges seinen Schnurrbart zu beißen. Die Tante aber, durch die richte, die man hier haben kann, find am Schaufenster ausgestellt: starke Wirkung ihrer schönen Worte selbst beeinflußt, fuhr noch Schwalbennester, faule Gier, getrocknete Fische, eingemachte Regenmilder und wehmüthiger fort:" Ich will alles vergessen sein würmer, Ratten am Spieß gebraten, aber auch warmes Fleisch mit weißen Nudeln und ein Ragout von Haifischflossen; ferner Lassen. Ich werde alt, ich bedarf einer Stüße. Komm zu mir rothes Backwerk, blaue und grüne Zuckerwaaren und Waffergläser zeige Dich großen Verhältnissen gegenüber als Mann und mit Algen von allen Farben. Gine blankgescheuerte Treppe führt in Kaufmann und Du wirst es nicht zu bereuen haben." den ersten Stock, von wo das verlockende Geräusch der„ Gßstäbchen" heruntertönt. Wie nun aber der hungrige Reisende den Speisesaal betreten will, erklärt ihm der Gastwirth mit vieler Höflichkeit: Bitte, mein Herr, für Europäer wird hier nicht servirt." Und der blamirte Europäer" " Ich habe die Ehre."- Und hat nun das Bergnügen, mit hungrigem Magen den langen Weg 3it seinem Schiff Schiff zurückzumachen, 100 feinen Appetit mit englischem Roastbeef und Pudding stillen kann. Gleich nach der Mahlzeit wagt sich der Reisende aufs neue in das unendliche Gewirr der Straßen und Gäßchen. Kein freier Platz, fein Boulevard, fein imposanter Bau ist zu finden, der als Richtpunkt dienen könnte. Ohne den Führer ist jeder Fremde rettungslos in diesem Häuserlabyrinth verloren. Die Straßen find jetzt sehr belebt, aber die Menge macht einen unheimlichen Eindruck. Schablone geformt, als wenn die Leute in der Fabrik gegoffen Es fehlen alle Individualitäten. Alles ist ganz und gar nach einer wären. Alle haben die nämlichen schwarzen Augen, die nämlichen schwarzen Haare, vorn rasirt, hinten zum Zopf geflochten, die nämliche Kleidung, den nämlichen Regenschirm von geöltem Papier. Nur zwischen Reichen und Armen ist allerdings auch hier ein deutlicher Unterschied. Und so sind es vom Norden zum Süden, vom Often zum Westen des Riesenreiches vierhundert Millionen Menschen, alle genau nach demselben Muster, fein einziger mit blondem Haar, kein einziger ohne 3opf! Die Leute auf den Straßen Im Januarheft der„ Revue de Paris" findet sich ein kleiner werfen dem Europäer recht unfreundliche Blicke zu. Auch die Musit, Reisebericht aus China , der angesichts der deutsch - chinesischen Politik welche die Kommis in den Läden machen, wenn sie feine Kunden von allgemeinem Interesse ist. Um nur hundert Schritte in Kanton zu bedienen haben, ist für die Ohren des Europäers kein Trost; sie zu machen so erzählt der französische Reisende ist ein Führer erinnert ihn vielmehr an das bekannte Kayenkonzert, das Eteine unumgänglich nothwendig. Als solcher diente ihm ein„ Einkäufer" erweichen, Menschen rasend machen kann. Nachdem der Reisende den Porzellanverkäufer aufgesucht in der Faktorei eines französischen Rheders, Herr Cho- Bing, noch den Theehändler und welcher das pijjin english " verstand, in welchem die hat, besteigt er zum Schluß eine Pagode außerhalb der Stadt. Die Handelsgeschäfte an dieser Küste abgemacht werden. Pferde und Vorstadt, welche er bei dieser Gelegenheit passirt, befchreibt er als Wagen giebt es in Kanton nicht. Wer nicht zu Fuß gehen will, ist eine einzige Lumpensammler- Kloate voll unsäglichem Schmutz und auf die wunderlich geformten aber praktischen Tragstühle angewiesen. pestilenzialischem Gestank. Der Führer setzt sich zu dem Reisenden, und auf den Schultern von Den Gesammteindruck endlich faßt der Franzose in folgende " Ich habe un Kanton gesehen und noch drei Laftträgern mit enormen Waden" beginnt die Forschungs- Worte zusammen: expedition." Herr, wohin gehen wir?" fragt Cho- Bing. Nun, nie hatte ich so deutlich den Abgrund ermessen, der uns von der ich will die Stadt sehen." Wo?" „ Herr, Gelben Welt" trennt. In der großen Stadt, die ich nach allen wollen also einen guten Seidehändler besuchen?" Nun gut." Seiten durchkreuzt habe, konnte ich nirgends ein Symptom wahr= Der Chinese tann es nicht begreifen, daß es jemand nehmen, daß der Europäer heute hier weniger fremd, weniger vereinfallen tönnte, herum zu wandern, nur um geistige Ein. abscheut wäre, als vor zweihundert Jahren. Ueberall stößt man auf brücke zu sammeln; er Ge- die unüberwindliche Feindseligkeit einer Raffe, die einen ganz unfelbst geht lediglich all schäften und gewiffen Vergnügungen aus. Kommt also gemessenen Hochmuth auf ihre fünf Jahrtausende alte Kultur besitzt. ein Europäer nach Kanton, so steht zum voraus für jeden Chinesen Unsere ganze Dentart, unser Fühlen, unsere Bestrebungen, alle unsere fest, daß dieser Seide, Thee oder alte Porzellan- Kunstwerte taufen will. Auffassungen von den Problemen des Daseins sind so grundDie Gesellschaft durchwandert zuerst eine Gegend voll der verschieden von den Ansichten des Chinesen, daß dieser sich damit elendesten Hütten aus wurmstichigem Holz, verrostetem Blech, begnügt, die europäische Art zu verachten, ohne sich auch nur dazu schmutzigen Leinewandfeßen, fauligen Strohmatten und Bambus: herbeizulassen, sie verstehen zu wollen. flechtwert. Ueberall stinkt es nach verwesten Fischen. Hier ist der Aus solchen Betrachtungen" fährt der Reifende fort Stapelplatz für die chinesischen Waaren aus dem Innern, großentheils wurde ich aufgeschreckt durch ein paar Steine, die, von unDinge von zweifelhaftem Werth und mit Wohlgerüchen behaftet, bekannter Hand geschleudert, mir um den Kopf fausten und ein Zwischenfall, nur allzu ge die für europäische Nasen unerträglich find. Dann geht's durch ein an einer Mauer absprangen tleines Thor in die eigentliche Stadt, die noch im Schlafe liegt, da eignet, die Richtigkeit meiner melancholischen Gedanken zu beeben„ tet", d. h. das chinesische Neujahr war, wo die Leute spät stätigen." ins Bett gehen und dann auch spät aufstehen. Zuerst wird eine " Herr!" meinte nun der getreue Führer Cho- Bing in seinem von Geschäftsleuten bewohnte Straße besichtigt. Ueberall find lange gebrochenen Englisch, Herr, sehr gut heimkehren schnell- er gar fennen nichts." hölzerne Tafeln ausgehängt, schwarz, weiß, roth oder vergoldet, mit Dampsboot. Hier Chinamann dumm einer fenfrechten Reihe chinesischer Schriftzeichen; vor jeder Hausthüre und in beschleunigtem Trab ging der Tragsessel zum Schiff zurück.find Papierlaternen. Sodann folgt eine vornehmere Straße; hier find die Häuser sehr sauber und tragen keine Geschäftsschilder. Die Hausthore, aus geschnitztem Holz und vergoldet, sind geöffnet, aber im Hausflur steht ein Schirm, um unbescheidene Blicke abzuhalten und bösen Geistern den Zutritt zu wehren. Letzterem Zwecke dient auch das Weihrauchstäbchen, das in einer kleinen Nische neben der Hausthür brennt. Die verschiedenen Geschäftszweige sind in einzelnen Straßen vereinigt, es giebt also zum Beispiel Schuftergassen, Schreinergassen und so weiter. Nur die Eß waarenhandlungen sind überall vertheilt. Endlich tritt man in den Laden des Seidehändlers. Ein dicker Chinese alle reichen Chinesen sind dick- Herr Vo- Chon selber, empfängt sie, umgeben von einer Schaar von Kommis. Sie machen dem Kunden kleine tchin- tchin", d. h. sie heben die geballten Fäuste bis in die Höhe des Kopfes und schneiden dazu verbindlich lächelnde Gesichter. Defen tennt man nicht in diesen Läden. Aber darum friert Herr Vo- Chon doch nicht; denn er ist gut eingepackt in einen
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Ueberall."
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Kleines Feuilleton.
-e- Nach Hause. Als er am Morgen seine lange Wanderung antrat, überspannte ein wolfenloser, mattblauer Himmel die Straßen und Plätze der Weltstadt. Die falte Winterluft war rein und durchsichtig; sie schien selbst nur der Abglanz eines verborgenen, gewaltigen Lichtscheines zu sein, gegen den sich jeder Gegenstand dunkel und scharf abbob, in dem auch das Fernste zum Greifen nahe lag. Noch sah man die Sonne nicht, aber man fühlte, daß sie tam. Bald brach sie mit einer ungeheuren Fluth goldenen Lichtes herein. Die Weltstadt lebte auf. Heißer pulsirte das Leben in den Straßen; neue Lebenslust und Freude schienen in die Herzen der Menschen eingezogen zu sein.
Auch ihm war frisch und fröhlich zu Muthe gewesen. Uns verdroffen war er troß fortgesetter Abweisungen von einer Arbeits