Hlnterhaltimgsblatt des vorwärts Nr� 100. Dienstag, den 24. Mai. 1898 (Nachdruck Verbote».) s Die Zukunfksfrokzett. Von Georg Hermann . Ein entlassener Offizier, ein schlanker Mensch von einigen drciszig Jahren. An seinein blauen, abgetragenen Cheviot- Anzug wird man niemals ein Stäubchen finden. Er hat etwas Zurückhaltendes in Wesen und Bewegung. Seine Sprechweise ist klar und gewählt. Seinen Abschied hat er bekommen, weil er ein armes Mädchen heiratheu mußte. Er versicherte mir letzthin, daß er vor keiner Arbeit mehr scheue, und wenn es Stiefelputzen wäre, falls es ihm nur vergönnt sei, Frau und Kind anständig durch die Welt zu bringen. Neben nur, auf meiner rechten Seite, sitzt ein kleiner Herr von fünfzig Jahren. Er ist früher einmal sehr reich gewesen und stolz, mit Pferd und Wagen einhergefahren, bis ihm ein Börsenkrach den Garaus machte. Herr Lorenz hinkt ein wenig, hat einen etwas gewölbten Rücken, einen sehr breiten Brustkasten und schier unendliche Arme. Der Kopf ist klein, die Nase zierlich, die Augen klug und lebhaft. Er spricht mit Pathos und lacht fortwährend über seine eigenen Worte, schüttelt, windet und krümmt sich wie ein Aal und schlägt mit der äußeren Handfläche auf den Tisch. Herr Lorenz verbindet eine unschuldige Renormnirsucht etwas eigen- artig mit milder Weltklughcit, auch ist er neugierig und überall giebt es für ihn etwas zu sehen und zu erfahren. So erlebt er in einem Tage mehr als andere Leute in einem Jahre. Neben mir, auf der linken Seite, ein veritabler Heiliger, ein alter ehrwürdiger Herr mit einem langen, schneeweißen Bart. Er war Beamter, mußte aber wegen Schulden seinen Abschied nehmen. Er ist sehr groß, rüstig und rühmt sich oft, Flügelmann bei der Garde gewesen zu sein. Sein schwarzer Nock ist blank wie eine Ritterrüstung, so daß bei jeder seiner Bewegungen neue Lichtreflexe mein Auge treffen. Um seine Lebenslust und seinen Humor beneide ich Herrn Klüwer, aber nicht um seinen Durst. Von seinen zwölf Kindern sind nur noch zwei am Leben, bis vor einen: Jahr, da sich sein Aeltester erschossen hatte, waren es noch drei. Seine Tochter— ja seine Tochter l Und der Hans ist in Amerika , seit fünf Monaten hat er nichts von ihm gehört. Vor fünf Monaten hat der Alte seine Uhr der- setzt, um ihm Geld schicken zu können. Herrn Klüwers Be- wegungen sind etwas schwerfällig. Will er mit jemandem sprechen, klopft er ihm erst auf die rechte und dann auf die linke Schulter, legt ihm endlich beide Hände auf die Achseln, stellt sich möglichst weit von ihm ab und sieht ihn ruhig und unverwandt mit seinen großen, hellen Augen an. Wenn er aber jemandem etwas besonders Wichtiges mitzutheilcn hat, und er hat viel besonders Wichtiges mitzutheilen, dann faßt er ihn unter und geht mit ihm im Zimmer auf und nieder, spricht leise aber nachdrücklich in ihn hinein, beugt sich zu ihm hinab, als ob er ihn küssen wollte. Mir gegenüber arbeitet ein Mann von einigen dreißig Jahren, er ist groß, hager, blaß, sehr blaß. Ueber die Hälfte der Dienststunden pflegt er garnichts zu thun, wenn er aber arbeitet, fliegt seine schmale, knöcherne Hand mit der Schnellig- keit einer Maschine über das Papier, und seine langen gerillten Nägel knistern auf der glatten Fläche. Die braunen Strähnen seiner allzeit nassen Haare sind zurückgekämmt, so daß die hohe und gewölbte Stirn zur Geltung kommt. Die dünne Nase ist ein wenig gebogen, die matt- glänzenden Augen sind schwarz unterlaufen, die Mundwinkel, die zu den schmalen pergamentenen Lippen führen, scheinen gleich unter den Augen zu beginnen, so eingefallen sind die Backen. Herr Lintrow ist Phthisiker und Gewohnheitstrinker. Eni- Weder befindet er sich in leichter fiebriger Erregung, in wel- cher sich seine geistigen Kräfte zu vervielfachen scheinen oder im Zustande völliger Abspannung und dehnt und streckt sich, gähnt und seufzt ohne Unterlaß. Ueber seine An- schauung, über seine Stellungnahme zu irgend einer Frage kann man keine Klarheit erlangen, ebenso wenig über seine Vergangenheit. Denn, obgleich er ein scharfer Spötter tft, versteht er doch so geschickt beide Seiten mit- zunehmen, daß man niemals seinen eigenen Standpuntt auch nur errathen kann. Vielleicht war er Schrifffteller oder Journalist oder eine ähnliche armselige Enstenz, denn als ich ihm rieth, es einmal mit Schreiben zu versuchen, seine Rede- weise hat viel Eigenart, lachte er mich aus und sagte: „Wissen Sie, früher, früher, als es niir noch besser ging, so und so,— Sie verstehen mich doch? Früher habe ich's mal versucht, und wenn es da nichts war, so ist es doch heute erst recht nichts! Die Du minorum gentinm. Ein kleiner Herr mit langem, schwarzen Bratenrock, Herr Hoffburg. Er war Kaufmann, oder Lehrer oder sonst etwas. Einige sagen sogar, er wäre Gclegcnheitsdichtcr gewesen. Er hat ein fteundliches, dummes Gesicht und semmelblonde, dünne Haare. Er ist Kellermeister der Zukunftsfrohen, aber auch die Besorgung der Frühstücks- Würstchen fällt in das Bereich seiner Thätigkeit. Zu dem Schlächterfräulein von nebenan scheint er in zartem Verhältniß zustehen; denn täglich versucht sie, durch neue Zugabe sich seiner Neigung zu vergewiffern. Das merkwürdigste an Herrn Hoffburg ist sein geräuschloser Gang; denn stets und überall, bei gutem und schlechtem Wetter, im Freien oder in bedeckten Räumen trägt er Gummischuhe. Manche wollen diese seine Eigenart psychologisch erklärt wiffen, andere behaupten kühn, daß er nur den unhaltbaren Zustand seiner Fußbekleidung verbergen wolle. Ein junger Mensch, Hubert, ein Thunichtgut und Trinker. Wenn seine Eltern nicht wohlhabend wären, wäre er schon längst verkomnien. Er hat ein bewegungsloses Vogelgcsicht, ist meist etwas angezecht und versucht dann jedem die Hand zu drücken, um seine Kräfte zu zeigen, beginnt zu krakehlen und möchte sich am liebsten prügeln. Ferner ist noch ein Mann da mit schwarzem Vollbart, O-Beinen und außergewöhnlich großen, rothen Händen. Er ist außerhalb des Bureaus abends Koulifsenfchieber und Sonntags Schankkellner. Auch bei uns versieht er das Ehren- amt des Oberkellermeisters und hat mit dem Bureaudiener eine innige Dutzfreundfchast geschloffen. Er rühmt sich, einen Kasten mit sechsunddreitzig Bierflaschen durch halb Berlin tragen zu wollen, ohne mit der Schulter zu wechseln, was ihm sicherlich so bald keiner nachmachen könnte. 21. Mai. Mein linker Nebenmann befindet sich heute in großer Auftegung. Schon seit einer Viertelstunde läuft dieser silber- graue Heilige wie ein Wiefel durch die Zimmer, guckt in alle Ecken, kriecht auf die Leitern, sieht auf die Schränke. „E. 318! Haben Sie E. 318 gesehen? Wo ist mein Echen 318? Wer's bringt, bekommt'nen Kuß von mir! Schnell l Na— hat's keiner? Zwei Küsse!!" „Donnerwetter, Sie da oben, machen Sie doch nich solchen Staub, man weiß ja nich mehr, ob man ein Junge oder ein Mädchen ist", schreit Lintrow und beginnt zu husten. Die Kletterei dauert fort. Vom Stuhl auf den Tisch, vom Tisch aufs Regal, und dort von höchster Höhe ertönt nochmals der Lockruf: „Zwei Küffek Zwei Küffe!!" Endlich entdeckte der Doktor die gesuchten Akten in einer Ecke, wo sie zusammen mit einigen anderen ein Bierdepot vor den profanen Blicken des Vorstehers schützen sollen. Aber groß- müthig verzichtet der ehrliche Finder auf die Belohnung. Nun stürzt sich der liebe, alte Herr mit Feuereifer auf die Bearbeitung des Schriftstücks. Er durchblättert es von vorn nach hinten, von hinten nach vorn, nimmt mit wichttger Miene die Feder zur Hand und legt sie mit ebenso wichtiger Miene wieder hin. Eine Weile fitzt er schweigend in ernsten Gedanken, dann klopft er mir auf die Schulter. „Mein lieber junger Freund, kennen Sie das herrliche Kirchenlied:„„Aus tiefer Noch schrei ich zu Dir""? »Ja." „Na, dann spendiren Sie mir doch'ne Flasche.' Diese Logik überrascht mich derartig, daß ich sofort seinem Ansinnen entsprach. Kaum hat der ehemalige Garde-Flügelmann seinen ersten Durst gefüllt, als ein merkwürdiger Umstand sein maßloses Erstaunen erregt. „Aber Lorenzchen, was ist denn mit Ihnen los? Wo haben Sie denn gesteckt? Sie sind ja da ganz schmutzig aus der Schulter!"
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15 (24.5.1898) 100
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