NnterHaltungsblatt des WsrwSMs Nr. Z95. Mittwoch, den. 5 Oktober. 1398 (Nachdruck vcrboleu.) Roman von Georges Eekhoud  . II. So wenig wie beim zweiten Besuch wollte es Laurent in der Folgezeit, die er während der Schulferien im Hause des Vormundes verbrachte, gelingen, sich in die neuen Ver- hältnisse einzugewöhnen. Er fühlte sich nach wie vor als Eindringling, der, unversehens hereingeschneit, allen im Wege steht. Ehe er noch seinen Koffer aus der Hand gesetzt hatte, er- kundigte man sich schon nach der Dauer seines Ferienaufenthalts, und während von seiner Person gar nicht die Rede war, beschäftigte man sich um so angelegentlicher mit dem Zustande seiner Sachen. Dem Empfang fehlte auch die Spur herz- lichen Entgegenkommens: Base Lydia bot dem Jungen theil- nahmslos die zitronengelbe Wange zum Shijj, Gina schien ihn seit dem letzten Mal vergessen zu haben, und was den Vetter Guillaume anbetraf, so konnte man dem Vielbeschäftigten im Ernst kaum zumuthen, seine Thätigkeit einer so geringfügigen Angelegenheit wie der Ankunft dieses Schlingels zu Liebe auch nur einen Augenblick zu unterbrechen. Er würde ihn ja bei der nächsten Mahlzeit noch früh genug zu Gesicht be- kommen!Na, da bist Du ja wieder! Wirst Du endlich einmal vernünftig? Machst Du jetzt bessere Fortschritte in der Schule Immer und ewig dieselben im Tone des berechtigten Mißtrauens gestellten Fragen, nie ein Wort des austnunternden Lobes. Brachte Laurent Schulprännen mit nach Hause, dann hatte er die Auszeichnung natürlich nur einem zufälligen Glücksumstand zu danken, und dann erhielt er sie auch gerade immer in Fächern, auf die Herr Dobouziez am allerwenigsten Werth legte. Bei Tische blieben die runden Glotzaugen der unversöhn- lichen Base mit vorwurfsvollem Blick auf ihm haften, als wenn sie ihm aus dem gesunden Appetit seiner zwölf Jahre ein Verbrechen machten. Diese ständige Beaufsichtigung brachte es in der That zu Wege, daß das Glas, daß er zum Munde führen wollte, seinen zitternden Händen entglitt und die auf dem Teller tanzende Gabel die Fleischstücke nicht aufzuspießen vermochte. Und wenn Laurent für diese Ungeschicklichkeit auch nicht gescholten wurde, so ließ doch der verächtliche Ausdruck, der sich auf Base Lydia's Gesicht malte, nicht den geringsten Zweifel über die Gedanken, die die gute Frau nicht laut werden ließ. Aber dieses verächtliche Mienenspiel war nichts im Vergleich zu dem spöttischen Lachen, das die Lippen der untadeligen Gina bei solchen Gelegenheiten umspielte. Vetter Guillaume ließ lange auf sich warten, ehe er der Aufforderung, zu Tische zu kommen, Folge leistete. Kam er dann endlich, so nahm er mit nachdenklicher Miene und sorgenvollem Gesichtsausdruck Platz, wälzte in seinem Kopf Plane über neu einzuführende Erfindungen und Verbesserungen des Betriebes, die das Fahrikationsverfahren billiger und lohnender gestalten konnten, und zermarterte sein Hirn mit end- losen Berechnungen. Mit seiner Frau unterhielt er sich aus- schließlich über geschäftliche Angelegenheiten, wobei Dame Lydia staunenswerthe Kenntnisse entwickelte und mit barbarischen technischen Ausdrücken um sich warf, die das Entzücken des erfahrensten Fachmanns erregt hätten. Herr Dobouziez beschäftigte sich unaufhörlich mit seinen Zahlen und Berechnungen, nur wenn er sein schönes Töchter- lein bewundernd hätschelte, huschte ein heller Strahl sonniger Heiterkeit über das ernste Gesicht des grämlichen Geschäfts- mannes. Laurent wurde es mehr und mehr klar, welch' innige und überschwängliche Zuneigung die beiden Wesen mit einander verband. Wie der steifleinene Zahlenmensch menschlich wärmer wurde, wenn er sich mit der Tochter beschäftigte, so legte auch das verwöhnte Mädchen im Verkehr mit dem Vater sein hoch- müthiges Wesen ab und verzichtete auch aus den losen, recht- haberischen Ton, der sonst aus seiner Rede herausklang. Dafür ließ es sich aber auch Herr Dobouziez mit unermüd- lichem Fleiß angelegen sein, alle Wünsche des Töchterleins zu erfüllen und ihre tollsten Launen zu befriedigen, ja er ergriff selbst der Mutter gegenüber stets die Partei Gina's, mit der sich der praktische, nüchterne Geschäftsmann über allerlei thörichte Firlefanzereien wie ein Kind amüsirte. Bei jedem neuen Ferienaufenthalt fand Laurent seine kleine Kousine schöner, gleichzeitig aber vergrößerte sich auch der Ab- stand, der sie von ihm trennte, inimer mehr. Die Eltern hatten Gina aus der Pension genommen und ließen sie zu Hause durch geschickte und standesgemäße Lehrer für ihren dereinstigen Beruf als reiche Erbin vorbereiten. Das stattliche Mädchen fühlte sich nachgerade zu sehr als junge Dame, um sich in der bisherigen Weise mit Laurent abzugeben, es empfing und erwiderte jetzt die Besuche seiner Freundinnen, unter denen die kleinen Vanderlings, die Töchter des angesehensten Advokaten der Stadt, ein paar blonde, lebhafte Plappermäulchen, seine ständigen Gefährten beim Studiren wie beim Ver- gnügen waren. Und wenn sich Gina ja ausnahmsweise in Ermangelung anderer Zerstreuung soweit vergaß, mit dem Bauernjungen zu spielen, so war Frau Lydia gewiß bald bei der Haud, dem unschicklichen Vergnügen ein Ende zu machen. Dann erschien Felicitas auf der Bildsläche, um das gnädige Fräulein abzurufen; bald war der eine oder der andere Professor zu nielden, bald wollte die gnädige Frau mit dem Fräulein Einkäufe besorgen, oder die Schneiderin wartete mit der Anprobe, kurz ein Vorwand war stets gefunden, und gar oft kam die bewährte Stütze der Hausfrau auch zuvor und entledigte sich in weiser Erkenntniß der Absichten ihrer Herrin auf eigene Faust ihrer Aussichts- und Anstandspflicht mit einem Eifer, der einer besseren Sache Werth gewesen. Dobouziez's Fabrik befand sich in so blühendem Aufschwung, daß die Vergrößerung des Betriebes jedes Jahr Erweiterungs- bauten nothwendig machte, die ein Stück nach dem anderen des die Villa umgebenden Gartens in Anspruch nahmen. Laurent bemerkte nicht ohne Bedauern, daß das Labyrinth mit seinem Thurm und seinem Ententümpel verschwunden war. Er hatte das scheußliche Ding Gina's wegen ordentlich lieb gewonnen. Und wie das Fabrikgebäude, so erweiterte sich auch das Wohnhaus auf Kosten der Gartenanlagen. In Rücksicht auf den bevorstehenden Eintritt ihrer Tochter in die Gesellschaft hatten die Dobouziez's ihre Villa zu einem wahren Palast ausgebaut, dessen imposante äimnrerflucht die Lieferanten der feinsten Antwerpener esellschastskreise möblirt und ausgestattet hatten. Vetter Guillaume hatte die Verschönerungsarbeiten wohl geleitet, sich im einzeln aber ganz aus die Wahl und den Geschmack seines Töchterleins verlassen. Semem Liebling hatte er zwei mit erlesenem Geschmack eingerichtete Zimmer eingeräumt, die mit ihrer blau und silberfarbenen Ausstattung das Entzücken der verwöhntesten Salonlöwin erregt hätten. Der bauliche Umgestaltungsprozeß, der nichts unverschont ließ, hatte auch dem Winkel, der dem jungen Paridael als vorübergehendes Absteigequartier diente, ein verändertes Aussehen gegeben. Es war dem Schüler so wie so nur un- gern eingeräumt worden, und Felicitas hatte ihn just so weit aufgeräumt, um zur Roth eine eiserne Bettstelle aufstellen zu können. Da der Boden nicht mehr ausreichte, um die entbehrlich gewordenen alten Möbel aufzunehmen, so hatte die fürsorgliche Haushälterin, die die Kammer der Dienerschaft mit dem aus- rangirten Gerümpel nicht vollpfropsen wollte. alles auf Laurent's Stube schaffen lassen. Sie besorgte das Geschäft so gründlich, daß der Junge dem Augenblick entgegensah, wo er aus den Flur würde auswandern müssen. Im Grunde war Laurent die Sache gar nicht unangenehm. Das wüste Durcheinander allerlei Krimskrams, das sich in seiner Stube aufspeicherte, eröffnete ihm Ausblicke auf unverhoffte Unter- Haltung. Bestand doch zwischen dem hilflosen Waisenkind und den Gegenständen, die aufgehört hatten, der Herrschaft zu gefallen, eine gewisse Sympathie, die der Gleichartigkeit ihrer Verhältnisse entsprang. Aber Laurent mußte sich sorglich hüten, seine Freude über die Veränderung sichtbar werden zu lassen, der Hausdrachen hätte sich sonst gewiß beeilt, ihm fem Vergnügen zu nichte zu machen. So sah sich der Junge ge- nöthigt, allerlei verschmitzte Schmugglcrkniffe anzuwenden, um seine Schätze zu durchwühlen und die interessanten Funde, die er dabei entdeckte, bei Seite zu schaffen. Zur großen Freude des kleinen Einsiedlers häuften sich in seinem Dachstübchen auch die Bücher, die Herr Dobouziez als zu leichtfertig aus der Bibliothek hatte entfernen laffen. Es waren verbotene Früchte, wie die Blutpfirsiche und Him-