MnterhalllmgsMatt des vorwärts Nr. 212. Sonntag, den 30. Oktober. 1898 (Nachdruck verboten.) 20] Neu" Roman von G e o r g e.s E e k h o u d. Der Wechsel von schweigender Ruhe und lärmender Ve- triebsamkeit ließ an einen Titanen denken, dessen schwer ar- bettenden Brust sich von Zeit zu Zeit ein qualvoller Seufzer entrang. In dem Wirrwarr durcheinander schwirrender Ge- rausche unterschied Laurent deutlich die dumpfen oder schrillen Rufe, die klar wie die melancholischen Signale aus der Kaserne und traurig wie ein Klagelied der stöhnenden Kraft klangen. Und jedem Refrain des Menschenchores antwortete das Ge- töse der leblosen Masse, mit der die Arbeitenden hantirten: Kisten und Ballen polterten in den Kielraum hinunter, eiserne Träger schlugen mit Hellem Klingklang auf das Pflaster der Quaimauer. Wieder ließ sich das Glockenspiel vernehmen. Die Möven schwirrten in schrägem Zickzackfluge kreuz und quer. Sie näherten sich, entfernten sich, kamen wieder zurück und führten ordent- liche choreographische Hebungen aus. So brachten sie dem Wasser, der Erde und dem Himmel gleichzeitig ihre Huldigungen dar bis zu dem Augenblick, der die drei Beherrschet des Raumes zu einer feuchten, von grauem Zwielicht übergossenen Dunst- masse ineinander fließen ließ. Die bange Zwielichtstimmung des dämmernden Abends übte auch auf Laurent ihren Einfluß, er fuhr jäh zusammen, als ob sich ein Abgrund vor ihm öffnete, und er zu stürzen fürchtete. Seine Blicke wandten sich wieder der Arbeitskolonne am Flusse zu. In der Nähe hielt ein schwerer Lastkarren, vor dem ein vierschrötiges Frachtpferd gespannt war;derKutscherstand lässig zur Seite und wartete auf die Ladung. Und zwischen den Wagen und dem Schiff gingen und kamen in gleich- mäßigem Schritt die plastischen Gestalten der Ladeleute, den Hals unter der schweren Last leicht vornüber gebeugt. Das blanke Bordertheil des Schiffes spiegelte die kräftigen Formen der Riesen wieder, die den nervigen Fuß fest auf den Boden setzten. Die eine Hand hielt die Last auf der Schulter fest, die andere ruhte zur Faust geballt auf der Hüfte. Ein Berg von Ballen häufte sich auf dem Ladequai. Un- aufhörlich bohrte sich der gierig geöffnete Rachen des Hydrauli- schen Krahns in die Flanken des Ueberseedampfers und riß stückweise die Ladung heraus. Und wie mau hier den Bauch des Schiffes zu leeren beschäftigt war, war man dort wieder dabei, ihn ohne Unterlaß vollzustopfen. Kohlen fielen polternd in die Bunker, und Säcke und Kisten verschwanden in dem unersättlichen Schlund der Kielräume Die Arbeiter mühten sich im Schweiße ihres Angesichts, den. Heißhunger des Ungeheuers zu befriedigen. Die Kraftleistung dieser Prachtmenschen verkörperte dem Beobachter die Größe und Allmacht seiner Vaterstadt, brachte ihm gleichzeitig aber auch seine eigene Schwäche zu schreck- haftem Bewußtsein. In diesem Augenblick, wo er in seiner hoffnungsfreudigen Begeisterung'elbst von den Steinen liebreiches Enrgegenkommen und aufu.unterndc Thcilnahme erbat, wirkte das bewegte Hafenbild mit seiner überwältigenden Eindrucksnracht kalt und ernüchternd auf ihn. Soll ich wieder keine Gnade finden und als Ausgcstoßener bei seite stehen?" murmelte er beklommen. Erschien ihm doch Antwerpen   in dem Glanz seiner Schönheit nicht minder Hof- färtig und übermüthig wie seine Kousine. Er mußte plötzlich daran denken, wie er eines Abends, als Gina in großer Toilette ins Theater fuhr, unter dem Ein- drucke ihrer bezaubernden Schönheit dem Sturme seiner Ge- fühle fast erlegen war. Das junge Mädchen hatte seine stür- mische Huldigung damals rundweg abgelehnt. Sie hatte sich vornehm zurückgelehnt und den aufrichtigen Schwärmer mit lästiger Handbewegung wie ein häßliches Insekt abgeschüttelt, während sie in ihrem gewohnten, zum Verzweifeln gleich- müthigen Tone, aus dem auch nicht die Spur jener Besriedi- gung, die jedwede Huldigung, und käme sie auch von dem Geringsten, bei einem weiblichen Wesen stets hervorbringt, herausklang, maulte:Aber, so laß doch, Einfaltspinsel, Du wirst mir noch meine Toilette in Unordnung bringen I" Ja, wahrhaftig, die Stadt da war viel zu schön und viel zu reich, das empfand Laurent an diesem Spätnachmittag mit schmerzlichster Deutlichkeit. Ob sie mich auch wie einen lästigen Eindringling zurück- weisen wird?" fragte er sich schweren Herzens. Aber die Stadt war doch wohl nicht so grausam und hartherzig wie die andere und schien dem Entinuthigteu Trost und Hoffnung zusprechen zu wollen, denn just in dem Augen- blick warf die Sonne ihr mild gedämpftes Licht noch einmal über die Landschaft, und das Wasser, das eben noch blutroth aufgeleuchtet hatte, nahm sein gewöhnliches Aussehen wieder an. Die grellen Farben dämpften sich zu zarten Tönen ab, die Luft wurde wieder klar, und ein ruhiger Wasserspiegel breitete sich in sammetgleicher Glätte unter dem Hinimel. Der Kleinniüthige athmete erleichtert auf. Und jetzt er- schien ihm auch das rüstige Schaffen der Ladeleute nicht mehr in dem Lichte übermenschlicher Größe. Jetzt kurz vor Feier- abend gönnten sich auch die Arbeiter eine müßige Viertelstunde; die Arme schlaff am Körper herabhängen lassend oder sie auf der Brust kreuzend, standen sie in Gruppen bei einander und wischten sich mit dem Jackenärmel den Schweiß von der Stirne. Die Aussicht, bald daheim der behaglichen Ruhe zu pflegen, vcrrieth sich in dem ruhigen Schmunzeln, mit dem die vom Zwange Befreiten ihre arbeitsmüden Glieder dehnten, froh, sich endlich einnial nach Herzenslust gehen lassen zu dürfen. Laurent war aus dem Reich der Träume in die Wirk- lichkeit zurückgekehrt. Xll. Die Suche nach Tilbak's Wohnung hatte Laurent nach dem Quartier derBootsbauer" geführt. Die Straßenlaternen wurden eben angezündet, und der helle Schein der einen fiel grell auf einen kleinen Laden, dessen Schild die Aufschrift Zur Kokusnuß" zierte. In der Auslage sah man eine bunt- scheckige Sammlung der mannigfaltigsten Gegenstände: Krim  - stecher, Kompasse, Matrosenkoffer, getheerte Südwester, Woll- mützen lagen friedlich neben den gelben Palleten englischer und amerckanischer Rauchtabake, Kautabakrollen, Federmessern, Bleistiften, Parfumslaschen und wohlriechenden Seifen. Laurent sagte eine stille Ahnung, daß hier seine liebe Siska Hausen müsse. Seine Ahnung wurde zur Gewißheit, als er die Frau, die gerade dabei war, unter den herum- liegenden Sachen im Laden aufzuräumen, näher ins Auge faßte. Sie wandte ihm den Rücken zu; obwohl im Laden noch kein Licht brannte, und er die Gestalt nur in unklaren Umrissen zu sehen vermochte, hatte er Siska doch sofort er- kannt. Und nun konnte er auch ihr Gesicht sehen, als sie sich anschickte, die große Hängelampe im Laden an- zuzünden. Ja, das war noch das ehrliche Gesicht, das in seiner Erinnerung lebte; sie trug das Haar, das die Hände des Kindes oft genug unbarmherzig zerzaust hatten, noch so stisirt wie ehemals, nur war es inzwischen ergraut. Laurent hatte vor dem Schaufenster Posto gesaßt und musterte die Auslage wie ein Käufer, der seine Wahl zu treffen sucht, und da die Straße dunkler als der Laden war, brauchte er nicht zu fürchten, von Siska erkannt zu werden. Sie hantirte geschäftig im Laden herum und warf ab und zu einen der- stohlenen Seitenblick auf den Draußenstehenden. Ob sich der Mann wohl überhaupt zum Eintreten entschließen würde? Was mochte er nur für Wünsche haben? Arme Frau l Laurent fragte sich, ob sie wohl viel von dem Plunder da verkaufen mochte. Siska glaubte auf den Kunden nicht mehr rechnen zu dürfen und ging in das hinter dem Laden gelegene Zimmer. Der helle Klang der Glocke, die Laurent beim Oeffnen der Thür in Bewegung setzte, ließ sie eilig zurückkommen. Mit der geschäftigen Zuvorkommenheit und dem honigsüßen Lächeln, mit dem der geschäftstüchtige Handelsmann die Kundschaft zu enipfangen Pflegt, erkundigte sie sich nach Laurent's Begehr. Mit dem ernsthaftesten Gesicht von der Welt gab dieser dem Wunsche Ausdruck, eine Mütze zu kaufen. Der prüfende Blick, mit dem die Verkäuferin den elegant gekleideten jungen Mann musterte, bestimmte sie, ihm das Beste und Theuerste vorzulegen, was von dem Artikel auf Lager war: moderne Marinemützen, wie sie von den Sportsleuten getragen werden. Das war indessen nicht nach Laurent's Geschmack, der ge- wöhnliche Mützen, die Bauern, Fuhr- und Schauerlcuten als Kopfbedeckung dienen, zu sehen wünschte und der den Vorrath