Mnterhaltungsblatt des HorwSrts Nr. 231. Sonntag, den 27. November. 1898 (Nachdruck verboteil.) 39J Neu-Ve»rklzstgo. Roman von Georges Eekhoud . Wenn der Morgen dämmerte, erschien der Herbergsvater ans der Schwelle und rief, nachdem er sich gehörig geräuspert und ausgespuckt hatte, mit der näselnden Stimme eines den Zuschlag ertheilenden Auktionators:„Aufgestanden, Jungens I Eins... zwei... drei!" Ohne lveitere Aufford erung hakte er dann die die Hängebetten haltenden Gurten los und ließ das gemeinschaftliche Ruhelager sammt Inhalt auf die Gefahr hin, den Bohlenverschlag zu beschädigen, auf die Diele fallen. Paridael, der als eifriger Kriminalstudent den Verhand- lungen des Zuchtpolizei-Gerichts in Gemeinschaft seiner zer- lumpten Genossen oft genug beiwohnte, hatte es nur einem Wunder zu danken, daß er bisher noch nicht mit dem Straf- gesetz in Konflikt gekommen war. Er kannte mehr als einen Helden der berüchtigten Banden, die da draußen an der Peripherie der Stadt ihr Wesen trieben. Die Polizisten schonten ihn und betrachteten ihn als Originalität, als Sonderling und ungefährlichen Narren. Sie beobachteten ihn mehr als daß sie ihn über- wachten trotz seines intimen Verkehrs mit allerlei Galgen- vögeln und Zuchthaus-Kandidaten. Wie all die andern hatte auch er seinen Spitznamen. Es war der erste nicht. Bsjard, Saint-Fardier, Felicitas und Regina hatten ihm wegen der blühenden Farben seines Ge- sichts den Namen„Bauer" gegeben, der Gesellschaft, mit der er gegenwärtig lebte, waren dagegen zunächst seine weißen Hände, kleinen Füße und seine Glieder aufgefallen, die grob- knochigen, vierschrötigen Kerle sahen darin Merkzeichen einer vornehmen Abstamnuing und nannten ihn ails diesem Grunde den„Junker". Wie er das Kunststück zu Wege gebracht hatte, sich bei all diesen Unholden lieb Kind zu niachen, wie es kam, daß seine Leiche'nicht eines schönen Tages aus den Bassins ge- zogen oder in einem der schmutzigen Höfe gestinden wurde, bleibt ein ungelöstes Räthsel. Es war ihm im Gegentheil gelungen, sich eine Art abergläubischen Respekt und allgemeine Sympathie zu erwerben. Sie hatten ihm übrigens in der ersten Zeit zur Prüfung seiner Verläßlichkeit Fallen gestellt und hatten so reichliche Gelegenheit gehabt, sich von seiner Diskretion und Treue zu überzeugen. Um ihren ver- brecherfschen Neigungen zu schmeicheln, um ihren thatenlustigen Muth anzufeuern, um ihre Verbrechernioral zu rechtfertigen, erzählte er ihnen diesen Zweck entsprechende Beispiele aus der Geschichte und legte die Dramen Shakespeare's in diescni Sinne und einer dem Verständniß seiner Zuhörer angepaßten Bearbeitung aus. Sonntags und Montags tanzte Laurent die ganze Nacht in den von Blousen und Uniformen belebten Tanzlokalen der Vorstadt oder den Kneipen des Schifferqnarticrs, die Haupt- sächlich von„Runners" und Seeleuten besucht wurden. Zu den Klängen einer jammervollen Drehorgel, deren arg mitgenommenes Werk statt eines Tones ab und zu ein zischendes Pfeifen hören läßt, drehen sich die Paare. In der Pause, während die Paare Promeniren und dem Tanzmeister den schuldigen Tribut entrichten, geht der Hausknecht mit dem Sprengtrichtcr herum. der auf den staubigen Grund des Saales zierliche Wasserfiguren zeichnet. Dann ertönt aufs neue die klapperige Quietschmusik, die Tänzer stampfen mit Schuhen und Pantinen und kriegen ihre Schöne mit festem Griff zu packen. In der stickigen, von Schweiß- und Tabakgeruch erfüllten Atmosphäre, die wie eine grauschwarze Torfschicht über dem Saale lagert, sind die Formen der Tanzenden nur in Um- rissen zu erkennen. Mützen, Baretts, getheerte Südwester, hochthürmige Fristiren werden zuweilen in der schweren Wolke sichtbar, und nur wenn beim Eintreten oder Weggange eines Paares ein Lichtblitz von draußen durch die geöffnete Thür fällt, vermag man blaue Trikothemden, breitkragige Jacken, ein Gewirr von prallen Schenkeln und bauschigen kurzen Weiberröckcn, hohe Schifferstiefel und prallsitzende Strümpfe genauer zu unterscheiden. Hatte er die Nacht durchkneipt, dann trieb ihn das Bedürsniß nach frischer Lust hinaus zuin Doel, wo seine Freunde, die Flußpiraten, ihr Hauptquartier hatten. Am Doel ist zur Zeit der Quarantänedienst für den Antwerpener Hafen eingerichtet. Die Barkasse der Hafenpolizei hält fedes der die Scheide aufwärts fahrenden Schiffe an, der Arzt läßt sich die Schiffspapiere vorlegen und prüft die Gcsundheits- atteste. Die Schiffe, die aus dem Orient oder aus Spanien kommen, wo die Cholera wie ein blutgieriger König von Dahomey herrscht, sind genöthigt, hier vor Anker zu gehen und acht Tage auf der Höhe des ehemaligen Forts Frederic Quarantäne zu halten. Fünf Dampfer liegen bereits wie düstere Lebiathans neben einander. Sie haben die ominöse gelbe Flagge gehißt, die sie vorläufig von der Außenwelt absperrt und die selbst die sonst garnicht ängstlichen Runners in Respekt hält. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Wenn erst die verdächtigen Schiffe die Wartezeit überstanden und die gereinigte Flagge wieder gezeigt haben werden, dann ist für die„Sinjoors" die Zeit gekommen, sich wie die Katzen, die einem Vögelchen, dem sie vorerst nicht beikommen können, auflalicrn, auf ihre Beute zu stürzen. Einstweilen haben sie es auf den„Delphin " abgesehen, einen großen australischen Dreimaster, der aus Holländisch-Jndien heimkehrt. Ein Looffen- boot ist ihm nach Vliessingen entgegen gefahren, um ihn nach Antwerpen zu schleppen. Gegen drei Uhr nachmittags darf man seinem Eintreffen am Doel entgegensehen. In der Er- Wartung, die Masten des signalisirten Schiffes über die Polder auftauchen zu sehen, haben sich die unternehmungslustigen Kerle auf die Jlnßböschnng ausgestreckt, hinter der das stille Dorf liegt. Die erfahrenen Aeltesten der beutegierigen Genossenschast, verwogene Gesellen mit wirrem Bart- und Haupthaar, mischen sich unter die jungen Anfänger, die bestrebt sind, es den Meistern gleichzuthun. Das kurzgeschorenc oder krause Haar der Jungen bedeckt die übliche Ballonmütze, unter deren breitem Schirm trotzige Gesichter hervorschauen, die die Merk- zeichen von Lastern aller Art tragen. Die einen, die sich von den Exzessen der letzten Nacht noch nicht erholt haben, hat der Schlaf überwältigt; andere liegen auf dem Bauche, stützen den Kopf in die Hände und lugen mit scharfen Augen nach dem Horizont. Von Ungeduld gequält, springen sie manchmal auf, gähnen, strecken die Glieder, machen ein paar Schritte, um sich dann wieder seufzend hinzuwerfen und weiter auf der Lauer zu liegen. Plötzlich kommt Bewegung in die Schaar. Einer der Vor- Posten hat den Dreimaster gesichtet, das Erscheinen der Beute hat die Kerle alles andere vergessen lassen. In wilder Hast springen sie über die Körper der Schlafenden hinweg hinunter zur Bucht, wo ihre Boote liegen. Im Handunidrehen sind die Waarenvorräthe hineiugepackt, die Ruder ergriffen, und jeder legt sich mit Bracht in die Riemen, um das ersehnte Ziel ohne Zeitverlust zu erreichen. Aber aus dem Gewirr yerauSzukommen ist nicht leicht. Die Fahrrinne ist nur schmal und das Durcheinander der dichtgedrängten Boote behindert die freie Bewegung der Ruder uinsomehr, als jeder Boots- führer bemüht ist, den Konkurrenten den Weg zu verlegen und sich dadurch einen Vortheil zu schaffen. Uebcr dein Schreien, Fluchen und Hin- und Hergestoße kommt keiner vom Fleck. Der Runner ivürde gewiß nicht davor zurückschrecken, das Boot seines besten Kameraden in Grund zu bohren, wenn es ihm dadurch gelänge, als Erster das Ziel zu erreichen. Die Bande der Kameradschaft find übrigens durch die Konkurrenz und Gewinnsucht gelöst und die guten Freunde, die eben noch aus derselben Flasche ge- trunken haben, werfen sich jetzt giffige Blicke zu, als ob sie sich am liebsten erwürgen wollten. Ein paar Schlauberger haben sich indessen das Getümmel, das zur Seeschlacht auszuarten droht, klugerweise zu nutze gemacht, um sich still und heimlich zwischen den Reihen der Kämpfenden durchzustehlen. Beim Anblick der drei Boote, die mit keckem Uebermuth über das freie Wasser hinfliegen, halten es die Kämpfenden doch für angezeigt, den Streit einzustellen. Jetzt stößt auch die Hauptmacht vom Ufer; Zank und Streit sind vergessen, jetzt handelt es sich nur noch darum, das Versäumte nachzuholen; das ge- lingt den Nachzüglern so gut und sie manövriren so geschickt, daß sie bald die drei Ausreißer eingeholt
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15 (27.11.1898) 231
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