Nnterhaltungsblatt des Vorwärts Nr. 30. Freitag, den 10. Februar. 1399 <Nachdrull verboten.) Vev lchke vrnrs Veeurkheilken. Von Victor Hugo  . A«S dem Französischen von Paul Linsemann. vm. Wie viel Zeit verfließt denn noch bis zu meinem Tode? Drei Tage Frist für die Revision, nachdem das Urtheil gesprochen worden ist. Acht Tage vergehen darüber im Schwurgericht, worauf die Akten zum Minister geschickt werden. Vierzehn Tage Wartezeit bei dem Minister, der nicht einmal weiß, daß sie in seiner Wohnung sind, sie jedoch, wie man sagt, nach peinlicher Durchsicht, dem 5iassationshof übergiebt. Dort werden sie geordnet, nnmerirt und cinregistnrt, denn die Zeit der Guillotine ist beschränkt, und es muß der Reihe nach gehen. Vierzehn weitere Tage, um zu prüfen, ob nicht ein NechtSirrthum vorgekommen ist. Endlich versammelt sich der Gerichtshof, getvöhnlich an einem Donnerstag, verwirft zwanzig Rechtsmittel aus einmal und schickt das Ganze an den Minister zurück, der es seinerseits an den Oberstaatsanwalt znriicksendct. Dieser beaustragt den Scharfrichter. Wieder drei Tage. Am Morgen des vierten Tages sagt sich der Substitut des Oberstaatsanwalts, indem er seine Toilette macht: Man muß doch diesen Fall endlich mal aus der Welt schaffen," Dann, wenn der Substitut des Gerichtsschreibers nicht durch ein Frühstück mit einigen Freunden verhindert ist, wird der Befehl zur Hinrichtung aufgesetzt, redigirt, ins Reine geschrieben, abgesendet, und am andern Morgen hört man schon von früh an auf dem Gröveplatz ein Geriist auf- schlagen und auf den Plätzen den Pöbel aus vollem Halse lärmen. Ini Ganzen macht das also sechs Wochen. Das kleine Mädchen hatte recht. Nun, seit fünf Wochen wenigstens, seit sechs vielleicht(ich wage gar nicht nachzudenken), bin ich in der Zelle zu Vicötre. Vor drei Tagen war Donnerstag, wenn ich nicht irre. IX. Ich habe soeben mein Testament gemacht. Aber wozu eigentlich? Ich bin zu den Kosten verurtheilt, und all das, was ich habe, wird kaum hinreichen, sie zu be zahlen. Die Guillotine ist ein theures Vergnügen. Ich hinterlasse eine Mutter, eine Frau und ein Kind. Ein kleines Kind im Alter von drei Jahren, süß, rosig, zart, mit großen, schwarzen Augen und langen kastanienbraunen Haaren. Sie war zwei Jahre und einen Monat alt, als ich sie zunr letzten Male sah. So werden nach meinem Tode drei Frauen ohne Sohn Gatten, Vater sein; drei Waisen verschiedener Art; drei Ver tvaiste durch die That des Gesetzes. Ich mag gerecht bestraft worden sein, aber was haben diese Unschuldigen verbrochen? Gleichviel! Man entehrt sie, man richtet sie zu Grunde; das ist die Gerechtigkeit. Nicht nieine arme alte Mutter beunruhigt mich, sie ist vicrnndsechzig Jahre alt. sie wird meinen Tod nicht lange überleben. Vielleicht lebt sie auch noch einige Tage, voraus- gefetzt, daß sie bis zum letzten Augenblick noch einige Sous zu verzehren hat; sie wird alles resignirt ertragen. Auch mein Weib beunruhigt mich nicht, ihr Körper ist kränklich und ihr Geist zerrüttet; auch sie wird sterben. Wenn sie nicht wahnsinnig wird. Man sagt, daß der Wahnsinn das Leben verlängert. Der Geist leidet dann keine Schmerzen, er schläft, er ist todt. Nur metrt Kind, meine Tochter, meine arme kleine Marie thut mir so leid l Sie spielt jetzt fröhlich und singt und denkt nicht an die Zukunft. X. Ich beschreibe jetzt mein Gefängniß: Acht Fuß im Geviert; Mauern von Quadersteinen, die sich im rechten Winkel auf einen Boden von Steinfließen stützen, der eine Stufe höher liegt als der äußere Gang. Wenn man zur Thür hereintritt, ist rechter Hand eine Art Vertiefung, die ein wahrer Hohn auf einen Alkoven ist. Dort liegt ein Bund Stroh, auf dem der Gefangene Winter wie Soinmer mit einer Leinenhose und einer Zwillichjacke bekleidet, sckstafen muß. Ueber meinem Haupte die spitzbogenförnüg gewölbte Decke, an der Spinnweben so dick wie Lappen hängen. Das ist mein Himmel. Uebrigens ist kein Fenster da, nicht einmal ein Luftloch; nur eine Thür, an der das Eisen das Holz verdeckt. Doch nein! In der oberen Hälfte der Thür ist eine stark vergitterte Oeffnung von neun Zoll im Geviert, die der Schließer des Nachts zumachen kann. Draußen läuft ein langer Flur hin, der durch schmale Löcher hoch oben an der Wand Licht und Luft erhält. Er ist durch Mauerwerk in verschiedene Thcile zerlegt,'die unter« einander durch eine Reihe bogenrunder und niedriger Thüren in Verbindung stehen. Jede dieser Abtheilungen bildet eine Art Vorzimmer zu einer der meinen ähnlichen Zelle. In diese Zellen setzt man die Sträflinge, die von dem Gefängniß- direktor zu Disziplinarstrafen verurtheilt sind. Die ersten drei Zellen sind für die zum Tode Verurtheilten bestinimt, weil sie in der Nähe der Wohnung des Gefäugnißwärters und darum leicht zu beaufsichtigen sind. Diese Zellen sind Alles. Was vom ehemaligen Schlosse Bicstre sich erhalten hat. so wie es im fünfzehnten Jahr- hundert vom Kardinal von Winchester gebaut ist, der auch die Jungfrau von Orleans verbrennen ließ. Dies hörte ich. als es einigen Neugierigen erzählt wurde, die mich kürzlich in meiner Zelle besuchten und die mich aus eigener Entfernung wie ein wildes Thier betrachteten. Der Schließer bekam da- für hundert Sous. Ich vergaß, zu crtvähncn, das Tag und Nacht ein Wacht- Posten vor der Thür meiner Zelle ist, und daß ich meine Augen nicht zu der viereckigen Luke erheben kann, ohne seinen beiden Augen zu begegnen, die immer fest darauf gerichtet sind. Was für Licht und Luft habe ich in diesem steinernen Kasten I XI. Da der Tag noch nicht angebrochen ist. was soll ich in der Nacht thun? Ein Gedanke ist mir gekommen. Ich bin auf- gestanden und habe mit meiner Lampe die vier Mauern meiner Zelle beleuchtet. Sie sind bedeckt mit Inschriften, Zeichnungen, seltsamen Figuren und Namen, übereinander und durchein- ander. Manchmal ist das eine durch das andere verwischt. Es scheint, als ob jeder Verurthcilte eine Spur von sich, wenigstens hier, hat hinterlassen wollen. Mit Bleistift, mit Kreide, mit Kohle sind schwarze, weiße, graue Buchstaben oft tief in den Stein eingekratzt, hier und da sind Namens- züge von rothbrauner�ärbung, die wahrscheinlich mit Blut geschrieben sind. Wenn ich in besserer Stmunung wäre, würde ich mit Theilnahme in diesem seltsamen Buche lesen, daß Seite für Seite auf jedem Stein dieser Zelle auf- geschlagen ist. Ich würde dann ein Ganzes aus diesen Fragmenten, die auf der Mauer zerstreut sind, zusammen- setzen, würde aus jedem Namen einen Menschen heraus- lesen, würde Sinn und Leben den verstümmelten Inschriften, den abgebrochenen Sätzen, den zergliederten Worten geben, die Körper ohne Kopf sind. Sie erinnern an die, die sie ge- schrieben haben. Mir zu Häupten sind zwei flammende Herzen, von einem Pfeil durchbohrt. Darüber steht:Liebe für's Leben". Der Unglückliche konnte wohl seinem Wahlspruch nicht lange treu bleiben. Daneben sieht man einen dreieckigen Hut und eine kleine grobgczeichnete Figur, mit der Unterschrift:Es lebe der Kaiser I 1824." ' Dann wieder flammende Herzen mit der für ein Ge- fängniß eigenthümlichen Inschrift:Ich liebe und verehre Mathieu Dauvin. Jacques." Auf der gegenüberliegenden Wand liest man den Namen: Passavoine". DasP" ist mit Arabesken verziert und sehr sorgfältig und zierlich geschrieben. Dann weiter eine Strophe aus einem Gassenhauer. Eine Freiheitsmütze tief in den Stein eingemeißelt. Darunter steht:Bories. Die Republik  ." Es war einer der