Unterhaltungsblatt des Vorwärts
Str. 37.
Dienstag, den 21. Februar.
( Nachdruck verboten.)
Der letzte Tag eines Verurtheilten.
10]
Aus dem Französischen von Paul Linsemann.
Es ist zehn Uhr.
XXVI.
Oh, mein armes Töchterchen! Noch sechs Stunden und ich lebe nicht mehr! Ich bin dann ein Untersuchungsobjekt für die kalte Tafel des anatomischen Hörsaals. Auf einer Seite formt man den Kopf ab, auf der anderen Seite zergliedert man den Rumpf. Die Ueberreste wirft man in den Sarg und fort geht es nach Clamart ..
Das werden sie aus deinem Vater machen, diese Menschen, von denen keiner mich haßt, die alle mich beklagen und mich retten könnten. Sie werden mich tödten. Verstehst du das, Marie? Mich faltblütig unter Zeremonien tödten, um der Gerechtigkeit willen.
Brett dabei. Auch wird man auf den Bauch gelegt Meine Haare werden erbleichen, ehe mein Haupt fällt! XXVIII.
Einmal habe ich sie jedoch schon gesehen.
1899
Ich fuhr eines Tages gegen elf Uhr Vormittags über den Grêveplay. Plößlich hielt der Wagen.
Ich steckte den Kopf zur Wagenthür hinaus. Eine Menschenmenge hatte sich auf dem Grêveplay und dem Quai angesammelt. Weiber, Männer nnd Kinder standen am Geländer. Ueber den Köpfen sah man ein Gerüst aus rothem Holz, das von drei Männern aufgerichtet wurde.
Ein Verurtheilter sollte noch am selben Tage hingerichtet werden, und für ihn baute man die Maschine auf.
Ich wandte den Kopf zur Seite, ehe ich hingesehen hatte. Neben meinem Wagen stand eine Frau, die zu einem Stinde sagte: ,, Siehst Du! Das Messer fällt nicht gut. Sie werden die Rinne mit Talg einschmieren."
Damit sind sie wahrscheinlich auch heute beschäftigt. Es schlägt elf Uhr. Sie schmieren ohne Zweifel die Ninne ein. Diesmal kann ich den Kopf nicht zur Seite wenden. Ach, ich Unglücklicher! XXIX.
Arme Kleine! Deinen Vater werden sie tödten, der dich so sehr liebte, der deinen füßen, weißen, kleinen Hals füßte, der so oft in deinen seidenweichen Locken spielte, der dein hübsches rundes Gesichtchen zwischen seinen Händen hielt, der dich auf seinen Knien reiten ließ und der des Abends deine Patschhändchen zusammenlegte, damit du beten solltest. O Begnadigung! Begnadigung! Vielleicht wird man mich Wer wird nun das Alles mit dir thun? Wer wird dich begnadigen. Was sollte auch der König gegen mich haben! lieben? Alle Kinder in deinem Alter haben noch einen Man hole einen Vertheidiger her, aber schnell! ch will gern Vater, nur du nicht. Wie wirst du dich der Feier des ins Zuchthaus. Fünf Jahre ja selbst zwanzig Jahre- Namenstages, der Neujahrsgeschenke, der schönen Spielsachen, sogar lebenslänglich mit der Brandmarkung, aber schenkt mir der Bonbons und der Küsse entwöhnen, mein Liebling? Wie das Leben! wirst du dich der Speise und des Trankes entwöhnen, arme Waise?
Ja, wenn die Geschworenen wenigstens meine hübsche fleine Marie gesehen hätteit, so würden sie eingesehen haben, daß man nicht den Vater eines dreijährigen Kindes tödten darf.
Und wenn sie herangewachsen ist( vorausgesetzt, daß sie so lange lebt), was soll dann aus ihr werden? Ihr Vater lebt noch in der Erinnerung von ganz Paris . Sie wird über mich und den Familiennamen erröthen. Sie wird verachtet und verstoßen werden, meinetwegen geringgeschätzt, meinetwegen, der sie mit allen Fibern feines Herzens liebt. Oh, meine fleine einzig geliebte Marie! Ist es wahr, daß Du Dich meiner schämen und mich verabscheuen mußt?
Ich Unglücklicher! Welches Verbrechen habe ich begangen und zu welch einem Verbrechen gebe ich der Gesellschaft Anlaß!
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Ein Sträfling fann doch umhergehen, er sieht die Sonne!
XXX.
Der Priester ist wieder bei mir.
Er hat weiße Haare, sieht sehr milde aus und macht einen ehrwürdigen Eindruck. In der That ein bortrefflicher und mildthätiger Mann. Heute früh bemerkte ich, wie er seine Börse in die Hände der Gefangenen leerte. Woher tommt es, daß seine Stimme weder bewegt noch erregt ist? Woher fommt es, daß er zu mir noch nichts geredet hat, was meinem Geiste oder meinem Herzen zugesagt hätte?
Heute früh war ich zerstreut. Ich hörte kaum, was er mir fagte. Denoch schienen mir seine Worte recht überflüssig. Sie machten nicht den geringsten Eindruck auf mich. Wie der naßtalte Regen draußen, so glitten sie an mir ab. Aber als er eben in meine Zelle trat, that mir sein Anblick sehr wohl. Unter all diesen Menschen ist er der einzige, der noch so etwas Menschliches für mich übrig hat, sagte ich mir. Und ich dürftete nach guten und tröstenden Worten. Wir setzten uns. Er auf den Stuhl, ich auf das Bett. Er begann: Mein Sohn..." Dies Wort öffnete mein
Oh, ist es wahr, daß ich noch vor dem Ende dieses Tages sterben muß? Wirklich? Das dumpfe Getöse, das ich von draußen vernehme, die ausgelassene Menge, die sich schon auf den Quais drängt, die Gendarmen, die sich in ihren Kasernen bereit machen, der Priester in schwarzer Robe, der Mann mit den blutigen Händen das Alles gilt mir? Ich soll sterben! Herz. Dann fuhr er fort: Jch, der nämliche, der hier sitzt, lebt, sich bewegt, athmet, seinen Platz an diesem Tische hat, der wie ein anderer Tisch aussieht und ganz gut wo anders stehen könnte; kurz, ich, dieses Jch, das ich berühre und fühle und dessen Anzug die Falten macht, die ich hier sehe!
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XXVII.
Wenn ich doch nur wüßte, wie es ist und wie man dort stirbt. Aber, es ist schrecklich- ich weiß es nicht.
Der Name des Dinges ist entsetzlich, und ich begreife nicht, wie ich ihn bis jetzt habe niederschreiben und aussprechen tönnen.
Die Zusammensetzung dieser zehn Buchstaben, ihr Anblick, ihre Physiognomie ist ganz dazu angethan, um eine furchtbare Vorstellung zu erwecken, und der unheilvolle Arzt, der das Ding erfunden, hatte einen prädestinirten Namen.
"
Mein Sohn, glaubst Du an Gott ?" Ja, mein Vater."
,, Glaubst Du an die heilige, apostolische, römisch- katholische Kirche
?"
Gewiß."
Du scheinst zu zweifeln, mein Sohn."
Er sprach lange auf mich ein und machte viele Worte. Als er genug zu haben glaubte, erhob er sich und sah mich zum ersten Male seit Beginn seiner Rede genau an und fragte: „ Nun?" Ich betheuerte, daß ich ihm zuerst mit Eifer, dann mit Aufmerksamkeit, hernach mit Ergebung zugehört hätte. Ich erhob mich gleichfalls.
Das Bild, das ich mit dem gräßlichen Wort verbinde, ist undeutlich und unbestimmt, aber gerade deshalb um so unheimlicher. Jede Silbe ist gleichsam ein Stück der Maschine. Ich er baue aus den Silben unaufhörlich die Maschine- und reiße sie dann wieder ein.
Ich wage es nicht, mich danach zu erkundigen und doch ist es fürchterlich, nicht zu wissen, wie es ist und wie man sich zu benehmen hat. Soviel ich weiß, ist ein bewegliches
Bitte, lassen Sie mich allein." " Wann soll ich wiederkommen?"
" Ich werde es Ihnen sagen lassen."
Dann ging er hinaus, ohne ein Wort zu sagen. Aber schüttelte doch den Kopf, als ob er bei sich sagte: Ein Gottloser."
"
-
Nein ein Gottloser bin ich nicht. Aber was hat mir der Greis gesagt? Nichts Empfundenes, das einen zur Selbsteinkehr führt, das einem Thränen entlockt, das einem die Seele erschüttert, das von Herz zu Herzen geht. Nichts