Mnterhaltungsblatt des Worwürts Nr. 39. Donnerstag, den 23. Februar. 1899 (Nachdmck verboten.) Dvv lelzkv Tag eines Veeuvtheilien' 12] Von Victor Hugo  . Aus dem Französischen von Paul Linsemann. Doch kaum war ein Jahr verflossen, so jagten wir umher und rauften uns. Ich machte Pepita den schönsten Apfel des Apfelbaumes streitig, ich prügelte sie wegen eines Vogelnestes. Sie wüthete und ich sagte:Das ist Dir ganz recht." Darauf eilten wir beide zu unseren Müttern, um uns zu be- klagen. Sie gaben uns scheinbar unrecht und im Stillen recht. Jetzt stützt sie sich auf meinen Arm und ich bin darüber ganz stolz und gerührt. Wir gehen langsam und plaudern leise. Sie läßt ihr Taschentuch fallen, ich hebe es ihr auf. Unsere Hände zittern, als sie sich berühren. Sie plaudert mir von den jungen Vögeln, von dem Stern, der da unten blinkt, von dem glühenden Sonnenuntergänge dort hinter den Bäumen. Oder auch von ihren Freundinnen aus der Pension, von ihren Kleidern und Bändern. Wir schwätzen über harmlose Dinge und erröthcn alle Beide darüber. Aus dem kleinen Mädchen ist eine Jnngfran geworden. Jenen Abend, es war ein Sonnabend, saßen wir unter den Kastanienbäumen anr Ende des Gartens. Nach einer der langen Pausen, die auf unseren Spaziergängen oft vor- kamen, ließ sie meinen Arm los und sagte:Lausen wir um die Wette!" Ich sehe sie noch: sie war ganz in Schwarz gekleidet. Sie trauerte um ihre Großmutter. Ein kindischer Gedanke ging ihr durch den Kopf. Pepa wurde wieder Pepita, sie sagte zu mir:Laufen   wir um die Wette!" Und sie lief vor mir her mit ihrer schlanken Taille wie ein Bienchen. Die kleinen Füße schlugen ihr Kleid bis an die Waden empor. Ich verfolgte sie, aber sie blieb mir voraus. Der Wind, den sie beim Laufen verursachte, hob von Zeit zu Zeit ihr Halstuch und ließ mich ihren bräunlich glänzenden Nacken sehen. Ich war außer mir. Ich erreichte sie in der Nähe des alten verfallenen Brunnens. Ich ergriff sie mit dem Recht des Siegers beim Gürtel und zog sie auf eine Rasenbank nieder. Sie leistete keinen Widerstand, sie war außer Athem und lachte. Ich aber war ganz ernst und sah ihr in die dunklen Augen durch die schwarzen Wimpern. Setzen Sie sich zu nur," sagte sie.Es ist hell. Lesen wir etwas. Haben Sie ein Buch?" Ich hatte den zweiten Band der Reisen von Spallanzani  bei mir. Ich schlug ihn aufs Gerathewohl auf und rückte näher an sie heran. Sie lehnte ihre Schulter an meine, und wir lasen ein jeder ganz leis dieselbe Seite. Wenn wir das Blatt umdrehen wollten, mußte sie immer auf mich warten. Mein Geist ging langsanier als der ihre. Sind Sie fertig?" fragte sie. wenn ich kaum angefangen hatte. Unsere Köpfe berührten sich, unser Haar floß in- einander über. Wir fühlten unfern Athem immer näher und näher... und plötzlich fand sich der Mund zum Munde. Als wir weiter lesen wollten, funkelte der Himmel schon in Sterncnpracht. Ach Mama, Mama," sagte sie, als wir zurückgekommen waren,wenn Du wüßtest, wie wir gelaufen sind." Ich aber schwieg. Du sagst ja gar nichts." sagte meine Mutter,Du scheinst traurig zu sein." Ich hatte ein Paradies im Herzen. Ein Abend, an den ich mein ganzes Leben lang denken werde! Mein ganzes Leben lang I XXXIV. Die Uhr hat soeben geschlagen. Ich weiß nicht, wieviel. Ich höre die Glockenschläge zu undeutlich. Es kommt mir vor, als hörte ich den Schall von Orgcltönen in meinen Ohren. Es sind meine letzten Gedanken, die dort brausen. In diesem hehren Augenblicke, wo ich andächtig in meinen Erinnerungen versinke, finde ich mit Schaudern mein Ver- brechen darin. Ich wollte, ich könnte noch mehr Reue empfinden. Vor meiner Verurtheilung hatte ich noch mehr Gewissensbisse. Seither ist nur noch Raum für die Todesgedanken vorhanden. Dennoch möchte ich gern noch soviel bereuen. Als ich eine Minute lang träumte, was sich in meinem Leben ereignet hat und ich mich dann an den Beilhieb erinnerte, der es bald be- enden soll, bebte ich wie vor etwas ganz Neuem. Meine schöne Kindheit l meine schöne Jugend I Goldiger Stoff mit blutigem Rande. Zwischen damals und jetzt fließt ein Blut- ström; das Blut des Andern und das meine. Wenn man eines Tages meine Geschichte liest, wird man nicht glauben wollen, daß auf soviele Jahre der Unschuld und des Glückes dies verruchte Jahr folgen konnte, das mit einem Verbrechen beginnt und mit einer Hinrichtung schließt. Es paßt gar nicht zu den vorigen. Erbärmlich sind die Gesetze und die Menschen, ich war nie bösartig. In wenigen Stunden sterben zu müssen und zu denken. daß ich vor einem Jahre an einem gleichen Tage noch frei und schuldlos war, daß ich meinen Herbstspaziergang machte, unter den Bäumen wandelte, die welken Blätter mir zu Füßen. XXXV. In diesem Augenblick sind um mich her, in den Häusern, die den Justizpalast und den Greveplatz umgeben,, und überall in Paris   Menschen, die gehen und kommen, schwätzen und lachen, ihre Zeitung lesen und an ihre Geschäfte denken; Kaufleute, die Handel treiben, junge Mädchen, die ihre Ball- roben für heute Abend zurecht machen, Mütter, die mit ihren Kindern spielen. XXX\ I, Ich erinnere mich, daß ich eines Tages, als ich noch ein Kind>var, den Thurm von Notre-Dame   bestieg, um mir die große Glocke anzusehen. Ich war schon schwindlig, als ich die finstere Wendeltreppe hinaufgestiegen und über die schmale Galerie, die beide Thürme verbindet, geschritten war. Paris   lag zu meinen Füßen. als ich in den Käfig aus Mauersteinen und Balkenwerk trat, wo die Glocke mit dem Klöppel hängt, der tausend Pfund wiegt. Zitternd schritt ich über die fest gefügten Planken und betrachtete in einiger Entfernung die Glocke, die bei den Kindern und beim Volke von Paris   so berühmt ist. Nicht ohne Schrecken bemerkte ich, daß das mit Schiefer gedeckte Wetterdach um den Glockenthurm mit meinen Füßen gleich- lief. In den Zwischenräumen sah ich wie aus der Vogelschau den Platz Parvis-Notre-Dame und die Fußgänger, die gerade so groß wie Ameisen aussahen. Plötzlich schlug die riesengroße Glocke. Eine gewaltige Erschütterung durchzog die Luft. Der schwere Thurm gerieth ordentlich ins Schwanken. Der Bretterboden auf den Balken sprang in die Höhe. Der Schall hätte mich beinahe um- geworfen. Ich wankte und war dem Stürzen nahe. Fast wäre ich auf das abschüssige Schieferdach gerutscht. Vor Schreck legte ich mich auf die Dielen und drückte mich mit beiden Armen fest darauf. Lautlos und athemlos lag ich da, mit dem furchtbaren Brausen in den Ohren. Unter meinen Augen den Abgrund. In der Tiefe der Platz, wo so viele harmlose und glückliche Fußgänger sich kreuzten. Mir kommt es vor, als sei ich noch auf dem Glocken- thurm. Ich bin betäubt und geblendet. Es ist mir, als ob ein Glockengetön die Höhlen meines Gehirns erschüttert und in der Ferne sehe ich durch die Spalten eines Abgrundes das gleichförmige Leben, das ich verlassen muß, und in dem die anderen Menschen noch ruhig wandeln. XXXVII. Das Stadthaus ist ein furchtbares Gebäude. Mit seinem spitzen und steilen Dache, seinem bizarren Glockenthürmchen, seinem großen weißen Zifferblatt, seinen Stockwerken mit den kleinen Säulen, seinen zahllosen Fenstern, seinen von Fußtritten abgenutzten Treppen, seinen beiden Bogen rechts und links, steht es auf der gleichen Höhe mit denr Greveplatz; unfreundlich und unheimlich, die Fassade vom Alter zerfressen und so schmutzig, daß nicht einmal die Sonne es heller tönt. Am Tage einer Hinrichtung speit es mrs allen Thüren Gendarmen aus und starrt den Verurtheiltcn mit all' seinen Fenstern an.