Hnlerhaltungsblatt des Jorwärts Nr. 72. Mittwoch, den 12. April. 1893 (Nachdruck verlöten.) 7] Der Schuldige? Roman von Hector Malot. ««hl" »Ist Ihnen das peinlich?** »Nicht im geringsten, und wenn ich aufrichtig sein soll, so finde ich. daß bei einem zu verheiratendeir Mädchen keine Eigenschaft beruhigender ist, als die eines Bastards; voraus- gesetzt natürlich, daß das Mädchen Geld hat." »Dies ist hier der Aall. Vor sieben- oder achwndzwanzig Jahren kam ein hübsches Mädchen aus Thuit nach Paris und trat dort in einem großen Geschäfte der Nue de la Paix als Modistin ein. Sie war geschickt und fleißig, und nach einigen Jahren errichtete sie am Boulevard Haußmann ein eigenes Magazin und hatte guten Erfolg. Etwa um dieselbe Zeit, also vor zwanzig Jahren, genas sie eines Töchterchens. Wer der Vater dieses Kindes war, weiß ich nicht, aber so viel steht fest, daß sie es zärtlich erzog und dabei ihr Geschäft nicht vernachlässigte, so daß sie vor zehn Jahren bei ihrem Tode siebzigtausend Franken bares Geld hinterließ, außerdem ihr Magazin, das für dreißig- tausend Franken übernommen wurde. Die jungeWaise gelangte als­dann unter die Vormundschaft ihres Onkels mütterlicherseits, eines meiner Klienten. Derselbe ist Apfclwcinhändler und Beigeordneter des Maires in Thuit, ich kann Ihnen Wohl seinen Namen sagen, er heißt Benoit Gibourdel. Der ist nun zwar ein geriebener Bauer und hat es verstanden, ein großes Vernwgen anzusammeln, aber gleichzeitig führt er ein aus- gelaflenes Junggesellenleben; der Pfarrer von Thuit war des- halb mit Recht der Meinung, daß sein Haus kein schicklicher Aufenthalt für das Mädchen sei und bcwog Gibourdel, das- selbe in einem der besten Klöster Rouens unterzubringen, wo es erzogen worden ist und sich noch jetzt befindet. Nun wissen Sie alles. Wenn Ihnen also mein doppelter Vorschlag zusagt, so lade ich Sie aus nächsten Sonntag zu mir nach Oissel ein; kommen Sie zeitig genug, um mein Bureau gründlich prüfen zu können, und um 11 Uhr werden Sie zusammen mit Benoit Gibourdel frühstücken, damit ich Sie beide einander vorstelle." Da Sie bereits für alles gesorgt haben, so bleibt mir nur übrig, Ihnen zu danken; also auf Sonntag." Auf Sonntag!" VII. Courteheuse hatte schnell berechnet, wieviel er miS dem Bureau von Oissel herausschlagen könnte; er hütete sich aber wohl, etwas von seinen Ansichten merken zu lasten. Er be- griff, daß Vater Rotin mit seinem offenen und ehrlichen Charakter sich auch einen gleichgesinnten Nachfolger für die Uebernahme seiner Geschäfte wünschte, da wäre es höchst ungeschickt gewesen, ihm schon im voraus zu zeigen, daß sie über die Handhabung des Notariats durchaus nicht gleicher Meinung seien. Er verhehlte darum seine hochfliegenden Pläne und stellte sich ganz bescheiden, wünsch- und bedürfnislos. Geld verdienen fft ja gewiß angenehm, aber schließlich doch nicht alles im Leben, und wenn man Geld verdienen wich so ist mancher Beruf bester, als der eines Notars." Das höre ich gern von Ihnen. Giebt es eine schönere Rolle in der Gesellschaft, als die des Notars?" antwortete der auf seinen Beruf stolze Vater Rotin. Der Sonntag ist gewöhnlich bei den Notaren auf dem Lande der Tag, an welchem sie die meiste Arbeit haben, allein in Oissel war der Zudrang der Kunden überhaupt nicht außerordentlich, und diejenigen, welche an jenem Sonntage kamen, wurden noch schneller als gewöhnlich Alexis an- vertraut. Um halb elf Uhr schlug Vater Notin Courtheheuse vor, Benoit Gibourdel auf der Straße nach Orival entgegen zu gehen, als sie jedoch eben zum Garten hinaustraten, sahen sie von weitem auf einem Schimmel einen Mann in blauer Bluse einherreiten, besten Kopf mit einem hohen, breit- krämpigen Cylinderhute bedeckt war. Das ist er," sagte der Notar. Während der Reiter sich in friedlichem Trabe näherte. hatte Courteheuse Zeit, ihn ins Auge zu fasten. Es war ein Mann von untersetzter Gestalt, der die Sechzig überschritten haben mochte, aber doch noch sehr rüstig aussah. Sein hoher Hemdkragen umgab den Kopf, wie eine Papierdüte einen Blumenstrauß; da3 frisch rasierte Gesicht zeigte kleine, graue scharfblickende Augen, deren boshafter Blick durch das Lächeln breit aufgeworfener, sinnlicher Lippen gemildert wurde. Vor dem Gitter angelangt, sprang er leicht zur Erde, hielt den Zauni seines Tieres mit der Linken und reichte die Rechte dem Notar: Guten Tag, Herr Nosin, ich habe die Ehre... Hoffentlich bin ich nicht zu sehr verspätet; ich habe mich unterwegs nicht aufgehalten, aber es ist doch ein ordentliches Ende von Thuit bis hierher." Es fiel ihm nicht ein, seinen Schimmel ins Gasthaus zu bringen, wo er ihn ja Geld gekostet hätte; er führte ihn hinter das HauS nach dein kleinen Hofe, band ihn dort fest und leerte ein Säckchen Hafer vor ihm aus, das er in seinem Mantelsack mitgebracht hatte, denn er wollte zwar nichts unnütz ausgeben, aber ebenso wenig auch seinen Freunden Kosten machen.Jeder fiir sich I" das war sein Wahlspruch. Nachdem er so fiir sein Pferd gesorgt, machte er sich an seine Toilette; er legte seine Bluse ab, deren Indigo auf seine Hände abgefärbt hatte der Gebrauch von Handschuhen war ihm stets fremd geblieben dann trat er in die Küche um sich zu waschen, und bezahlte das frische Handtuch, das ihm die Magd reichte, mit einem tüchtigen Schmatz auf ihren Nacken. Der Hausherr wird nichts davon erfahren," sagte er lachend. Das kann ihm doch gleichgültig sein l" Ist es möglich Damit trat er in das Eßzimmer ein, wo ihn der Notar und Courteheuse erwarteten. Dieser bemerkte, wie der alte Bauer, den er soeben gesehen hatte, in eine Art von Monsieur umgewandelt war, der sich in seinem grünen Tuch- rock und seiner geblüntten Seideniveste ganz behaglich zu fühlen schien. Man setzte sich zu Tische und das Dienstiuädchen trug eine zugedeckte irdene Suppenschüssel auf. die mit einer Serviette umwickelt war. Lieben Sie Kuddclflecke?" fragte der Notar Courteheuse. Ich ginge meilenweit, um welche zu bekommen." Wir esten jeden Sonntag welche, und ich dachte. Sie seien vielleicht noch nicht Stadtherr genug, um dieses länd­liche Gericht zu verschmähen." Ich versichere Sie, lieber Herr Notar, was die Nahrung bettifft, so bin ich ganz Bauer geblieben und ziehe den feinsten Speisen einen Teller Kraut mit Speck oder Hammelfleisch mit Erdäpfeln vor; dabei liebe ich tüchtige Portionen; wenn man in seiner Jugend an Entbehrung gewöhnt worden ist, so will man später das Versäumte nachholen." Und die Frauen? Welche gefallen Ihnen am besten? Etwa auch die ttichttgen Portionen?" frug Bennoit Gibourdel, welcher es liebte, direkt auf sein Ziel loszugehen. WennCourteheusegeglaubthätte, in dieser Unterredung könne er ohne Gefahr seine Meinung sagen, so würde er geantwortet haben, daß er im Punkte der Liebe demselben Geschmack huldige, wie in gastronomischer Beziehung: allein er wußte ja noch garnicht, wie die Frau aussah, die er heiraten sollte; ein offenes Bekenntnis wäre unter diesen Umständen sehr unvorsichtig gewesen. Er sagte daher: Ich liebe sie alle." Gibourdel stieß mit ihm an und sagte: Ihre Autwort macht mir Vergnügen, denn ich will Ihnen gleich sagen, daß meine Nichte keine zweihundert Pfund wiegt. Indessen nehmen Sie sie doch gewiß nicht nach dem Gewicht." Lachend leerte er sein Glas Apfelivein in einem Zuge und bemerkte zum Notar: Ein gutes Gewächs. Kommt es von Ihrem eigenen Gute?" Ja, ich selbst habe alle Apfelbäume, von denen diese Keltening geliefert wurde, gepflanzt." Er schmeckt indessen doch ein wenig herb; ich ziehe eine Beimischung von Süßäpfeln vor, welche die Säure ans» gleicht.".