Zlnterhaltungsblall des HorwärisNr. 91.Mittwoch, den 10. Mai.1899(Nachdruck verlöten.)26] Der S�zuldrge?Roman von Hector Malot.IV.Als Mederic in Begleitung seiner Mutter zum erstenmalBesuch bei Herrn und Frau La Vaupaliere gemacht hatte,äußerte er sich beim Nachhausegehen nicht gerade freundlichüber Hortense:„Das ist ja keine Frau, das ist ein Junge."Sie bemühte sich, ihn umzustimmen; sie machte ihn aufihren scharfen Verstand aufmerksam; allein er blieb bei seinerAnsicht.„Zllles, was ich Dir zugeben kann," sagte er,„ist, daßdieser Junge durchtrieben, originell und amüsant sein mag;aber von Weiblichkeit keine Spur!"Dieses Urteil entsprach feiner bisherigen Geschmacksrichtung,die ihn an Frauen zumeist die üppigen Reize hatten schätzenlassen. Um so mehr erstaunte er über sich selbst, als er schonnach einer Woche wahrnahm, daß ihn diese hagere Frau aufslebhafteste beschäftigte und daß ihr Bild durch nichts aus seinerErinnerung zu bannen war.Ihr drolliges Wesen muß es sein, dachte er, das sie sointeressant macht, und er wunderte sich dariiber, daß eine Frauohne jeden körperlichen Vorzug und ohne ein Wort zusprechen, durch die bloße Absonderlichkeit ihrer Nase oder ihresMundes geistreich erscheinen konnte. Er mußte jetzt erkennen,daß dieser Junge wirklich eine Frau war, und daß ihn nochnie eine Frau so eingenommen, so aufgeregt hatte, wie diese.Wenn er in ihrer Nähe war, so verlor er sie nicht aus denAugen; war er fern von ihr. so suchte er sie, und unaufhör-lich sprach er mit jedermann von ihr, unt seiner Mutter,seinen Kollegen im Bureau, mit Turlure, den er über dieFrau ihre Vergangenheit, ihre erste Ehe. ihren erstenManu ausforschte. Turlure, sonst so redselig, hielt sichin seineu Antworten sehr zurück; er sagte ihm nur, eshabe der intelligent veranlagten Frau nichts als eine guteErziehung gefehlt, um einen hervorragenden Geist zu ent-wickeln, und schweifte dann auf das Thema der klösterlichenErziehung ab, die er für mangelhaft erklärte. Was den erstenMann Hortenses betreffe, so sei sie nicht glücklich mit ihmgewesen, denn er habe sie grob und roh behandelt. AlsMederic noch weiter fragte, bemerkte Turlure mit seiner durch-dringenden Polizeimiene:„Madame La Vaupaliere scheint Sie demnach sehr zuinteressieren?"Mederic wurde verlegen und antwortete:„Mich interessiert alles Originelle und Geheimnisvolle."„Warum glauben Sie, es gebe etwas Geheimnisvolles indem Leben von Frau La Vaupaliere?"„In ihrem Leben? Das weiß ich nicht, aber in ihremWesen sicher I Sie ist so verschieden von anderen Frauen,und meine Frage hat nur den Zweck, mir den Grund dieserVerschiedenheit zu erklären."„Halten Sie es ftir heilsam, mein junger Freund, denCharakter der Frauen zu studieren?"„Ich weiß nicht."„Ich wünschte nun nicht, daß Sie sich in die Erforschungdieser Frau gerade am allerwenigsten vertieften, denn sie isteine Art von Sphinx, und vergessen Sie nicht, daß die Sphinxdes Oedipus die Unklugen tötete, welche ihre Rätsel zu lösensuchten!"„Aber diese Rätsel waren schließlich doch nicht unlösbar,da Oedipus ja das vom Tier mit den vier Füßen erriet."„Wollen Sic etwa Madame La Vaupaliere zum Todeverurteilen, indem Sie das ihrige raten und sie, wieOedipus die thebanische Sphinx, zwingen, sich in die Flutenzu stürzen?"„Könnte das geschehen?"„Ich weiß nichts davon, wie Sie sich leicht denkenwerden; ich spreche nur vom Gesichtspunke der Fabel aus."„Ich natürlich auch."„Das ist mir sehr lieb, denn ich bleibe dabei, daß esgefährlich für junge Leute ist. sich auf die Erforschung derCharaktere von Frauen einzulassen; man denkt beständig ansie, und eines schönen Tages ist man gefangen, wird von derLeidenschaft ergriffen und verliert alle Ruhe und Fröhlichkeit;und das ist vom Uebel, denn schon Plinius hat mit vollemRechte gesagt, der Erfolg der Studien liege im Frohsinn."Turlure war innerlich stolz darauf, feinem jungenFreunde diese Zurechtweisung erteilt und durch die An»Wendung einer lateinischen Sentenz semem Geiste eingeprägtzu haben. In der That sprach der junge Freund nicht mehrmit ihm von der Sphinx.„Den habe ich vom Rande des Abgrundes gerettet k"dachte er. Und da er alles, was er that, Madame Turluremitteilte, so mußte auch diese den Inhalt des mit Mederiegeführten Gesprächs erfahren Allein Frau Turlure zankteihn aus:„Was für Ideen Du doch hast! Der wohlerzogene, zarte,anständige Junge könnte sich in Madame La Baupakisre ver»lieben!"„Nun. La Vaupaliöre hat sich doch auch in sie verliebt."„Ach was, La Vaupalisre ist ein ganz anderer Mensch,als Mederic. Wie Du nur zu solchen Einfällen kommst, undwas diese Frau �nur an sich hat, um Euch allen den Kopf zuverdrehen!"„Mir?"„Jawohl, Dir so gut wie den anderen. Wie gerätst Dunur auf die Idee, dieser wackere junge Mann könnte sich indie Frau verlieben?"„Nun. weil er sich so angelegentlich mit ihr beschäftigt.Uebrigeus widersprichst Du Dir selbst, indem Du für unmög-lich erklärst, daß Herr Artaut sich in sie verliebe, und gleich»zeitig behauptest, sie verdrehte uns allen den Kops."„Bei Euch alten Herren ist das etwas anderes. Eucherhitzt ihr sonderbares Wesen, ihre herausfordernde Dreistig-keit, ihr Mund, der alles verspricht; aber einen ehrbarenjungen Mann, wie Herr Artaut. lassen derarttge VerführungS-künste, eine derartige Vermischung von Unschuld und Frechheitvöllig gleichgültig."Turlure fand den von seiner Frau gebrauchten Ausdruck„Unschuld und Frechheit" sehr bezeichnend, sehr treffend.Beide vergaßen aber, daß das, was ihrem erfahrenen Blickan den Geberden und Mienen von Madame La Vaupalisreals frech erschien, für Mederic einfach originell und drolligwar. Diese Frau dünkte ihm in allem verschieden von denbeständig ruhigen, kalten, würdigen und korrekten, die erbisher gekannt, und in diesem Unterschiede lag für ihnder Reiz.Auch wäre sie ihm wahrscheinlich gleichgültig geblieben,wenn sie und ihr Gatte wirklich das verliebte Paar gewesenwären, von welchem man ihm gesprochen hatte; denn nichtsbeschützt eine Frau so sehr, als daß man weiß, daß sie liebtund geliebt wird. Allein es gehört wenig Scharfblick dazu,sich vom Gegenteil zu überzeugen. Sechs Monate vor seinerAnkunft in Otffcl hatte dort eine Schauspielerin niederenRanges aus Paris, bekannt durch ihre galanten Aben-teuer, ein Schloß am Seineufcr gekaust, welches sie miteinem Cirkusstallmeister, ihrem Verlobten, zu bewohnen ge»dachte. Allein am Hochzeitsabend war es zwischen den Neu-vermählten zu argen Händeln gekommen, die eine Scheidungunvermeidlich machten, und La Vaupalisre. durch dessen Vermittlung das Schloß gekauft worden war, stand Frau RosaMialoux als Rechtsrat in dem Prozesse bei. Seitdem er-zählten die Schreiber des Notariats einander mehr oderweniger verblümt, daß ihr Prinzipal nicht nur der Rechts-beistand, sondern auch der Freund und Tröster der verlassenenDame geworden sei. obwohl sie gut zwölf Jahre mehr als erzählte.Daß dem wirklich so war, schienen die häufigen Besuche,die der Notar auf dem Schlosse machte, sowie seine häufigen,nicht durch den Prozeß motivierbaren Reisen mit seinerKlienttn nach Ronen und Paris klar zu beweisen. Von alle-dem mußte auch Madame La Vaupalisre Kenntnis haben;war daraus nicht der Schluß gerechtfertigt, daß auch sie ge-neigt wäre, einen Tröster zu acceptiercn?Watum sollte er nicht den Versuch wagen, es zu werden?V.Madame Artaut wünschte, daß ihr Sohn seine freie Zeitmöglichst in ihrer Nähe verbringe und kein Bedürfnis fühle,