Mnterhatttmgsblatl des Woriväris Nr. SS. Sonntag, den 21. Mai. 1899 (Nachdruck verboten.) S3Z Der Schuldige? Roman von Hector Malot . „Da die Scheidung die Sonderung des Vermögens nach sich zieht, so würde der Ehemann, der selbst nichts hat. sehr in Verlegenheit kommen. Darum ist möglich, daß er keine Scheidung verlangen möchte, und andererseits richtet er sich auf eine Weise ein. daß seine Frau eine Scheidung gegen ihn nicht verlangen kann. Wenn der Tod die Ehe auflöst. so hat das auf die materiellen Interessen nicht dieselbe Rück- Wirkung wie die Scheidung oder die Trennung von Tisch und Bett." „Nun bist Du wieder auf Deine Idee zurückgekommen." „Man muß, wenn man eine Lage ins Auge faßt, sie von allen Seiten prüfen. Warten wir nur den Besuch des Zimmer- Mädchens ab." „Und wenn es nicht käme?" „So würde keine Vergiftung oder keine Fortsetzung der- selben vorliegen, was nach den gewechselten Drohungen sehr möglich ist, und dann würde ich mich nur noch mit dem Tode von Courteheuse zu beschäftigen �haben." Erst am Sonnabend fand der erwartete Besuch der Zofe statt. Es war Zeit, denn Turlure fing an. die Hoffnung zu verlieren. Einerseits empfand er eine wirkliche Befriedigung darin. sich sagen zu können, daß„seine Gemeinde nicht der Schau- platz eines neuen Verbrechens sein würde." Aber andererseits fand er eine beunruhigende Eni- täuschung bei dem Gedanken, daß dieses neue Verbrechen zur Entdeckung des ersten vortrefflich beigetragen haben würde. Und das berührte ihn bei dieser Angelegenheit auf das leb- hafteste, daß durch ihn ein unbekannter Mord an das Licht gezogen, daß das schuldige Paar dem Gericht überliefert, die öffentliche Strafrechtspflege, als deren obersten Verteidiger in seiner Gemeinde er sich betrachtete, Genugthuung erhalten würde. Darum sah er mit brennender Begier dem Besuch Divinens entgegen. Es gab Augenblicke, wo ihn die Ungeduld des Wartens so auffegte, das er sein Pult verließ, sich auf die Thür- schwelle stellte und seine Brillengläser hinauffchiebend, um Keffer ins Weite sehen zu können, die Straße, in der das Notariat lag, hinabspähte. Endlich ani Sonnabend morgen sah er Divine. etwas unter ihrer weißen Schürze tragend, eintreten.— dieses Etwas war ein Konfitürenglas. Mit einer beinahe brutalen Hast riß er ihr das Glas aus der Hand und nachdem er den Gehilfen hinausgeschickt hatte, fragte er sie auf das umständlichste über das Unwohlsein so- wie über die genommenen Mahlzeiten aus. „Gut", sagte er, nachdem er ihren ausführlichen Bericht angehört, nun lassen Sie mich arbeiten und koinmen Sie morgen wieder." „Sie werden mir doch etwas geben, das mich wieder herstellen wird?" „Ich hoffe es." „Es wäre endlich Zeit!" Als sie ihn verlassen hatte, eilte er nach seinem Labora- torium und schloß sich in dasselbe ein. Die Diagnose einer Arsenikvergiftung, wenigstens einer solchen von chronffcher Form, ist oft schwer festzustellen, da- gegen aber bietet eine Untersuchung nach dem bloßen Vor- handensein von Arsenik dem Chemiker nicht dieselben Schwierigkeiten wie eine solche nach vielen anderen Giften, z. B. nach vegetabilischen, und für Turlure, der sich seit acht Tagen in seinen Büchern der Giftlehrc und in chemischen und pharmazeutischen Zeitschristen geschanzt hatte, bot diese Unter- fuchung keine Mühe. Enthielt die von Divine überbrachte Flüssigkeit Arsenik ? Das war die Frage, die geprüft und entschieden werden nuißtc; hatte er diese Frage einmal bejaht, so gedachte er den Arsenik herauszuziehen und zu isolieren. Als Frau Turlure erfuhr, daß daS Zimmermädchen von Frau La Vaupalidre dagewesen sei, Pochte sie an die Thüre des Laboratoriums, aber ihr Mann öffnete nicht, sondern frug durch die Thüre: „Bist Du es, Töte-Bonne?" »Ja-" „Ich arbeite jetzt, wenn ich weiter mit meiner Untersuchung vorgeschritten sein werde, werde ich Dir öffnen." Sie kam ein zweites, ja ein drittes Mal wieder, und er gab ihr jedesmal dieselbe Antwort. Endlich holte er sie selbst: „Du hast etwas?" ffug sie ängstlich. „Du wirst sehen." Als sie beide in das Laboratorium eingetreten waren, schloß er sorgfältig die Thür zu. Sie wollte noch weiteres von ihm erfahren, aber anstatt ihr zu antworten, nahm er mit einer Zange eine glühende Kohle, auf ivelche er eine pulverisierte Substanz streute, die brennend sich in einen leichten weißen Rauch auflöste. „Räch was riecht es Dir jetzt hier?" frug er. „Oh! Aber wie soll ich....?" „Ich bitte Dich, teile mir ganz einfach und freimütig Deinen Eindruck mit. Ich will mich nicht auf den meinigen verlassen, der von meiner Angst beeinflußt sein kann und vielleicht, ich gestehe selbst, nicht so unbefangen ist, wie man es von einem Sachverständigen erwarten muß." „Nun, es scheint mir, daß es.... nach etwas wie Knob- lauch riecht." Er klatschte in die Hände und rief: „Ausgezeichnet! genau so riecht es;' Du hast das ohne Einflüsterung gefunden; Du sagst es. weil Du es glaubst." „Nun? beweist denn dieser Geruch, daß eine Vergiftung vorliegt?" „Nein; aber er bewefft, daß sich in dem Erbrochenen des Mädchens Arsenik befindet, und der Schluß daraus ist. daß ihr Gift beigebracht worden ist. Auf welche Weise? Durch wen? Das ist eine andere Sache, die wir später aufklären werden.... Beendigen wir zuerst diese. Ich habe Dich den Arsenik riechen lassen und Du hast dessen Geruch anerkannt; es bleibt mir jetzt noch übrig, ihn Dir zu zeigen." Während er so sprach, lief er fieberhaft in seinem Labora» torium hin und her; er nahm eine kleine, enge, an einem Ende verschlossene Glasröhre und that das gleiche Pulver, das er aus die Kohle gestreut hatte, hinein, nachdem er dann das Innere der Röhre venntttelst eines zusannnengerollten Löschpapiers gereinigt hatte, hielt er die Röhre in die Flamme einer Spffituslampe und begann sie allmählich zu erwärmen. „Wenn der in diese Röhre gebrachte Stoff Arsenik enthält." sagte er,„so wirst Du sehen, wie sich unweit des rot erhitzten Teiles ein schillernder Ring bildet; dieser Ring wird der wiederauftebende Arsenik sein. Nun gieb acht!" Sie hätte diese Aufforderung nicht nötig gehabt, denn mit einer Aufregung, von der ihre Hände zitterten, folgte sie seinen Manipulationen. „Wenn die ganze Welt Chemie verstände," sagte sie,„so würde es keine Giftmischer geben." „Sieh' her, der Augenblick ist da.""""f* Der Ring, den er angekündigt hatte erschien bald, glänzend, schillernd, in der Röhre immer höher aufsteigend. in dem Maßstab, in welchem die Hitze stärker wurde. „Nun?" sagte er in trinniphierenden Tone,„glaubst Du jetzt an eine Vergiftung?" „Das ist doch fürchterlich!" „Sage lieber: es ist vortrefflich, und verehre die Wissen- schaft, die solche Wunder schafft; aber wir sind noch nicht fettig: wir wissen jetzt, daß es Arsenik ist, nun müssen wir suchen, zu erfahren, von welcher Art Arfenikverbindung die Vergiftung herrührt, denn das kann von hoher Wichtig- keit sein." Frau Turlure empfand stets Hochachtung vor ihrem Manne, aber in diesem Augenblicke hörte sie und sah sie ihm mit Be- wunderung zu. „Vorerst tappe ich noch ganz im Finstern," sagte er,„und es ist erst das Resultat unserer Versuche, das zu Dir wie zu mir sprechen wird. Ich mutmaßte Arsenik und
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16 (21.5.1899) 98
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