Mnterhaltungsblait des Vorwärts Nr. 185. Donnerstag, den 21. September. 1899 (Nachdruck«erboten.) 221 Jofeptz Eoueiz. Roman von John Law . Aus dem Englischen von I. Cassierer. „So geht's." sagte Polly. indem sie den Frisiermantel ab- legte.„Es sieht sehr gut aus. Onkel Cohn." Ihre Stimme klang etwas abgespannt, und als Onkel Cohn ihr den Mantel abnehmen wollte, fiel es ihm auf, daß sie so blaß aussah, als ob sie geweint hätte. „Was ist denn los, kleines Frauchen?" fragte er zärtlich. „Was giebt's denn?" „Das kann ich Dir nicht sagen, Onkel Cohn," meinte Polly, den Kopf schüttelnd.„Du kannst es ja doch nicht der- stehen, wenn ich es Dir auch sagte. Ach, Onkel Cohn," fuhr sie fort und stand dabei auf und gab ihm einen Kuß.„Ich wünschte, ich wäre ein alter Mann wie Du, der mit dem Leben schon abgeschlossen hat, und nicht so ein junges Mädchen wie ich." Onkel Cohn gab ihr hierauf keine Antwort. Polly setzte ihren Hut auf, sagte ihm grpe Nacht und ging weg. Nach- dem die Thür sich hinter ihr geschlossen hatte, sammelte er behutsam die Haarspitzen, die auf dem Fußboden lagen. Er that sie in einen Schub, in dem sich schon mehr als eine Erinnerung an Polly befand; da lagen ein kleiner, weißer Strumpf, eine zerbrochene Theetasse und eine verwelkte Geranium-Blüte. Das blonde Haar verwahrte er dort so sorgfältig, als ob es Gold gewesen wäre. Dann ging er in das andere Zimmer und setzte sich nachdenklich aus sein Bett. Das„andere Zimmer" sah sogar noch sonderbarer aus als der Laden. Statt einer Decke hatte er seinen Rock über das kleine, niedrige Bett gebreitet; aus den Kisten lag seine Nachtmütze; sie war gestrickt und maß eine halbe Elle in der Länge und einige Zoll im llmsang. Am Feuer stand sein Abendbrot, eine Suppe, die er sich selbst zubereitet hatte. Näpfe mit Fett standen auf dem Tische neben dem Kamin 7 desgleichen halbfertige Perücken, Haarzöpse, Zangen, um Zähne auszuziehen, und Muster von anderen Sachen, die im Schaufenster ausgestellt waren. „Ja, ja, sie wird eines schönen Tages heiraten," sagte Onkel Cohn zu sich.„Sie wird einen jungen Burschen heiraten, der chr das Leben zur Last machen wird. Junge Leute wissen gar nicht, wie man eine Frau zu be- handeln hat. wenigstens nicht eine solche wie Polly ist. „Ich hätte nickst jede Frau geheiratet. Thatsache ist, daß bis Polly groß wurde, ich überhaupt nickst ans Heiraten dachte. Elwins Frau hat mir das Heiraten verleidet. Das Leben, das er bei ihr hattet� Ich glaube, sie waren noch nicht eine Woche verheiratet, als sie schon seine Schränke durchsuchte und seine Taschen umkehrte. Da sagte ich mir, wenn das schon Elwin durchzumachen hat, der ein ganzes Hans voll Mieter und eine Masse Zimmer hat, in die seine Frau ihre Nase hineinstecken kann, was würde dann erst eine Frau bei nur anstellen, in bloß zwei Zimmern, wo sie und ich enge Gesellschaft halten müßten. „Einmal Hab' ich auch schon daran gedacht, strenge Teilung Vorzunehmen. Ich dachte mir:„Ich will hestaten, und ich werd' zu ihr sagen:„Was hier ist, das gehört mir, und was dort ist, gehört Dir; es kommt nicht viel Gutes dabei heraus, Frau, wenn man die Sachen durch einander bringt. „Aber, ich möcht' wetten, kaum hätt' ich meinen Rücken gewandt und ich wär' zum erstenmal ausgegangen, dann hätt' sie meine Sachen durchstöbert und meine Taschen um- gedreht. Und wenn man erst Mutter Elwin über Religion sprechen hört! Vergangene Woche sagte sie zu mir, sie wolle sich in der Folge am Sonntag lieber mit dem heiligen Paulus als mit mir unterhakten. Die alte Schachtel hat mich zum Christen machen wollen! Mich? Danke schön. Was soll ich mit ihren vielen Worten und geringem Thun , da bleib' ich doch lieber ein Jude. „Ja, mit Polly ist es ein ganz ander Ding. Jetzt lach' ich nicht mehr über sie, wie ich es wohl früher gethan Hab', wenn sie als Baby auf meinen Knien saß und mit ihrer Puppe spielte. Ihr zu Liebe würde ich auch in die Synagoge gehen, obgleich ich mir schon aus ihrem Singsang nichts mache. Polly zu Liebe erkläre ich mich sogar bereit, zu ihrem „Gottesdienst " zu gehen. Aber wozu? Sie will mich doch nicht haben, und sie wird einen jungen Burschen heiraten, der ihr das Leben zur Last macht." Onkel Cohn erhob sich und goß seine Suppe in einen Napf. Sie war schon fast ganz eingekocht und reizte nicht mehr seinen Appetit. Er setzte sich an den Tisch, auf dem die Perücken, Bürsten und anderes Zeug lagen, und dort saß er und starrte auf sein Abendbrot. Und in seinem Herzen hatte er eine Empfindung, von der man sagt, daß alte Junggesellen sie nicht kennen sollen, nämlich„Herzweh". Nichts wollte ihm mehr rechte Freude machen, und bei sich dachte er, es würde ihm gar nicht leid thun, wemr die„Totenwache" jetzt schon käme, und ersehnte sich nach dem Kusse des Gottes Abrahams, Jsaacs und Jakobs. Plötzlich klingelte es. Er trat in den Laden, den eine Frau betreten hatte, die sich den Kopf ganz glatt scheeren lassen wollte, um ihr Haar zu verkaufen. Sie nahm auf dem Sessel Platz, aus dem Polly vor einer halben Stunde auf- gestanden war. Auch denselben Mantel legte ihr Onkel Cohn um. Dann ging er an einen Schub, um sich ein Rasiermesser zu holen. Und als er sich etwas beugte, fiel aus seinem Auge eine Thräne darauf, und noch viele Tage später war unter den Rastermessern und Streichriemen ein Rostfleck zu sehen, ein Fleck, der schließlich an dem Kinn eines Mannes ab- gerieben wurde, der mit den Worten den Laden betrat; „Bitte, rasieren." XVII. Von Onkel Cohn aus ging Polly langsam nach Hause. Sie dachte an die„Klassen- Zusammenkunft", aus der sie kam und sagte zu sich:„Wie schade doch, daß Jos kein Methodist ist." Wochen und Monate lang hatte sie ihn nicht gesehen. Bisweilen sagte Mrs. Elwin recht geheimnisvoll:„Es ist ganz gewiß nichts Gutes aus ihm geworden; denn wenn er Arbeit gefunden, hätte er sich schon längst einmal hier wieder sehen lasten." Polly wußte, daß er noch iu London war, denn jede Woche erhielt sie von ihm einen Brief 7 er gab aber keine Adresse an, und die Antworten, die sie nach der Wohnung sandte, in die er mit seinen beiden Koffern von Mrs. Elwin aus gezogen war, waren sämtlich mit dem Vermerk„Un° bekannt verzogen" zurückgekommen. „Vielleicht ist er im Arbeitshause." meinte Mrs. Elwin. Vor kurzer Zeit war von den Methodisten in der Nähe der Ratcliffer Landstraße eine„Misiionshalle für die ärmeren Klassen" eröffnet worden.„Leute aus dem Mittelstande", wie Mrs. Elwin und ihre Tochter, reichten dort Thee , und nachdem Tassen und Teller weggeräumt waren, hielten Mr. Meek und Mr. Stich Ansprachen an die Versammlung. Ganz zuletzt hatte William Ford ein paar Worte über das Thema ge- sprachen: „Kann jemand„erlöst" werden, der nicht Methodist ist?" Thränen rollten Mrs. Elwins Gesicht herunter. als der Klassenleiter von dem engen Pfade sprach, den die Methodisten wandelten, und ihrer Tochter flüsterte sie zu: „Ach, Polly, wenn ich daran denke. Du könntest einen solch gottesfürchtigen jungen Mann heiraten, der sein ge- regeltes Einkommen hat..." An all dieses dachte das schöne Mädchen, als sie um die Ecke der Commercial-Straße bog. Hier blieb sie plötzlich stehen, denn sie sah sich grade die Person entgegenkommen, der sie am allerwenigsten begegnen wollte, nämlich Joseph Coney, der sich auf dem Wege nach dem Asyl befand. Die Hände in den Taschen schlenderte er sorglos daher. Wozu sollte er sich auch wohl beeilen? Heute konnte er doch nichts mehr thun, morgen aber wollte er sehen, in den Docks Arbeit zu bekommen, und wenn ihm das nicht glücken sollte, dann wollte er wieder an den Bahnhos Charing Croß sich hin- stellen. Als er des schonen Mädchens ansichtig wurde, mußte er stehen bleiben, und aus seinem schon blassen Gesicht der- schwand jede Spur von Farbe, �daun ging er aber rasch auf sie zu und rief: „Polly!" „Jos!" Beide sahen einander sprachlos an. Er war sich seines schlechten Aussehens recht gut bewußt, denn die Zeit, zu der er mit seinen beiden Koffern in Mrs.
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16 (21.9.1899) 185
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