Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Str. 203. Freitag, den 19. Oktober.
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( Nachdrud verboten.)
1900
daran festzuhalten. Ihr Leben, das ihr manchmal bisher recht öde erschienen, bekam nun einen Inhalt; und daß sie darum kämpfen mußte, machte ihr Freude. Sie war immer etwas anders gewesen als ihre Altersgenossinnen; woran die Genüge fanden, hatte ihr nie genügen wollen. Jetzt besaß sie etwas, das sie ausfüllte, wodurch sie erst recht anders wurde als die andern; wozu sie ihre ganze Kraft aufwenden mußte, um es siegreich durchzuführen allem Spott und Hohn des ganzen Dorfs gegenüber.
Marie Jung hatte vor wenigen Wochen ihren Vater berloren, der auf elende Weise zu Grunde gegangen. Sie hing sehr an dem Vater, mit dem sie viel Aehnlichkeit hatte, Man fand es unerhört, daß so ein junges, hübsches während die andern Geschwister mehr der Mutter nach- Mädchen, die außerdem' nen guten Kopf hatte, bisher eine schlugen. Schon der Vater war ein sinniger Mensch ge- ausgezeichnete Tänzerin gewesen war, auf solche Abwege wesen, der sich mehr an Blumen und an Bienen freute, als geriet. am Wirtshaus.
Während seiner schweren Krankheit war oft Wilhelm Säger, der fromme Bauer, der Magda kürzlich noch so freundlich gegrüßt, zu ihm gekommen. Zuerst hatte er nur so nebenbei einmal über religiöse Dinge mit dem Kranken gesprochen, um das Terrain zu fondieren. Als er merkte, daß es dem Kranken nicht unangenehm war, sprach er häufiger über Religion. Aber nie zudringlich. Dabei machte sich Säger nüglich, wie er nur konnte. Er ging in die Stadt, Arznei zu besorgen, wenn Marie und die Mutter keine Zeit hatten, er stand bei mit Rat und That, wenn immer er gewünscht wurde; kurz, er half in den schweren Wochen in jeder Weise.
Als Franz Kranz hente gegen vier Uhr zum Wirtshaus bei der Kapelle hinaufsteigen wollte, sah er, daß Mariens Mutter ihr Haus verließ, um ein wenig dem Gesang der Harmonie" zuhören, der meist so rührend war, was sie als Witwe ganz besonders liebte. Es machte auch einen guten Eindruck, wenn sie bei all den rührenden Liedern weinen mußte, und die Leute das sahen. Man bedauerte sie dann um so mehr und bemitleidete sie. Das that ihr außerordentlich wohl und war ihr Trost.
Franz Kranz wollte erst, als die Mutter verschwand, in das Haus eindringen. Aber einmal wußte er nicht, ob die Marie überhaupt zu Hause war, und zweitens war es ihm zu feinem Unternehmen noch zu hell. Er verschob es also Das erwarb ihm immer mehr das Vertrauen von Marie lieber, bis es dunkel geworden. So stieg er denn zunächst und ihrem Vater. Die ganze schlichte, nie zudringliche, immer zum gewohnten Wirtshaus und wartete dort die Zeit ab, bis freundliche, stets hilfsbereite Art that es den beiden an. Auch es Nacht wurde. Aber auch jetzt ging er noch nicht gleich, Tag so etwas ungeheuer Beruhigendes in der Sicherheit, mit weil er sich erst einen Plan zurechtlegen wollte, nach dem er der Säger von dem redete, was nach dem Tode sein würde. operieren konnte. Das fiel ihm aber hier nicht ganz leicht, Wie denn eine geschlossene Weltanschauung, mag sie auch da so viel gelärmt wurde, daß man sein eigen Wort nicht noch so handfest sein, immer Eindruck macht auf verstehen konnte, geschweige denn einen Plan überlegen. Er Leute, die nichts dergleichen besitzen. Und zu derselben spazierte deshalb schließlich hinaus in die Dunkelheit, um fich Gewißheit und inneren Ruhe und Weltunabhängigkeit darüber klar zu werden, wie er die Sache am geschicktesten konnte jeder gelangen, wie Säger immer wieder versicherte, anfassen würde. Jedenfalls müßte er sie zunächst aus der ,, wann de nur glauben willst." Die beiden sahen hier zum Frömmigkeit herausbringen, am besten dadurch, daß er sie erstenmal einen Menschen ihres Schlags, der durch den wieder ins Wirtshaus brächte, dann fände sich das weitere ., Glauben" doch ganz anders war, als sie, so ruhig, still schon bedeutend leichter.
und geborgen für Gegenwart und Zukunft, dabei freundlich Er schlich sich zu dem Haus, in dem Marie wohnte. Wenn und hilfsbereit wie fein andrer im Dorf. Da regte sich in ihnen nur die Mutter noch fort, wenn nur Marie da war! Er die Sehnsucht, auch so zu werden wie Säger. Costellte sich auf den Eckstein, der am Haus stand, und sah ins Der Geistliche hätte nie solchen Eindruck gemacht, denn Bimmer, das keine Vorhänge besaß, wie alle die Arbeiter. erstens wurde er ja für das Frommsein bezahlt, dann stammte er aus ganz andern Verhältnissen, wo es gewiß viel leichter war, fromm zu fein, und schließlich hätten sie ihn auch nicht so leicht verstanden wie den Wilhelm Säger, der auf dem selben geistigen Niveau mit ihnen stand, all ihre Sorgen, all ihre Gedanken genau kannte.
Den allergrößten Eindruck aber machte es, wenn er mit ihnen betete. Jm Dialekt, der ihnen altvertraut war, in Worten, die sie sofort verstanden, um Dinge, die ihnen wirklich am Herzen lagen. Und doch war es zugleich so ganz anders, als wie man sonst redete.
So tam denn schließlich kurz vor seinem Tod Mariens Vater auch noch zum Glauben". Da fürchtete er sich nicht mehr vor dem Sterben und machte sich auch keine so schreck lichen Sorgen mehr um die Zukunft der Seinen, die ihn bisher geschmerzt hatten wie eine zweite schwere Krankheit. Auf feinem Gesicht lag die letten Stunden eine helle Freude, ein stiller Friede. Bevor der lekte schwere Kampf anging, den der Tod mit dem zähen Leben dieses von Natur so fräftigen Manns ausfocht, bat er seine Marie noch ganz besonders, doch ja dem Zuspruch Sägers nicht aus dem Wege zu gehen, sondern sich ihm und seiner Versammlung anzuschließen, die Säger jeden Freitag und Sonntagabend in seinem Hause abhielt, daß sie auch zu solchem Frieden käme, wie er ihn jekt verspüre. Und dann womöglich auch die Mutter und die andern Kinder.
Marie hielt dies Versprechen nach dem Tode ihres Vaters. Da ihre Geschwister sie verspotteten, daß sie zu den Betbrüdern ging, da ihre Mutter ihr auch Vorwürfe machte, daß sie sich die ganze Jugend verderbe, so hielt sie erst recht zu der Versammlung und dem, was ihr da geboten wurde. Das war natürlich für sie nicht leicht, aber grade darin, daß es nicht leicht war, lag immer wieder ein neuer Antrieb,
häuser, die nur am Schlafzimmer Vorhänge hatten, und auch nur dann, wenn sie nach vorn hinaus, nach der Straße gingen und Parterre lagen. An den andren Fenstern brachte man nur oben einige Feßchen an, aber nur zur Verschönerung, denn man konnte dabei bequem in die Stube sehen, zumal wenn Licht in ihr war.
Marie saß allein am Tisch, auf dem die Lampe brannte, und las.
Das Licht stand rechts vom Buch, beleuchtete also ihre rechte Gesichtshälfte; und da es nicht sehr weit leuchtete, hob sich zugleich das Profil sehr klar aus der Dämmerung ab, in der das Zimmer links von der Lesenden lag. Welch eine weiche Linie von der Stirn zum Halse ging: Wie sie sich nur im Frühling des Lebens und auch da nur bei hübschen Mädchen findet. Wie von zärtlicher Künstlerhand gezogen, die verliebt ist in ihr eignes Werk.
Da Marie eine schwarze Taille an hatte, trat der volle, weiße Hals und das ganze Gesicht um so leuchtender hervor. Wie eifrig sie las! Wian konnte das Blut kommen und gehen sehen unter der jungen, zarten Haut. Was für große, schwere Wimpern die Augen beschatteten! Und oben an der Stirn trausten sich die Haare, daß sie im Lichtschein ganz golden aussahen. Jezt hob sie die Hände, die bisher im Schoß geruht, weil sie beim eifrigen Lesen den Oberkörper etwas fest an den harten Tannentisch gepreßt hatte, was sie offenbar schmerzte, da sie kein Mieder trug. Immer eifrig lesend legte fie unwillkürlich die rechte Hand wie schüßend unter die rechte Brust. Franz Kranz klopfte leise an das Fenster. Er mußte ihre Augen sehn! Sie blickte auch einen Augenblick lauschend auf. Wie die großen, blauen Augen förmlich eingetaucht waren in eine tiefe, stille Freude!
Franz Kranz stieg leise wieder von dem Stein zur Erde. Er wollte nicht, daß sie ihn jetzt grade sah. Er merkte zu