Anterhaltungsblatt des Vorwäris
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Freitag, den 29. März.
( Nachdruck verboten).
Die bunke Reihe. Berliner Roman. Von Friz Mauthner.
XIX.
1901
viel von seiner ersten Begeisterung erivachte jetzt wieder, daß er, zur Verwanderung der Badegäste, mit seinem Rucksack geraden Wegs nach dem Strande ging, um den ersten, von Thränen verschleierten Blick auf das heilige Meer zu werfen, wo anam Horizont die Sonne hing wie ein durchsichtiger roter Luftballon. Dann ging er auf die Poft und beschrieb da zwei erotisch aussehende internationale Postkarten, eine an Madame et Mademoiselle Bohrmann, eine an Monsieur Siegfried Bohrmann à Berlin . Nachher erst fand er mit Hilfe eines stellenlosen deutschen Haustnechts in einem versteckten Winkelhotel ein verstecktes Zimmerchen, von dem er nur noch das eine wahrnahm, daß es dreieckig war. Er wußte nicht, wie er ins Bett kam, und wachte erst spät am nächsten Tage auf. Er machte rasch eine rechte Müßiggängertoilette und suchte die Digue" auf.
Es war auf nichts ein Verlaß, nicht auf den Kaufmann und nicht auf das Kursbuch. Alles kam anders. Da cin Geaneindelehrer, auch wenn seine Frau in der Lotterie gewonnen hat, bestenfalls dritter Klasse fahren kann, so waren alle Rat schläge des Kaufmanns unbrauchbar. Nach Ostende fährt man dritter Klasse nicht in Schnellzügen.
30 Anderthalb Stunden zu früh kam Bohrmann mit Weib und Kindern nach dem Bahnhof Alexanderplatz . Lenchen und Siegfried vertrieben sich die Zeit mit dem Schokoladen automaten, und Hilde unterhielt sich mit der Buffetmamsell, deren Haartracht ihre Neugier reizte. Hans Bohrmann dachte an die Wunder der Nordsee und griff dann und wann er schrocken nach seiner Hosentasche. Da trug er zwei echte fran zösische Hundertfrautscheine verwahrt. Verschwender! tönte es in seinent Gewissen.
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Es war ihm nicht ganz klar, ob die Digue der Strand war oder eine Straße oder ein Kaffeehaus. Er wußte mur, daß man, das heißt Mascha, um elf Uhr auf der Digue war.
Jett war alles Reise Ungemach vergessen. Herr Gott im Himmel, war die Welt groß und schön, und es war eine Lust zu leben! Unendlich lag das Meer zu seinen Füßen, und war doch nur die Nordsee . War nur die kleine Nordsee und setzte sich durch den Aermelkanal fort nach dem atlantischen Sowie die Reisenden zugelassen wurden, stieg er in eine Ocean! Demi Ocean! Und dann zum Nordpol und zum Südpol Abteilung für Nichtraucher und sicherte sich einen guten und rund um die Erde herunt durch alle Längen- und Eckplatz auf der rechten Seite, auf der Nordseite. Von da Breitegrade. Jegt, jekt hätte er in seiner lieben ersten Dorfmußte er die Nordsee früher erblicken. Jegt glaubte er wirk- schule sein mögen, um den lieben, lieben Jungens Geographie lich an seine Reise. zu erklären. Jetzt war er selbst ein Weltreisender, jezt verTräumerisch und schweigsamt blickte Hilde nach den Reisen- ftand er endlich Geographie... und Siegfried! Der mußte den, welche in die zweite und erste Klasse stiegen. Neugierig einmal später herkommen, besser vorbereitet, besser ausschauten die Kinder darein, was wohl jezt mit Papa geschehen gerüstet! Nicht fündhaft wie er, nein... ein erobernder würde. Plötzlich fragte Lenchen, ob Papa dort mit den Mädchen Weltreisender! zusammen Laden würde. Hilde fuhr dazwischen und gab ihrem Mann Weisungen. Er sollte sich nicht erkälten, während der Fahrt nicht viel essen und sich in Ostende gut amüsieren. Während Bohrmann noch eininal sagte, er fönne es eigentlich doch nicht verantworten, ging der Zug endlich ab. Er winkte Und wenn morgen Bech und Schwefel über Sodom und noch eine ganze Weile mit dem feinen Taschentuch, dann richtete Gomorrha niederfiel, heute war eine Lust zu leben! Das er sich in seiner Ecke gemütlich ein, sekte die- baumwollene war ja gerade das Herrliche, daß er unter fremden Völkern Reijemüge auf, zog die baumwollenen Reisehaudschuhe an war, die fremde Sitten und Gebräuche hatten. Er wollte und erzählte den Nachbarn, noch im Weichbilde Berlins , er sich erkundigen, ob das Landessitte sei. Warum auch nicht? reise bis nach Ostende . Ale niemand sich darüber ver- Noch weiter jenseits des Oceans gingen die Leute ja nadt. wunderte, holte er sein altes französisches Handbuch hervor Und wenn es Sitte war, so wollte er unter die fremden und begann sich in der französischen Konversation zu üben. Nationen hinausschwimmen und den fremden Zungen lauschen Gespräche auf einent Schiffe: Ist das Bramsegel gehißt, in der Brandung der Mogen. mein Herr?"" Jawohl, mein Herr, das Bramfegel ist gehißt."
Diese Menschen um ihn her! Französisch! Er hörte. Und draußen im Wasser...
Heiliger Gott, da badeten Männer und Frauen zusammen! Sollte das Lenchen gewußt haben? Das wäre ja.
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Wie sie brandeten! Thränen der Freude flossen ihm die Wangen herunter. Brandung! Ju seiner Knabenzeit, wenn Bohrmann war ein guter Lerner. Aber trotz der nüßer das Wort gelesen hatte in den Erzählungen des Kapitäns Lichen Beschäftigung dauerte die Fahrt merklich lange. Dingsda, da hatte er sich bei den Worten immer etwas Der Kaufmann war ein ganz unzuverlässiger Mensch, trotzdem besonders Erhabenes vorgestellt. Und jetzt erlebte er es. Kaufleute doch Berufsreisende find. Von zwanzig Stunden Brandung! Da konnten ja Schiffe untergehen I e hatte er gesprochen. Nach zwanzig Stunden hatte Bohrmann Fremde Nationen am Strande und im Wasser sprachen Sreintal den Wagen wechseln müssen und war noch in Deutsch franzöfifch und gewiß noch fremdere Sprachen. Um ihn her, Land. So groß fonnte doch der Zeitunterschied zwischen auf und ab den breiten Damm, wogte die Menschheit wie Schnellzügen und Personenzügen nicht sein! beim Turmbau von Babel. Wie waren die Leute gekleidet! Auch die Herren, besonders aber die Damen. Bunt wie ein blühendes Mohnfeld! Vielleicht kam plötzlich ein Indianer daher mit seinem Federschmuck. Merkwürdig, jede dritte Gruppe sprach deutsch .
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Bohrmann glaubte den Anfang der Schöpfung zu erleben. Es ward aus Abend und Morgen ein Tag und der andere Tag. Er ermattete über seinem Handbuch und ließ sich schließlich, dann und wann aufmerksam aus dem Fenster Jugend, weiter bringen, verladen und wieder weiter zerren, Da ist er ja endlich," rief plötzlich Maschas Stimme. wie ein Frachtstück. Jenseits der belgischen Grenze machte er Aus dem bunten Mohnfelde heraus, aus dem Bohrmann den Versuch, sich mit einem Schaffner französisch zu unter- niemals ein einzelnes Gesicht unterschieden hätte, löste sich halten. wahrnehmbar ein Haufen von Sommerkleidern, von bunten Schuhen, von Schärpen und farbigen Herrenhemden, bon weißen, roten und violetten Sonnenschirmen. Und irgendwo aus dem Trupp heraus klang es wie Neumanns gutmütiger Baß: Nu wird es noch mopfiger werden."
Ich fahre nach Ostende , mein Herr. Fährt dieser Zug auch nach Ostende ?"
Ich versteh Sie nicht," antwortete der Schaffner Deutsch und schlug die Thüre zu.
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13 Noch in Brüssel versäumte Bohrmann richtig einen Zug, weil er sich beim Umsteigen durchaus auf Französisch nach der Fahrzeit erkundigen wollte, in gutem Französisch.
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Als Bohrmann Mascha plötzlich leibhaftig vor sich sah. als sie ihm beide Hände reichte und etwas zu ihm sagte, da So oft fragte er das, bis sein Zug den Bahnhof verlassen drehte sich ihm zuerst das Mohnfeld im Streise und schien ins hatte und ein Beamter ihn auf den nächsten Zug vertröstete, Meer fallen zn wollen, mitten in die heilige Brandung hinein. wieder auf Deutsch . Enttäuscht, zerbrochen, ausgehungert, Dann wieder ging von Mascha das Licht aus, das ihn allschlaftrunken kam er endlich nach einer Reise von zwei mählich die Einzelnen erkennen ließ. Die folossale Frau Kiez, vollen Tagen mit Sonnenuntergang in Ostende an. Nur solderen Bluse schon wieder hätte gewechselt werden müssen, bei