Wnterhaltungsblatt des Forwärts
Nr. 140.
Sonntag, den 21. Juli.
1901
771
Arbeit:
(Nachdruck verboten.»
Roma  » in drei Büchern von Emile Zola  . Aus dem Französische  » übersetzt von Leopold Rosenz>v ei g. .-NoVmrre zögerte einen Augenblick. Er starb drei Tage danach. Ich kann Ihnen nicht der- hehlen, gnädige Frau, daß diese Krisen fast immer das An- zeichen des nahen Endes sind. Es ist das alte Lied von der Lampe  , die noch einmal Heller aufflackert, che sie erlischt." Ein tiefes Schweigen folgte. Sie war sehr bleich ge- worden, der Schauer des Todes hatte sie angeweht. Aber mehr noch als das nahe Ende des unglücklichen Großvaters bereitete ihr ein andrer Gedanke schmerzliche Pein. Hatte auch er, gleich dem alten Mann in Saint-Cron, alles gesehen, alles gehört, alles verflauden? Sie tvagte noch eine Frage. Halten Sie die Geisteskräfte unsres teuren Kranken für gelähmt, Herr Doktor? Glanben Sie, daß er versteht, was um ihn vorgeht, daß er denkt?" Der Doktor machte die unbestimmte Gebärde des Mannes der Wissenschaft, der nur das fest behauptet, was zweifellos bewiesen ist. Da fragen Sie mich zu viel, gnädige Frau. Alles ist möglich in dem geheimnisvollen Behältnis des Gehirns, in welches wir fast noch gar nicht eingedrungen sind. Die Dcnkkraft kann unbeeinträchtigt geblieben sein, wenn auch die Sprache gelähmt ist. Wenn jemand nicht spricht, so beweist das noch nicht, daß er auch nicht denkt. Gleichwohl hätte ich eine Abschwächung auch der geistigen Fähigkeiten Monsieur Jeruines diagnostiziert, ich hätte ihn für in senile Kindlichkeit verfallen gehalten." Aber Sie sagen, es ist möglich, daß er noch im Besitze seiner vollen Geisteskräfte sei?" Sehr möglich, und ich halte es nun sogar für wahrschein- lich, angesichts dieses Wiedererwachens seines ganzen Wesens, das mit einer allmählichen Rückkehr des Sprechvermögens ver- Kunden zu sein scheint." Die Folge dieser Unterredung war ein vorherrschendes Gefühl schmerzlicher Angst in der Seele Suzannens. So oft sie liebevoll im Zimmer des Großvaters verweilte, konnte sie nicht ohne geheimes Entsetzen seine Wiederauferstehung be- obachten. Wenn er alles gesehen, alles gehört, alles ver- standen hatte, in der stummen Stanheit, in die er durch die Paralyse gebannt war, welch entsetzliches Drama hatte sich unter der Decke seines Schweigens in seiner Seele abgespielt! Seit dreißig Jahren war er ein unbeweglicher Zeuge des Verfalls seines Geschlechts, sahen seine hellen Augen den Untergang der Seinen mit an. einen Sturz, den der Schwindel des Besitzes vom Bater ans den Sohn beschleunigte. Zwei Generationen hatten genügt, um am verzehrenden Feuer der Genußsucht das von ihm und seinem Vater ge- schaffcne Vermögen zu verbrennen, das er für so festbcgründet gehalten hatte. Er hatte gesehen, wie sein Sohn Michel, Witivcr geworden, sich durch kostspielige Frauen ruinierte und dann seinem Leben durch eine Revolverkrigel ein Ende machte, während seine Tochter Lanre, in Mystizismus versunken, sich im Kloster begrub, und sein zweiter Sohn Philippe, der eine Dirne geheiratet hatte, nach einem wüsten Leben im Duell siel. Er hatte gesehen, wie sein Enkel Gustave, der Sohn Michels, diesen zum Selbstmord trieb, indem er ihm zugleich die Geliebte und hunderttausend Frank stahl, die der Vater für Fälligkeiten beiseite gelegt hatte, während sein andrer Enkel Andre, der Sohn Philippes, in der Zelle eines Irrenhauses endete. Er hatte gesehen, wie Boisgelin, ber Gatte seiner Enkelin Suzannc, das dem Untergang nahe Werk gekauft und einem armen Vetter, Delavcau, zur Leitung anvertraut hatte, der es, nachdem er es einer kurzeil Blüte zugeführt, selbst in Asche legte, als es abermals vor dem Ruin stand, und als er von dem Verrat seiner Frau Fernande   und des schönen Lebemannes Voisgelin erfahren hatte, die in ihrer tollen Gier nach Luxus und Genuß sich selbst und alles um sie herum ins Verderben gestürzt hatten. Er hatte die Stahlwerke, seine geliebte Schöpfung, die Fabrik, die er so klein auS den Händen seines Vaters übernommen
hatte, unter seinen Händen sich vergrößern und ins Riesen- haste wachsen sehen, und er hatte gesehen, tvie diese Werke, aus denen, wie er glaubte, sein Geschlecht eine ganze Stadt, ein mächtiges Reich des' Eisens und des Stahles machen würde, wie diese Werke so rasch dem Untergang anheim- fielen, daß schon nach der zweiten Generation kein Stein mehr auf dem andern geblieben war. Und er hatte gesehen, wie sein Geschlecht, in dem sich so langsam, in einer langen Reihe vom Elend bedrückter Arbeitergenerationen, die Schöpferkraft aufgesammelt hatte, die dann in seinem Vater und ihm hervorgebrochen war, er hatte gesehen, wie dieses Geschlecht sofort durch den Mißbrauch des Reichtums ver- darben, entartet, zerstört wurde, wie schon in seinen Enkeln nichts mehr von der gewaltigen Arbeitskraft der Qurignon zu spüren war. Welche furchtbare Menge von Erinnerungen waren in dem Kopfe dieses achtundachtzigjährigen Greises aufgehäuft, welche lange Folge schrecklicher Ereignisse, welch ein Ueberblick über ein Jahrhundert des Mühens und Ringens, über die Vergangenheit, Gegen- wart und Zukunft einer Familie! llnd welch ein grauenhaftes Behältnis, dieser Kopf, in welchem die Erinnerungen, die bisher zu schlafen schienen, nun langsam erwachten, und welches nun alles in einem mächtigen Strom von Wahrheit wiedergeben zu wollen schien, wenn die noch stammelnden Lippen erst klare Worte zu formen im stände sein würden! Diesem entsetzlichen Erwachen. harrte nun Suzanne mit steigender Angst entgegen. Sie und ihr Sohn waren die letzten des Geschlechts, Paul war der letzte männliche Ab- kömmling der Ourignon. Die Tante Laure war im Kloster der Karmeliterinnen gestorben, wo sie mehr als vierzig Jahre gelebt hatte: und auch der Vetter Andr« war schon seit Jahren tot, nachdem er seit seiner Kindheit tot für die Welt gewesen war. Wenn Paul nun manchmal seine Mutter zum Großvater begleitete, sah ihn dieser lange an mit seinen Augen, in denen ein immer klarerer Ausdruck erwachte. Dies war nun der einzige, zarte Zweig der starken Eiche, von der er einst gehofft hatte, daß sie sich mächtig entwickeln und ausbreiten werde. War der Familicnbaum nicht strotzend von jungen Säften, von Gesundheit und Lebens- kraft, die das Erbteil von Generationen derber Arbeiter waren? Mußte seine Nachkommenschaft sich nicht vermehren und verbreiten, um siegreich alle Güter und alle Genüsse dieser Erde zu erobern? Und schon bei seinen Enkeln waren die Säfte verdorrt, das sinnlose Leben des Reichtums hatte in weniger als einem halben Jahrhundert die lange, aufgespeicherten Kräfte zahlloser Geschlechter verzehrt. Welche Bitterkeit mußte den unglücklichen Großvater erfüllen, den letzten Zeugen, der noch aufrecht stand inmitten so vieler Ruinen, wenn er keinen andern Erben seines Bluts vor sich sah als' den sanften, zarten Paul, ein letztes Geschenk des Lebens, das den Qurignon diesen kostbaren Sproß gelassen zu haben schien. damit er in neuer Erde wurzeln und blühen könne I Und welche schmerzliche Ironie des Schicksals, daß heute, nur noch dieses sanftmütige, klug überlegende Kind übrig war in der weitgedehntcn Guerdache, dem königlichen Landsitz, den Monsienr Jervme seiner Zeit zu so hohem Preise er- warben hatte, in der stolzen Hoffnung, ihn eines Tages mit seiner zahlreichen Nachkoinmenschaft zu bevölkern. Er sah im Geiste seine weiten Gemächer von zehn Ehepaaren be- wohnt, er hörte das fröhliche Lachen einer unaufhörlich wachsenden Schar von Knaben und Mädchen, dies sollte der prächtige, glückliche Familiensitz iverden, auf welchem das immer stolzer erblühende Geschlecht der Qurignon herrschte. Aber er mußte im Gegenteil sehen, wie die Gemächer sich jeden Tag mehr leerten; die Trunkenheit, die Tollheit, der Tod waren eingedrungen und hatten ihr Zerstörungswerk gethan; und zuletzt war noch die Verderberin gekommen, die den voll- ständigen Untergang des Hauses herbeiführte. Seit der letzten Katastrophe waren zwei Drittel der Zimmer geschloffen; der ganze zweite Stock war dem Staub überlassen; die Empfangs- räume im Erdgeschoß wurden nur jeden Sonnabend geöffnet, um gelüftet zu werden. Das Geschlecht mußte erlöschen, wenn Paul es nicht neu begründete, und der Wohnsitz, wo es hätte residieren sollen, war nur noch ein großes leeres Haus, das das entzweite Ehepaar nicht ausrecht erhalten